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1. Mai in Straßburg

Alle gegen einen

1. Mai in Straßburg: Alle gegen einen
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 Fotos: Jens Volle 

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In Frankreich war der Tag der Arbeit eine große Demonstration gegen Präsident Macron, seine Rentenreform, seine Ignoranz. In 300 Orten gingen die Menschen auf die Straße, auch im elsässischen Straßburg schlugen sie auf Töpfe und es mussten ein paar Scheiben und Papp-Polizeiautos dran glauben.

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"Macron abschieben", "Macron auf den Mond schießen", "Macron in den Kochtopf", "Für Macron Rente mit 45"– die Straßburger:innen auf der Demonstration zum 1. Mai haben viele Ideen, ihren Präsidenten loszuwerden. Einig sind sich aber die meisten, zumindest auf ihren Plakaten und Bannern: "Macron, hau ab!", ist breiter Konsens. Zwei Wochen nach dem Erlass des neuen Gesetzes zur Rentenreform ziehen in Straßburg zwischen 8.500 laut Polizei und 15.000 laut Gewerkschaften vom Place de la Republique durch die Stadt. Der angekündigte Regen gönnt den Demonstrierenden eine Gnadenfrist, aus den Autos, die die verschiedenen Gruppen durch den Umzug begleiten, spielt laute Musik und manchmal füllt ein Bengalisches Feuer die Straßenschluchten kurz mit Rauch. Aus einer umgebauten Gaskartusche wird hin und wieder unter lautem Jubel ein Kanonenschlag losgelassen. Kinder und Erwachsene schlagen mit ohrenbetäubender Begeisterung auf verbeulte Kochtöpfe und lassen Emmanuel Macron lautstark wissen: "Wir sind da, auch wenn du das nicht willst, wir sind da!"

Bei der Präsidentschaftswahl 2022 hatte Macron es als Kandidat der liberalen Partei Renaissance nur dehalb in die Stichwahl geschafft, weil die rechtspopulistische Marine Le Pen die Alternative gewesen wäre. Hinter ihm standen die Französinnen und Franzosen nicht. Nun ist das Land geeint – gegen den Präsidenten, gegen seine Rentenreform und gegen die wachsende soziale Ungleichheit, die viele der Demonstrierenden ihm vorwerfen.

Christen demonstrieren mit militanter Antifa

Die zwei größten Gewerkschaften Frankreichs, die linke CGT und die etwas konservativere CFDT, sind sich normalerweise nicht immer einig, auch nicht zum Tag der Arbeit. Zum diesjährigen 1. Mai aber haben die beiden Gewerkschaften zum ersten Mal seit über zehn Jahren wieder gemeinsam mobilisiert. "Es ist wirklich selten, dass alle Gewerkschaften sich zusammenschließen", erklärt Jules Gross, Student und Mitglied der linken Partei La France Insoumise. "Aber seit Januar, seit es um die Rentenreform geht, demonstrieren wir alle gemeinsam." Er läuft zusammen mit Abgeordneten der linken Oppositionsparteien, zu denen auch die France Insoumise gehört, für eine Rente ab 60 beim Umzug mit.

Außer den Parteien und den Gewerkschaften sieht man auch kurdische Fahnen, das Zeichen von Extinction Rebellion, maskierte Gesichter, die Banner von Fachschaften und Studierendengruppen, die christliche Gewerkschaft CFTC demonstriert mit militanten Aktivist:innen der Antifa.

"Zuallererst gehört es sich, am ersten Mai auf die Straße zu gehen", sagt Jules Gross. "Aber dann ist da auch die Reform. Auch wenn wir daran nichts mehr ändern, geht es uns darum, den Druck aufrechtzuerhalten und deutlich zu machen, dass wir nicht einverstanden sind." Eigentlich ist die Rentenreform beschlossenen Sache: Am 14. April segnete der Conseil Constitutionel (Verfassungsrat) das Gesetz, das das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 erhöht, als verfassungskonform ab, Macron unterzeichnete es noch am selben Abend. Dass der Präsident das Parlament dabei mittels eines gesetzlichen Kniffs ausschloss, erhöht die Wut auf den Straßen.

Auch bei Michel Heitz. Er ist Mitglied der CFTC und selbst bereits in Rente. "Ich habe mein ganzes Leben beim Bau gearbeitet und hatte das Glück, mit 59 aufhören zu können. So konnte ich noch ein paar schöne Jahre verbringen", sagt der 70-Jährige. "Ich bin heute mit meinen Kindern hier. Es tut mir weh, wenn ich denke, dass sie das nicht haben werden."

Weiter vorne im Umzug läuft Patrick Heidmann, Secrétaire Régionale der Gewerkschaft CGT mit. Er fürchtet, dass die Rentenreform eine weitere Etappe der Aushöhlung des französischen Sozialsystems ist. "Ich habe mein ganzes Leben bei der Rentenkasse gearbeitet und mindestens zehn Rentenreformen vorbeiziehen sehen", erklärt er. Besser für die Beschäftigten wurde es nie, auch diesmal sieht er das nicht. Was ihm als langjähriger Gewerkschafter außerdem Sorgen bereitet: die zunehmende Polizeigewalt bei Demonstrationen. "Seit 40 Jahren gehe ich demonstrieren und nie habe ich eine Situation wie die aktuelle erlebt – dass man uns wirklich daran hindert zu demonstrieren. Ich finde es skandalös, wie die Sicherheitskräfte gegen friedliche Demonstranten eingesetzt werden. Töpfe schlagen ist nicht gewalttätig, Trillerpfeifen sind nicht gewalttätig."

Die zunehmende Polizeigewalt beobachtet auch ein Aktivist der Bewegung "Les Soulèvements de la Terre" (Die Erhebungen der Erde). "Das alles rutscht in Richtung Polizeistaat," meint er. Er kommt ursprünglich aus der Umweltbewegung und demonstrierte zuletzt gegen den Bau eines gigantischen Wasserbeckens in der Normandie. Seine Rente ist noch weit entfernt, aber für ihn gehören ökologische und soziale Herausforderungen zusammen. "Ökologie ohne die soziale Frage ist nur gärtnern."

Die Zunahme der Polizeigewalt gegen Demonstrierende in Frankreich ist nicht nur eine subjektive Wahrnehmung der beiden Demonstrierenden. Amnesty International hat bereits in mehreren Berichten auf die Polizeigewalt in Frankreich aufmerksam gemacht – zuletzt 2020 im Rahmen der strikten Corona-Beschränkungen des Landes.

Die Wut ist groß, Scheiben bersten

In Straßburg bleiben die schwer ausgerüsteten Beamt:innen an diesem 1. Mai eher auf Distanz. Auch als beim Place de l'Université zuerst ein Präsident und dann ein Polizeiwagen aus Pappe in Flammen aufgehen. Dann zieht doch noch eine Gruppe Demonstrierender schwarze Masken über und die ersten Scheiben der Bushaltestellen zerbersten.

Erst wird gestreikt, dann verhandelt

Anders als in Deutschland sind Frankreichs große Gewerkschaften nicht branchenabhängig organisiert, sondern politisch ausgerichtet. Einerseits gibt es die sozialistische CGT und deren Abspaltung Force Ouvrier (FO). Auf der anderen Seite das Lager um die CFDT und deren konservativere Abspaltung CFDC, entstanden aus der christlichen Gewerkschaftsbewegung. Daneben gibt es, ähnlich wie in Deutschland, auch branchenspezifische Gewerkschaften. 2019 waren nur noch gut zehn Prozent der französischen Arbeitnehmer:innen in einer Gewerkschaft organisiert. Dennoch arbeiten rund 90 Prozent unter Tarifbedingungen, da Tarifverträge in der Regel allgemeinverbindlich sind.

Gewerkschaftsmitglied sind vor allem Angestellte aus dem öffentlichen Dienst, allen voran die Cheminaux, die Eisenbahner:innen. Dennoch haben die Gewerkschaften einen großen Einfluss und sind öffentlich sehr sichtbar – denn Konflikte werden zuallererst auf der Straße ausgefochten. Dabei geht es nicht nur um Tarife, sondern auch um politische Themen wie bei den aktuellen Streiks gegen die Rentenreform. Die Streiks gegen die Rentenreform sind zwar von den Gewerkschaften organisiert, anders als in Deutschland können Arbeitnehmer:innen in Frankreich aber auch unabhängig von Gewerkschaften in Streik treten.  (lui)

"Wir sind wütend," erklärt eine junge Frau in schwarzer Vermummung, die gerade die letzten Glassplitter aus der Scheibe einer Bushaltestelle herausgetreten hat. "Jede Woche gibt es einen neuen Grund dafür. Die Rentenreform, letzte Woche die Angriffe der Polizei auf Migranten in Mayotte. Das ist organisierte Gewalt von Seiten des Staates." So organisiert, dass sie die wilde Demo sofort stoppen kann, ist die Staatsgewalt dann aber nicht. Der Zug geht durch ein paar Nebenstraßen, nimmt Bauzäune und Pflastersteine mit, bis die Polizei ihn am Quai des Bateliers stoppt und großflächig Tränengas verteilt. Effizienter als das Gas ist aber am Ende der strömende Regen, um die Demonstrierenden zu zerstreuen.

Es hängt von der Einigkeit ab

Ob die Demonstrationen gegen die Rentenreform doch noch erfolgreich sein werden, hängt am Ende vor allem davon ab, wie die Gewerkschaften zusammenhalten und es auch weiterhin schaffen, die Bevölkerung zu mobilisieren, schätzt der Soziologe und Volkswirt Heinz Bierbaum. Der einstige Vize-Vorsitzende der Linken ist heute Vorstandsvorsitzender der Linkspartei-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung. "Macron versucht das jetzt durchzuziehen. Ob er das schafft, hängt davon ab, wie einheitlich die Gewerkschaften jetzt agieren. Die CFDT könnte ausschwenken und sich auf Verhandlungen mit der Regierung einlassen." Die Demonstrierenden wollen lieber von ihrem Präsidenten gehört werden als mit ihm verhandeln. Durch Bürgernähe allerdings hat Emmanuel Macron sich bislang nicht ausgezeichnet.

Am Ende können die Gewerkschaften landesweit auf eine Rekordteilnahme an den 1. Mai-Demos verweisen und sprechen von 2,3 Millionen Menschen auf den Straßen, die Polizei sagt 800.000. In den vergangenen Jahren wurden maximal 160.000 Teilnehmende gezählt.


Noch mehr Eindrücke vom 1. Mai gibt es in dieser Ausgabe aus Stuttgart sowie aus Esslingen.


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