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Familiennachzug

Dreckige Lösungen

Familiennachzug: Dreckige Lösungen
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Geflüchtete, die ihre Kinder in der Heimat zurückgelassen haben, dürfen sie nach ihrer Anerkennung zu sich nach Deutschland holen. So steht es im deutschen Aufenthaltsgesetz. Aber offenbar behindern deutsche Behörden Familiennachzüge eher. Ein Beispiel aus einem Dorf im Schwarzwald.

Die Mädchen kichern, eng beisammen die Gesichter auf dem Handy-Display. "Maalin wanagsaan" und "Sideetahay?" - "Guten Tag, wie geht es dir?", erprobt der Deutsche vom Flüchtlingshelferkreis sein eben erworbenes Somalisch. Die Mädchen amüsieren sich. "How are you?" ruft eines der Mädchen immer wieder dazwischen, "How are you?". Erstaunlich, wie fröhlich die Kinder sind. Die Mutter der Kinder, Amina, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, um ihr Verfahren nicht zu gefährden, nimmt das Handy und verabschiedet sich von den Kindern. "Es geht ihnen nicht gut und mir auch nicht", dämpft sie die Stimmung. "Sie fragen jeden Tag, wann sie nach Deutschland kommen dürfen."

Amina lebt seit 2016 in einem kleinen Dorf in Südbaden, die Mädchen mit ihrem kleinen Bruder seit März 2018 in Eastleigh, dem Viertel, das in Kenias Hauptstadt Nairobi Klein-Mogadischu genannt wird. Betreut werden sie von einer somalischen Bekannten. Die Älteste der fünf ist inzwischen 12, die Jüngste sieben Jahre alt. Seit über 1.000 Tagen hat Amina lediglich per Skype Kontakt zu ihnen. Damals, als ihr jüngstes Kind eben geboren war, ist sie vor dem gewalttätigen Vater der Kinder aus Somalia geflohen. Die Kinder selbst musste sie zurücklassen. Im Januar 2017, nach ihrer Anerkennung als Flüchtling in Deutschland, hat Amina den Nachzug ihrer Kinder beantragt. Alle dafür geforderten Unterlagen hat sie an IOM (Internationale Organisation für Migration der UN) geschickt, die für die deutsche Botschaft die Anträge vorbereitet. Im Sommer 2019 wurde per DNA-Tests ihre Mutterschaft nachgewiesen. Nun ist der Weg für die Visa endgültig frei, dachten Amina und die Ehrenamtlichen des Flüchtlingshelferkreises im Dorf. Jetzt werden die Kinder bald in Deutschland sein. Aber auch noch 2020 mussten sie das muslimische Zuckerfest getrennt feiern, die Kinder in Kenia, die Mutter in Deutschland.

Dabei könnte der Familiennachzug so einfach sein und bis 2015 war er es auch. In Artikel 6 Grundgesetz heißt es: "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht." Gilt dieser Grundsatz auch für schutzsuchende Geflüchtete?

Früher war das besser

Corinna Ujkasevic, Juristin in Berlin, arbeitet für die Nichtregierungsorganisation Equal Rights Beyond Borders, die sich mit juristischen Mitteln für die Rechte von Flüchtlingen einsetzt. Sie hat den Eindruck, der Familiennachzug werde seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 immer schwieriger. "Es werden den Geflüchteten immer neue Steine in den Weg gelegt, wahrscheinlich weil es bestimmten Leuten in der Politik nicht gefällt, dass man hier einen Migrationsweg hat, bei dem sich die Betroffenen nicht auf lebensgefährliche Fluchtrouten einlassen müssen. Vor diesem Wendepunkt 2015 hat die Familienzusammenführung einfacher geklappt. KollegInnen, die bereits seit vielen Jahren aktiv sind, sprechen von den vergangenen goldenen Zeiten des Familiennachzugs!"

Bis 2015 behandelten deutsche Behörden offenbar effektiv und wohlwollend die Anliegen der Menschen. Seit der sogenannten Flüchtlingskrise wird der Nachzug von Kindern, Ehegatten oder anderen engen Familienangehörigen eher behindert als ermöglicht. Ruben Hoffmann, auf Migrationsrecht spezialisierter Anwalt in Freiburg, vermutet politische Absicht: "Ich erlebe, dass die Anträge sehr schleppend bearbeitet werden. Ich habe das Gefühl, dass die Verfahrensdauer aus verschiedenen politischen Gründen lang gehalten wird - sei es durch Unterbesetzung in den Botschaften oder einfach durch die Regeln des Verfahrens. Die deutsche Verwaltung ist bekannt dafür, dass sie sehr effektiv arbeiten kann. Anlässlich einer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat mir der dortige Anhörer kürzlich in einem persönlichen Gespräch mitgeteilt, dass es zur Bewältigung des Migrationsdrucks in der Bundesrepublik in Zukunft wohl dreckige Lösungen gäbe."

Überrascht und bestürzt haben die Deutschen im Helferkreis für Flüchtlinge den Eindruck, Amina und ihre Kinder bekommen eine solche "dreckige Lösung" zurzeit hautnah zu spüren. Allein das behördliche Handeln des letzten Sommers mache sie sprachlos und wütend, äußern die Engagierten: Im Oktober 2020, über drei Jahre nachdem sie die Visa für ihre Kinder beantragt hat, teilt die örtlich zuständige Ausländerbehörde in Deutschland nun mit, sie habe im August der Vergabe der Visa an die Kinder zugestimmt, allerdings "unter der Voraussetzung, dass die vorgelegten Unterlagen zum Nachweis des alleinigen Sorgerechts der Mutter ausreichend sind". Das solle die deutsche Botschaft in Nairobi entscheiden. Monate später fordert die Botschaft, neben der Klärung plötzlich neu aufgekommener Fragen, die Vorlage eines Sorgerechtsbeschlusses zu Gunsten der Mutter, dieser könne "bei einem deutschen Gericht eingeholt werden." Das in Deutschland zuständige Familiengericht stellt wiederum einen Monat später fest, dass es für den Sorgerechtsbeschluss nicht zuständig sei, "da die Kinder weder Deutsche sind, noch hier leben. Fraglich ist darüber hinaus, ob die Antragstellerin tatsächlich sorgeberechtigt ist."

Auf Anraten der deutschen Unterstützer hat Amina inzwischen einen Rechtsanwalt mit ihrer Vertretung beauftragt. Dieser hat recherchiert. Falls das kenianische Familiengericht zuständig wäre, wäre die Sache klar: Das Sorgerecht hat, wer sich kümmert. Der Vater der Kinder hat sich seit fünf Jahren nicht um die Kinder gekümmert. Weder Kinder noch Mutter haben seither von ihm gehört. Fraglich ist, ob er überhaupt noch lebt.

Von wegen Kinderrechte

"Jedes minderjährige Kind hat einen Rechtsanspruch darauf, zu den Eltern nachzuziehen", bestätigt Rechtsanwalt Hoffmann die geltenden gesetzlichen Grundsätze und er erläutert: "Sowohl die UN-Kinderrechtskonvention als auch die Europäische Menschenrechtskonvention bekräftigen diesen Anspruch. Und da das Kindeswohl zu beachten ist, müssen die Anträge auf Familiennachzug von Minderjährigen wohlwollend, human und beschleunigt behandelt und innerhalb von neun Monaten entschieden werden."

Um Klärung bemüht wenden sich die ehrenamtlichen Unterstützer des Dorfes an das deutsche Außenministerium, die vorgesetzte Behörde der Botschaften. Von dort verlautet, Anträge auf Familiennachzug von Minderjährigen würden immer bevorzugt behandelt. Allerdings seien "die Bearbeitungszeiten in Visumverfahren immer individuell abhängig von den Umständen des Einzelfalles. (...) Zu den von Fall zu Fall variierenden Faktoren zählen auch vom Auswärtigen Amt nicht zu beeinflussende Faktoren wie u.a. die Vollständigkeit der antragsbegründenden Unterlagen, die Durchführung etwaiger Urkundenprüfungen und auch die Bearbeitungszeiten bei den Innenbehörden." Wegen dieser Unwägbarkeiten sei es ausdrücklich zugelassen, die 9-Monate-Frist ausnahmsweise zu überschreiten.

Ausnahme oder Regel: In dem kleinen Schwarzwalddorf, in dem Amina wohnt, gibt es zwei weitere ähnlich gelagerte Fälle. Auch diese Kinder warten schon weit länger als die festgelegte Frist von neun Monaten auf ihre Visa. Ob dies Ausnahmen sind, die sich zufällig dort häufen, oder ob aus der Ausnahme eher eine Regel geworden ist, soll eine Nachfrage beim Auswärtigen Amt klären. Aber, so verlautet von dort, man wisse nicht, wie viele Minderjährige derzeit auf Visa warten, da man keine Statistik darüber führe. Ebenso wenig wisse man, wie viele Anträge derzeit überhaupt bearbeitet werden. Bekannt sei lediglich die Zahl der Terminanfragen bei den Botschaften, also derjenigen Menschen, die darauf warten, ihre Visaanträge abgeben zu dürfen. Das sind in Nairobi aktuell 2082 Personen. Im Übrigen bitte man zu bedenken, dass angesichts der Fülle an Anträgen und der durch Covid19 bedingten Einschränkungen die Verfahren nicht so zügig abgewickelt werden könnten, wie man das selbst wünschte. Die Botschaft in Nairobi ist neben Kenia für Antragsteller aus Somalia, den Seychellen und Teilen von Eritrea und Burundi zuständig.

Niemand will zuständig sein

Zum Beispiel Somalia: Da es in Somalia seit fast dreißig Jahren keine zuverlässigen staatlichen Strukturen gibt, wissen Beamten oft nicht, was sie von somalischen Dokumenten halten sollen. Ist die vorgelegte Geburtsurkunde glaubwürdig, ist die Heiratsurkunde echt oder beurkundet sie zumindest eine tatsächlich bestehende eheliche Verbindung oder eben nicht? Auf der Webseite der Botschaft wird darauf hingewiesen: "Urkunden aus Somalia können derzeit auch weder überprüft werden, noch kann ihre Echtheit und inhaltliche Richtigkeit auf andere Weise festgestellt werden. Es liegt im Ermessen der Behörde, der eine somalische Urkunde vorgelegt wird, ob sie diese als echt einschätzt und ihrem Inhalt vertraut."

Aber was bedeutet "Ermessen" für die Betroffenen? Eine Ermessensentscheidung sei nicht einfach Willkür, erklärt Rechtsanwalt Hoffmann. "Ermessen heißt einfach, dass man eine nachvollziehbar begründete Entscheidung trifft, wenn man sich alle Gesichtspunkte eines Falls angeschaut hat. Wenn in der Ermessensentscheidung beispielsweise das Kindeswohl nicht berücksichtigt wird, dann ist das ein Ermessensfehler. Ähnliches gilt, wenn es um den Nachweis des Sorgerechts der Mutter geht."

Hilfesuchend wenden sich die ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer an Abgeordnete ihres Wahlkreises, an Mitglieder des Menschenrechtsausschusses, an Abgeordnete im Europaparlament. Einige bieten an, sich persönlich beim Auswärtigen Amt und bei den Innenbehörden für Aminas Anliegen einzusetzen. Die guten Absichten enden jedoch regelmäßig bei dem Hinweis, man könne leider in ein laufendes Verwaltungsverfahren nicht eingreifen.

Abgeklärt äußert der erfahrene Rechtsanwalt Hoffmann: "Diese Verzögerungen in den Verfahren sind nicht einer ineffektiven Verwaltung geschuldet, sondern politisch gewollt." Lena Ronte, Frankfurter Rechtsanwältin, schreibt in ihrem Praxishandbuch zu Asylverfahren: "Familiennachzugsverfahren sind umfangreiche und langwierige Verfahren, die viel Geduld, Ausdauer, Durchsetzungskraft und ein hohes Maß an Organisationsvermögen bedürfen. Wenn man sich Schritt für Schritt durch die Verfahren kämpft, sind sie meist erfolgreich." Ronte ist seit langem auf solche Verfahren spezialisiert und fügt aufmunternd hinzu: "Seien Sie hartnäckig, lassen Sie sich nicht abwimmeln und halten Sie durch! Es lohnt sich."

So sehr hatten Amina, die Kinder und die UnterstützerInnen des dörflichen Helferkreises im vergangenen Jahr gehofft, dass die Familie das muslimische Zuckerfest zum Ende des Ramadan, spätestens aber Weihnachten gemeinsam feiern könnte. Wieder ist 2020 nichts daraus geworden. Weiterhin bleibt nur der Kontakt per Skype. Nun wird auf nächstes Weihnachten gehofft, spätestens!


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3 Kommentare verfügbar

  • Nico
    am 02.02.2021
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    Nachtrag:

    Ein Schreiben des vertretenden Rechtsanwalts an die Ämter mit einem klaren Hinweis auf diesen Sachverhalt mit Fristsetzung könnte m.E. hier sehr viel bewirken.

    Öffentlichkeit extra noch dazu.

    Das sollte man machen. Ohne weiteres Zögern.
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