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1. Mai in Stuttgart

Gebrochene Solidarität

1. Mai in Stuttgart: Gebrochene Solidarität
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Alle Jahre wieder eskalieren in Stuttgart Demonstrationen am 1. Mai. Dabei gibt es bemerkenswerte Unterschiede zwischen dem, was die Polizei anschließend vermeldet und dem, was Menschen vor Ort erleben.

Auf dem Stuttgarter Marienplatz haben sich an diesem 1. Mai etwa 3.000 Menschen unter dem gemeinsamen Motto "Ungebrochen solidarisch" versammelt, sie stehen dicht gedrängt beieinander. Wer per U-Bahn anreist, wird am Ende der Treppe von einem kleinen Bub samt Aufpasserin empfangen, der Nelken verteilt: eine Aktion der Rotfüchse, der MLPD-Kinderorganisation.

Daneben ist so ziemlich das gesamte Spektrum der politischen Linken vertreten: von Gewerkschafter:innen von IG Metall, Verdi und NGG über Jusos und Linkspartei, griechische und kurdische Kommunist:innen bis zum linksradikalen antikapitalistischen Block. Als sich der Demozug in Bewegung setzt, läuft ganz vorne eine Trommeltruppe, die für Stimmung sorgt, weiter hinten werden zu Gitarrenbegleitung Arbeiterlieder gesungen. Per Lautsprecher sagt ein Redner durch, dass heute viele gemeinsame Sache machten, die nicht überall die gleichen Interessen vertreten, aber sie alle wären an besseren Bedingungen für die Arbeiterklasse interessiert. Ein paar wollen die "Nato zerschlagen", andere fordern mit EU-Flagge "internationale Solidarität mit der Ukraine" ein. Dazu werden bekannte Parolen skandiert, die mal mehr ("Brecht die Macht der Banken und Konzerne"), mal weniger ("Ob Ost, ob West – nieder mit der Nazi-Pest") Bezug zum Thema der Veranstaltung haben.

Wie jedes Jahr in Stuttgart kann das nicht reibungslos vonstatten gehen. Als der Demozug vom Rotebühlplatz aus auf die Hauptstätter Straße abbiegt, wird im antikapitalistischen Block ein orangener Rauchtopf gezündet. Sofort schreitet die mit einem massiven Aufgebot präsente Polizei ein, weil ein Verstoß gegen die Versammlungsauflagen vorliege. Behelmte Beamte stoppen den Demozug in der Mitte, etwa 20 Minuten herrscht Stillstand und die altbekannten Szenen spielen sich ab: Einsatzkräfte hindern den Demozug am Weiterlaufen und bilden eine Reihe vor dem antikapitalistischen Block. Der drängt gegen die Beamten an, die zunächst drohend die Schlagstöcke in den Himmel heben und schließlich Pfefferspray einsetzen. Bengalos brennen zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr.

Die ungebrochene Solidarität gilt nicht immer

Dann rollt ein Einsatzwagen an, per Lautsprecherdurchsage heißt es, die Demonstrierenden seien gestoppt worden, weil (nicht weiter konkretisierte) "Straftaten aus ihrer Mitte heraus" begangen wurden. Die behelmten Einsatzkräfte würden sich jedoch zurückziehen und der Demozug könne "in normalem Tempo" weiterlaufen, wenn ab sofort alles friedlich bleibe. Entgegen der Ankündigung ziehen sich die Beamten daraufhin allerdings nicht zurück, sondern holen Verstärkung hinzu und eskortieren den antikapitalistischen Block im weiteren Verlauf als Vorhut.

Einsatzleiter Jens Rügner ist zu beschäftigt, um Fragen zu beantworten, und für Pressearbeit ist – trotz hunderter Beamter im Einsatz – noch niemand vor Ort. Später kommt Sprecher Jens Lauer angeradelt und erklärt: "Naja, also Straftaten … es gab Verstöße gegen die Versammlungsauflagen, deswegen wurde der Demozug gestoppt." Neben dem Einsatz von Pyrotechnik sei ihm per Funk durchgesagt worden, es habe auch "Rangeleien" gegeben. Er müsse sich jetzt aber erst einmal einen Überblick verschaffen.

Der Gewerkschaftsblock will sich indessen nicht gedulden, bis die Co-Demonstrierenden weiterziehen dürfen und distanziert sich kurz darauf auf dem Marktplatz von Unruhestiftern mitsamt dem Hinweis, dass man selbst friedlich demonstriere.

Wie die Gewerkschaft der Polizei informiert, gelten Bengaltöpfe – das weniger effekthaschende Wort für "Rauchbomben", das die Polizei später in ihrer Pressemitteilung verwendet – als pyrotechnische Gegenstände mit geringer Gefahr. Sie mit sich zu führen, ist volljährigen Personen erlaubt, das "Verwenden im Freien ohne Gefahren für andere" ist ohne Genehmigung eine Ordnungswidrigkeit, nur bei einer konkreten Gefährdung ist eine Einzelfallprüfung nötig.

Die Polizei greift gerne bei linken Demos durch

Wenn gegen Demo-Auflagen verstoßen wird, kann die Polizei intervenieren – allerdings erst nach einer Abwägung, ob der Eingriff in die grundgesetzlich geschützte Versammlungsfreiheit verhältnismäßig ist. Bemerkenswert ist, dass die Einsatzleitung das in diesem Fall offenbar bejahte. Als "Querdenken"-Fans zu den Hochphasen der Corona-Pandemie wiederholt mit tausenden Beteiligten, von denen sich kaum jemand an Auflagen halten wollte, durch Stuttgart zogen, entschied sich die Polizei für einen deutlich konzilianteren Umgang.

Bei Demonstrationen am 1. Mai hat die harte Linie hingegen Tradition: Als Aktivist:innen im Vorjahr beidseitiges Klebeband und Papierzettel an der Fassade des Stuttgarter Ordnungsamts anbringen wollten, reagierte die Polizei mit Pfefferspray und Schlagstöcken. Das aktuelle Vorgehen weist zudem Parallelen zum vergangenen Juli in Bad Cannstatt auf. Dort durfte eine Demo gegen die AfD nicht loslaufen, weil der Polizei die Seitentransparente zu lang waren (sie wurden später eingeklappt) und das Tragen von Mund-Nasen-Schutz als Vermummung ausgelegt wurde. In der Pressemitteilung der Polizei war anschließend von "massiven Verstößen gegen die von der Stadt Stuttgart erlassenen Auflagen" die Rede. Schließlich sei es "zu einem tätlichen Angriff" auf die Staatsgewalt gekommen, die mit Pfefferspray antwortete.

War wieder nix mit der Revolution

Nach dem gleichen Strickmuster wurde am diesjährigen 1. Mai eine weitere Kundgebung erschwert. Auf dem Schlossplatz wollten etwa 500 Personen an der traditionellen "revolutionären Demo" teilnehmen, loslaufen durften sie allerdings nicht. Erneut stört sich die Polizei an Transparentgrößen, die nach Auflagen der Stadt höchstens 1,5 Meter breit sein dürfen. Zudem hat sich erneut eine Handvoll Demonstrierender mit Corona-Masken vermummt. Nach über einer Stunde, die der Demo-Zug stillsteht, gibt es größeres Gedränge, das schließlich durch Pfefferspray und Schlagstöcke beendet wird.

In der Bilanz zum 1. Mai informiert die Stuttgarter Polizei über einen Beamten, der im Zuge des Einsatzes leichte Verletzungen erlitten habe. Die Demosanitäter Süd-West geben an, 94 Personen behandelt zu haben. Die meisten von ihnen sollen Pfefferspray abbekommen haben, in einem Fall sei eine Krankenhausbehandlung notwendig gewesen. In der Pressemitteilung dazu ist von "massiver Polizeigewalt" die Rede.

Ähnlich äußern sich andere, die vor Ort waren. Stadtrat Hannes Rockenbauch (SÖS) kritisiert eine "unnötige Konfrontation und Eskalation" seitens der Einsatzkräfte. Laut dem linken Bundestagsabgeordneten Bernd Riexinger "habe die Polizei grundlos und ohne jegliche Verhältnismäßigkeit über den Tag verteilt Gewalt gegen die friedlichen Demonstrationen ausgeübt". Ralf Blankenfeld, kommunalpolitisch aktiv bei den Stadtisten, schreibt auf Facebook, die Polizei, "die sich offensichtlich vorgenommen hatte, die aberwitzigen Versammlungsauflagen der Stadt Stuttgart bis aufs letzte Komma umzusetzen", sei "unnötig aggressiv" aufgetreten. Dass sie bei anderen Demonstrationen Auflagenverstöße toleriere, zeige, dass hier eine "willkürliche Machtdemonstration" vorliege. Er verweist zudem darauf, dass "Rauchbomben" auch schon beim Kirchentag gezündet wurden, "als stimmungsvolles Element, ohne dass jemand dies als bedrohlich empfunden hätte. Geworfen, wie von der Polizei behauptet, wurden sie nicht."


Noch mehr Eindrücke vom 1. Mai gibt es in dieser Ausgabe aus Straßburg sowie aus Esslingen.

Korrektur-Hinweis: In einer ursprünglichen Version dieses Artikels wurde ein Urteil des Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen sinnentstellt wiedergegeben. Das Gericht prüfte 2021 eine Klage, die sich unter anderem gegen die Begrenzung von Banner- und Transparantgrößen durch eine Versammlungsbehörde richtete. Fälschlicherweise stand hier zu lesen, dass einem Antifa-Block Banner untersagt wurden, die länger als sechs Meter und höher als ein Meter waren und dieses Verbot als rechtswidrig zurückgewiesen worden sei. Zutreffend ist, dass dem gesamten Demonstrationszug, der aus insgesamt elf Blöcken bestand, untersagt wurde, größere Transparente mit sich zu führen. Das Gericht entschied, dieses Verbot sei "insoweit (...) rechtswidrig, als über den vorgesehenen Antifa-Block hinaus sämtlichen Versammlungsteilnehmern das Verwenden von Bannern oder Transparenten mit einem Maß von mehr als 600 x 100 cm untersagt wird." Dieses Pauschalverbot wies das Gericht als rechtswidrig zurück. "Ist eine versammlungsbehördliche Verfügung auf eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit gestützt, erfordert die von der Behörde und den befassten Gerichten angestellte Gefahrenprognose tatsächliche Anhaltspunkte, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben. Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen nicht aus." Allerdings könne die Versammlungbehörde eine Gefahrenprognose "etwa auch mit konkreten Vorfällen belegen, die sich in der Vergangenheit in vergleichbaren (Versammlungs-)Situationen ereignet haben". Vor diesem Hintergrund wertete das OVG die Prognose hinsichtlich des Antifa-Blocks als tragfähig und die Begrenzung der Bannergrößen für diesen Teil des Demonstrationszuges als legitim, während es "sich bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich jedenfalls als unangemessen" erweise, "sämtliche Versammlungsteilnehmer in der beabsichtigten Meinungskundgabe erheblich einzuschränken". Die Entscheidung ist hier nachzulesen


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3 Kommentare verfügbar

  • SSV Ulm 1846
    am 05.05.2023
    Antworten
    Wie so oft: die Polizei führt sich auf, als wären sie die Herrscher der Welt. Ob bei Linken Demos oder beim Fußball:
    Wegen kleinen Belanglosigkeiten wird mit einer bewaffneten Einheit gleich draufgegangen, der schwarze Polizei-Mob wütet und am Ende waren wieder die Demonstranten schuld. ( Was…
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