Dennoch ist interessant, dass die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung jetzt von der IG Metall kommt. Oder jedenfalls von einem wichtigen Repräsentanten der IG Metall, nämlich Knut Giesler, Chef des mit 476.000 Mitgliedern größten Bezirks NRW. Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich für die Stahlbranche, also 32 Wochenstunden statt 35, sei machbar, sagt er.
Die Ansage kommt ganz schön früh. Der Tarifvertrag in der nordwestdeutschen und in der ostdeutschen Stahlindustrie läuft zum 30. November 2023 aus, im Saarland am 29. Februar 2024. Die erste Verhandlung dürfte so Mitte November stattfinden, zwei bis drei Monate vorher beschließt die Tarifkommission ihre Forderung. Und die nach der Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich ist noch gar nicht beschlossen. Das werde derzeit diskutiert, teilte der IG-Metall-Vorstand nunmehr eilig mit.
Kurz: Gieslers Vorgehen ist ungewöhnlich. Aber nachvollziehbar. Arbeitszeitdebatten sind schwierig. Innerhalb der Gewerkschaft und gesellschaftspolitisch. Weil sie die Machtfrage stellen. Wer verfügt über die Arbeitszeit? Beschäftigte oder Chefs?
Das können Arbeitgeber gar nicht leiden
Entsprechend erbittert waren vergangene Kämpfe um kürzere Arbeitszeiten. Die Stahlkocher in NRW forderten 1978/79 die 35-Stunden-Woche. Mit Streik und Aussperrung. Ergebnis: Es blieb bei der 40-Stunden-Woche. In der Zeit von Massenarbeitslosigkeit Mitte der 1980er setzten die IG Druck und Papier (heute ein Teil von Verdi) sowie die IG Metall das Thema wieder auf die Tarif-Tagesordnung. Die Drucker fingen im April 1984 an, streikten 13 Wochen. Die IG Metall begann einen Monat später, im Mai, mit Streiks in Nordbaden, Hessen folgte, knapp 60.000 Männer und Frauen legten die Arbeit nieder. Die Arbeitgeber reagierten scharf, legendär ist der Ausspruch des damaligen Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführers Dieter Kirchner: "Lieber vier Wochen Streik als eine Minute Arbeitszeitverkürzung."
Die Arbeitgeber zogen entsprechend durch und sperrten aus – nicht nur Streikende, auch in nicht-streikenden Bezirken ließen sie die Leute nicht an ihre Arbeitsplätze. Mehr als 500.000 Beschäftigte waren von dieser Strafmaßnahme betroffen. Die veröffentlichte Stimmung war mehrheitlich auf Seiten der Arbeitgeber. Schließlich war die zweite Ölkrise von 1982/83 noch nicht überstanden, 9,1 Prozent betrug die offizielle Arbeitslosenquote in der Bundesrepublik. Nach sieben Wochen Streik ging es in der Metallrunde in die Schlichtung. Ergebnis: 38,5 Stunden-Woche. Die Kröte für die Gewerkschaft: mehr Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung, und zwar nach betrieblichen Bedürfnissen. Der Acht-Stunden-Tag war damit nicht mehr das Maß aller Dinge, die Wochenendarbeit nahm zu. Bei den Druckern ging es ähnlich aus.
Es folgten weitere Tarifrunden mit dem Thema Arbeitszeitverkürzung, und 1990 einigten sich die Tarifparteien in der Metall- und in der Druckindustrie darauf, bis 1995 die 35-Stunden-Woche schrittweise umzusetzen.
Die Transformation wird Arbeitsplätze kosten
Die Gewerkschaften argumentierten damals unter anderem damit, dass sie in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit mit kürzeren Arbeitszeiten Arbeit umverteilen, also mehr Menschen in Lohn und Brot bringen wollten. Dass das geklappt hat, geben die Zahlen nicht her. 1990 lag die Arbeitslosenquote im Westen bei sechs, im Osten bei zehn Prozent, 1995 bei neun im Westen und fast 15 Prozent im Osten, jeweils mit steigender Tendenz. Allerdings galt die 35-Stunden-Woche im Osten gar nicht, bis heute ist sie in der Metallbranche nur zum Teil umgesetzt. Auch weil die 1990er-Jahre eine extrem gewerkschafts- und arbeitnehmerfeindliche Ära waren. Der Kapitalismus hatte schließlich gewonnen, der Neoliberalismus feierte, ostdeutsche Unternehmen wurden mit Hilfe der Treuhand gnadenlos ausgebeint und/oder plattgemacht – gewerkschaftliche Gegenmacht hatte wenig Chancen.
Nun haben sich die Zeiten zwar wieder geändert, doch ausgedehnt auf andere Branchen hat sich die 35-Stunden-Woche bis heute nicht. Die Arbeitszeit in Deutschland liegt 2021 zwar im Schnitt laut statistischem Bundesamt bei 34,8 Wochenstunden. Unterscheidet man allerdings zwischen Voll- und Teilzeit, zeigt sich, dass Vollzeitbeschäftigte statistisch gesehen 41 Stunden pro Woche arbeiten und es deutlich mehr Teilzeitjobs gibt. Teilzeitler:innen arbeiten demnach knapp 21 Stunden. Und da 80 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten Frauen sind, liegt der Verdacht nahe, dass hier vor allem Frauen arbeiten, die in früheren Zeiten gar nicht auf dem Arbeitsmarkt waren. Zumindest nicht im Westen. Allerdings wird der Arbeitsmarkt nicht nur von Wochenarbeitsstunden und Tarifverträgen beeinflusst, sondern auch von Energiekrisen und -preisen, von den Auswirkungen der globalen Arbeitsteilung, von der Demografie, von Kriegen.
Auch wenn nicht mal die 35-Stunden bei allen angekommen sind – die Idee, Arbeit auf mehr Köpfe zu verteilen, ist richtig. Zumindest wenn die Köpfe, also die Menschen, da sind. Wer weiß schon, wie der Arbeitsmarkt in vier, fünf oder sechs Jahren aussieht angesichts der Digitalisierung, des Strukturwandels in der Energiewirtschaft, der Klimakrise? Dass sich die Stahlindustrie enorm verändert, ist bereits klar. Die Umstellung auf die Energiequelle Wasserstoff kostet Milliarden, dass im Zuge von Umrüstungen der Stahlwerke noch weiter rationalisiert werden wird, sagt die Erfahrung. Es werden Arbeitsplätze wegfallen, also müssen Ideen her, wie die verbleibende Arbeit anders aufgeteilt wird. Insofern macht der Vorstoß von Giesler Sinn, ein halbes Jahr vor der Tarifrunde das Thema in die Welt zu bringen und Debatten anzufachen. Gesellschaftlich und innergewerkschaftlich.
Dass im Oktober der Gewerkschaftstag der IG Metall ansteht, wo es nicht nur um die neue Vorsitzende Christiane Benner geht, sondern auch um Inhalte, wird der Debatte ebenfalls helfen. Um Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen, braucht die Gewerkschaft Mitglieder, die bereit sind zu kämpfen. Denn einfach wird das nicht, wie der Blick in die Geschichte zeigt.
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