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1. Mai in Esslingen

Politisches Familientreffen

1. Mai in Esslingen: Politisches Familientreffen
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Der Fachkräftemangel macht derzeit die Arbeitnehmer:innen stark, was den Gewerkschaften zugute kommt. Sie verzeichnen Zuwachs und die Rituale am Tag der Arbeit kommen gut an. Beobachtungen aus Esslingen.

Grundsätzlich ist der 1. Mai in Deutschland eine wohlorganisierte Demonstration der Gewerkschaften. Der Vorstand des DGB gibt ein Motto vor, das niemanden vor den Kopf stößt. In diesem Jahr "Ungebrochen solidarisch". Neben zentralen Kundgebungen, auf denen auch Politik reden darf, zum Beispiel Kanzler Olaf Scholz (SPD) in Koblenz, sorgen vor Ort die ehrenamtlichen DGB-Kreisvorstände dafür, dass etwas passiert. In der Regel: Kundgebung mit ein, zwei lokalen Redner:innen, Musik, rote Wurst, Bier. In manchen Orten wird noch durch die Stadt demonstriert. Nach drei Stunden ist die Angelegenheit vorbei und wer öfters mitgemacht hat, fragt sich Jahr für Jahr wieder: Kann das nicht spannender sein? Einerseits.

Andererseits: Die 1.-Mai-Veranstaltungen gerade in kleineren Orten wie Esslingen am Neckar sind immer auch politische Familienfeiern. Dort treffen sich Menschen wieder, die mal gemeinsam in mehr oder weniger linken Zusammenhängen gearbeitet haben. Rentner:innen, die in ihrem Arbeitsleben gewerkschaftlich aktiv waren, sehen einstige Kolleg:innen, örtliche Organisationen nutzen die Möglichkeiten, sich mittels Stand zu präsentieren. Auch das formt politisches Bewusstsein.

In Esslingen, einer Stadt mit 96.000 Einwohner:innen, kommen am 1. Mai um die 300 Frauen, Männer und ein paar Handvoll Kinder zusammen. Für die Kleinen ist das Spielmobil da, die zumeist älteren Erwachsenen stehen rum, suchen Bekannte, treffen Freunde auf ein Bier, wandern die Stände ab von Verdi, IG Metall, Frauen helfen Frauen, Foodsharing, Friedensbündnis, Linke und SPD. Manch einer sucht gezielt kostenloses Werbematerial wie Kugelschreiber, Taschentücher oder Brillenputztücher und wird schnell fündig.

Geregelt und ziemlich friedlich

In Deutschland sind etwa 16 Prozent der Arbeitnehmer:innen Mitglied einer der acht DGB-Gewerkschaften, also rund 5,6 Millionen Menschen. Tendenz derzeit steigend. Der DGB versteht sich als Einheitsgewerkschaft, die alle ideologischen Richtungen integrieren will.

Nur eine Gewerkschaft darf mit Arbeitgebern Tarifverträge aushandeln, derzeit arbeiten gut die Hälfte aller Arbeitnehmer:innen mit Tarifbindung. Zudem dürfen nur Gewerkschaften zu Streiks aufrufen und dann ausschließlich für tarifliche Angelegenheiten. Politische Streiks sind letztlich verboten. Dennoch gibt es immer mal wieder politische Streikaktionen, zuletzt Anfang März, als Verdi und Fridays for Future gemeinsam auf die Straße gingen und der öffentliche Verkehr lahmgelegt wurde. EU-weit gesehen liegt Deutschland mit 13 Streiktagen pro 1000 Arbeitnehmer:innen 2020/21 im unteren Drittel. Spitzenreiter ist Frankreich mit 79 Streiktagen.  (lee)

Auf der Bühne spielt die Band "Söhne im Mai" Arbeiterlieder wie "Bella Ciao" und Rock. Fünf der sechs Musiker arbeiten bei der Firma Pilz auf den Fildern, ihr Auftritt auf dem Esslinger Marktplatz ist Tradition. Die Reden halten Fabienne Fecht vom DGB und Hartmut Zacher von der NGG (Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten). Fecht ist die Vertreterin der jungen Generation, sie spricht von prekären Bedingungen von Uni-Beschäftigten, von der Inflation, die vor allem Gering- und Normalverdiener:innen trifft, von Ausbildungsgarantie und von Solidarität. Sie redet engagiert und knackig, schwieriger wird das Zuhören bei Helmut Zacher, dem Hauptredner, der nicht gerade zu den begnadeten Rhetorikern gehört. Er geht auf aktuelle Tarifkämpfe ein, wie zuletzt die von IG Metall und Verdi, spricht die laufende Auseinandersetzung bei der Edeka-Brotfabrik Bäckerbub an und ist sich mit Fabienne Fecht einig: "Wer das Streikrecht antastet, gefährdet den sozialen Frieden." In den vergangenen Wochen, als der Verkehrssektor inklusive Flughäfen bestreikt wurden, haben Arbeitgeberverbände begonnen, das deutsche Streikrecht anzugreifen. Es müsse geändert werden, damit Streiks "verhältnismäßig" würden – was offensichtlich vor allem bedeutet, Streiks sollten keine wirtschaftlichen Auswirkungen haben. Was aber genau der Sinn von Streiks ist.

Dieser Part der Reden gehörte deutschlandweit zum Rederepertoire auf den Mai-Kundgebungen – denn es ist klar: Ein (noch mehr) eingeschränktes Streikrecht würde aus Tarifverhandlungen kollektives Betteln und Gewerkschaften bedeutungslos machen. Das sollte eigentlich niemand wollen, der Gewerkschaften wichtig findet und Demokratie ernst nimmt.

So ritualisiert vielerorts die Mai-Kundgebungen auch sein mögen – viele Menschen finden sie wichtig: Bei bundesweit 400 DGB-Kundgebungen waren knapp 290.000 Menschen, sagt der Gewerkschaftsbund.


Noch mehr Eindrücke vom 1. Mai gibt es in dieser Ausgabe aus Stuttgart sowie aus Straßburg.


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2 Kommentare verfügbar

  • gerhard manthey
    am 03.05.2023
    Antworten
    Die Gunst der Tarifverträge
    Die vor kurzem vorgelegte Studie der Hans-Böckler-Stiftung zur Tarifbindung und Arbeitszeit in deutschen Betrieben in Ost und West zeigt auf einen kurzen und wahrhaftigen Nenner gebracht, dass in den Betrieben, wo die gewerkschaftlich Organisierten ihren Arbeitgeber…
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