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Ukraine-Krieg und Ostermärsche

"Der diplomatische Weg ist der einzige"

Ukraine-Krieg und Ostermärsche: "Der diplomatische Weg ist der einzige"
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Alle Möglichkeiten, Russland und die Ukraine an den Verhandlungstisch zu bringen, müssen genutzt werden – das fordert der Aufruf "Mehr Diplomatie wagen" von SPD-Mitgliedern. Zu den Erstunterzeichnenden gehört der Jurist Wolfgang Däubler, Hauptredner auf der Stuttgarter Ostermarsch-Demo. Einige Eindrücke und Däublers Rede im Wortlaut.

Bemühungen um eine diplomatische Lösung des Ukraine-Kriegs haben es nicht leicht. Am 6. April äußerte sich der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow dazu. Darauf, dass Chinas Staatschef Xi Jinping und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei einem gemeinsamen Treffen in Peking zu baldigen Friedensgesprächen für die Ukraine aufgerufen hatten, sagte Peskow, dass China zwar "zweifellos über ein sehr effektives und überragendes Vermittlungspotenzial" verfüge, doch die Situation sei "komplex". "Bislang gibt es keine Aussichten auf eine politische Lösung", so der Kreml-Sprecher, deshalb sehe Moskau "keine anderen Möglichkeiten als die Fortsetzung der Spezialoperation".

So gesehen wären Russland und sein Staatspräsident Wladimir Putin eigentlich naheliegende Adressaten von Demonstrationen für Frieden und die Aufnahme von Verhandlungen. Auf der Ostermarsch-Demo in Stuttgart, bei der am vergangenen Samstag, dem 8. April etwa 3.000 Menschen mitliefen (Polizeiangaben: 1.500), musste man dennoch ein bisschen suchen. Hier mal ein Schildchen "Russische Truppen raus aus der Ukraine" oder "Russland und USA/Nato Hände weg von der Ukraine". Viele regenbogenfarbene "Pace"-Fahnen oder Friedenstauben auf hellblauem Grund. Russlandfahnen wie bei Sahra Wagenknechts und Alice Schwarzers Demo in Berlin gab es keine, aber auch keine der Ukraine.

Die Auftaktrede von Konni Lopau vom Offenen Friedenstreffen Stuttgart kam zu großen Teilen ohne Ukraine-Bezug aus, Lopau sprach über Stuttgart als "europäische Kriegshauptstadt des US-Militärs", von den US-Kommandozentralen Eucom und Africom, und dass von letzterer auch US-Drohnen-Morde in Afrika koordiniert werden. Die regelmäßigen Tötungen von Zivilisten durch US-Drohnen hat auch Kontext immer wieder angeprangert (unter anderem hier und hier). Dass die aktuellen Drohnen- und Raketenangriffe Russlands gar nicht zur Sprache kamen, war allerdings doch etwas irritierend. Auch, dass die hör- und sichtbaren Solidaritätsbekundungen mit den Menschen in der Ukraine recht rar waren, im Gegensatz zur Kritik an der Nato, Waffenlieferungen oder am Klimakiller Militär. Im Demo-Aufruf des Friedensnetz Baden-Württemberg immerhin finden sie sich: "Unser Mitgefühl und unsere Solidarität gelten allen Opfern dieses Krieges und aller anderen Kriege, die in Vergessenheit geraten sind. Wir stehen an der Seite der Menschen in der Ukraine, in Russland und weltweit, die für einen Stopp des Krieges und eine friedliche Zukunft eintreten."

Nachdem der Demozug vom Schlossplatz einen Rundkurs durch die Stuttgarter Innenstadt gemacht hatte, fand die Abschlusskundgebung wieder auf dem Schlossplatz statt. Hauptredner war der Jurist Wolfgang Däubler, Ehemann der früheren Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin. Er gehört zu den Erstunterzeichnern des von SPD-Mitgliedern initiierten Appells "Mehr Diplomatie wagen". Als er seine Rede mit "Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine war und ist ein Angriffskrieg" ansetzte, kam aus dem Publikum ein lauter Ruf: "Nein!" Es blieb ein einzelner.

Wolfgang Däublers Rede im Wortlaut:


Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Genossinnen und Genossen,

Der Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine war und ist ein Angriffskrieg. Wir haben ihn verurteilt, aus guten Gründen. Ein kapitalistisches Land hat ein anderes überfallen. Wir sehen jeden Tag im Fernsehen, was der Krieg für die betroffenen ukrainischen Menschen bedeutet. Über das Schicksal russischer Soldaten erfahren wir nichts, außer dass sie "vernichtet" wurden. Aber wir wissen: Jeden Tag sterben zahllose Menschen in diesem Krieg.

Bei den Angriffskriegen der USA gegen Serbien, Irak, Afghanistan und Libyen haben wir uns anders verhalten. Da gab es keine Verurteilung. Und wir sahen nur ganz selten Ruinenbilder oder Interviews mit Verletzen. Bei Serbien und Afghanistan haben wir selbst mitgemacht. Was wäre wohl passiert, hätten wir stattdessen damals gefordert, Sanktionen gegen die USA zu verhängen? Oder gar, den US-Präsidenten vor ein internationales Tribunal zu stellen? Wenn zwei dasselbe tun, dann ist es eben nicht dasselbe. Die Doppelmoral ist Teil der sogenannten werteorientierten Demokratie. Das ist auch heute noch so: Frau Baerbock sagt nichts über die Aggression der Türkei gegen die Kurden oder über das Verhalten Israels in den besetzten Palästinensergebieten. Denn die Menschen sollen ja nicht das Falsche denken. Sie sollen weiter die Überzeugung haben, dass wir die Guten sind und alles auf der Welt in Ordnung wäre, wenn es in allen Ländern so zuginge wie bei uns. Doch wir sind heute dem Märchenalter entwachsen. Immer weniger Menschen glauben noch an die sogenannte werteorientierte Demokratie.

Es ist legitim, dass wir uns im Ukraine-Konflikt anders als in den übrigen Fällen verhalten – aber wir sollten uns bewusst sein, dass die veröffentlichte Meinung auf dem US-Auge blind ist.

Deutschland hat wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland verhängt und sich damit selbst ganz erheblich geschadet. Wir alle spüren dies heute an den Energiepreisen. Aber getroffen sind dadurch nicht nur die einzelnen Bürger, sondern auch kleinere Unternehmen wie z. B. Bäckereien, die kaum mehr ihre Kosten tragen können. Für die Großen ist das in der Regel kein Problem: Sie verlagern ihre Produktion in Länder wie die USA, wo die Energiepreise bei einem Sechstel oder einem Siebtel der unsrigen liegen. Und die Kolleginnen und Kollegen in den deutschen Betrieben können damit rechnen, bestenfalls mit einem Sozialplan abgefunden zu werden. Niemand traut sich, wirklich dagegen aufzustehen. Die Außenpolitik erweist sich wirtschaftlich als Bumerang.

Deutschland verhängt nicht nur wirtschaftliche Sanktionen. Wir liefern Waffen an die Ukraine. Immer stärkere Waffen; derzeit sind wir bei den Leopard-Panzern angelangt. Selbst die Rüstungsindustrie ist davon überrascht und hat Lieferschwierigkeiten. Aber Selenskyj will mehr. Er redet von Flugzeugen und Raketen. Derzeit ist unsere Regierung noch dagegen, aber bisher hat sie nach einiger Zeit immer nachgegeben. Ich habe da kein Vertrauen, dass sie wirklich hart bleibt. Irgendwie erinnert mich das an die Kriegskredite im Ersten Weltkrieg, denen die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag zugestimmt hatte. Man wollte kein "vaterlandsloser Geselle" sein, und vermutlich hat man intern gewaltig mit sich gerungen und das Gewissen ganz intensiv befragt – aber das Ergebnis war immer dasselbe. Und die Grünen? Aus der Friedenspartei ist eine Organisation geworden, an der die Waffenproduzenten ihre helle Freude haben. Sind die Waffen eigentlich umweltverträglich? Ein Leopard verbraucht mehr als 500 Liter Kraftstoff auf 100 km, der amerikanische Abrams bringt es sogar auf 1.480 Liter für 100 km. Aber das war nie ein Thema – wenn es gegen die Russen geht, ist die Klimakrise vergessen. In der Geschwindigkeit des Umfallens sind die Grünen rekordverdächtig. Man muss nur dem ehemaligen Friedensfreund Anton Hofreiter zuhören.

Die Rüstungsindustrie hat Hochkonjunktur. Der Kurs der Rheinmetall-Aktien ist auf das Zweieinhalbfache gestiegen. Übrigens: die gleiche Firma hatte auch die russische Armee als großen und zahlungskräftigen Kunden. Das geht nun nicht mehr und deshalb klagt sie vor dem Verwaltungsgericht in Köln. Schließlich muss man doch als Unternehmen das Recht haben, überall auf der Welt Profite zu machen – sagen sie. Auch das ist Teil der werteorientierten Demokratie.

Was ist das Ziel der Waffenlieferungen? Manche sagen: Die Ukraine muss den Krieg gewinnen und die Russen aus ihrem Territorium vertreiben. Andere sind vorsichtiger und sagen, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren. Das ist alles, was man über die Kriegsziele sagt; an diesem Punkt hört das Denken auf.

Doch wir lassen uns das Denken nicht verbieten. Was geschieht, wenn sich die Russen als stärker erweisen und den ganzen Donbass erobern und vor Kiew stehen? Oder umgekehrt: Was passiert, wenn sie sich zurückziehen müssen und dann zur Atombombe oder zu anderen Massenvernichtungswaffen greifen? Darüber redet man kaum in unseren Medien. Die Gefahr ist real, wenn beispielsweise die Krim erobert werden soll – so konnte man es von Erich Vad, einem ehemaligen Brigadegeneral der Bundeswehr hören, der über lange Jahre Bundeskanzlerin Merkel beraten hat. Putin hat den Einsatz immer wieder als reale Möglichkeit bezeichnet. Und wir müssen damit rechnen, dass er damit ernst macht. Er ist schließlich kein besonders barmherziger Mensch. Denkbar ist auch, dass er chemische oder biologische Waffen einsetzt oder dass es einen riesigen Atomunfall in Saporischtschja gibt, der Tschernobyl weit in den Schatten stellt.

Was dann geschieht, weiß niemand. Kommt dann der große Schlagabtausch, bei dem von Europa, speziell von Deutschland, kaum mehr etwas übrigbleibt? Wenn man solche Fragen beantworten will, muss man immer die Interessen der beteiligten Staaten, insbesondere der Russen und der Amerikaner im Auge behalten. Die USA anzugreifen, würde einen so umfassenden Gegenschlag auslösen, dass große Teile der Welt unbewohnbar würden. Das wird also kaum geschehen. Aber wenn es nur Europa trifft? Da könnten doch einige mächtige Leute auf die Idee kommen, das sei gar nicht so schlimm, weil man dann einen Konkurrenten los wäre. Krokodilstränen würden sie in Washington weinen, wegen der zerstörten europäischen Städte und der zerstörten kulturellen Werte. In diese Situation dürfen wir niemals kommen. Wir müssen uns auf unsere eigenen Interessen besinnen.

Wir können die Geographie nicht ändern. Russland liegt nun einmal zu einem beträchtlichen Teil in Europa. Es gibt keine europäische Sicherheit ohne Russland und ohne die Ukraine. Wir haben ein vitales Interesse daran, diese Sicherheit wiederherzustellen. Man muss den andern nicht als Freund betrachten, aber man muss seine legitimen Sicherheitsinteressen respektieren.

Was sollen wir tun? Ich habe da meine eigene Vorstellung. Im Zweiten Weltkrieg sind über 25 Millionen Sowjetbürger gestorben, weil Deutschland die Sowjetunion überfallen hat. Deshalb haben deutsche Waffen für alle Zeiten dort nichts mehr zu suchen, weder in Moskau noch in Kiew. Also keine Waffenlieferungen mehr.

Aber, wird man sagen, die Ukraine ist angegriffen, klar, und deshalb ist es legitim, sie zu unterstützen. Aber Unterstützung muss nicht in der Lieferung von Waffen bestehen. Warum sollten wir nicht Ärzt:innen dorthin schicken und medizinisches Gerät? Das braucht die Ukraine dringend, weil ihr Gesundheitssystem schon vor dem Krieg sehr schlecht war und jetzt völlig am Boden liegt. Und wir können helfen, dass die Infrastruktur wieder funktioniert, die Versorgung mit Wasser, Strom und Gas, wir können helfen, dass die Bevölkerung weniger leiden muss. Wir wären solidarisch, aber wir würden niemals zur Kriegspartei. Unsere Existenz wäre nicht gefährdet. Genau das verlangt die Verfassung von unserer Regierung.

Hat irgendjemand Zweifel, dass die USA die Ukraine verteidigen? Sie werden es weiter tun, mit Waffen, aber auch mit sehr viel Geld. Sie haben erklärt, der Krieg würde Russland entscheidend schwächen. Das ist ihre eigentliche Motivation. Und solange sich in den USA die Regierung nicht ändert, wird es dabei bleiben. Ob die Deutschen mitmachen oder nicht, spielt da keine Rolle. Würden wir keine Waffen mehr liefern, wäre die Ukraine keineswegs hilflos der russischen Aggression ausgesetzt.

Allerdings gibt es in den USA auch andere Stimmen. Eine diplomatische Lösung ist das, was mit Sicherheit eines Tages kommen wird. Da sind sich alle einig. Das hat auch der US-Generalstabschef Milley gesagt. Und die Rand Corporation, die die US-Regierung berät, hat kritisiert, dass man sich bisher zu wenig um diesen Weg gekümmert hat. Es geht nur darum, wann man mit Verhandlungen beginnt.

Müssen erst noch Hunderttausende von Menschen sterben, bevor man sich an den Verhandlungstisch setzt? Es gibt immer wieder Aussagen wie etwa die des früheren israelischen Ministerpräsidenten Bennett, dass man sehr nahe bei einer Einigung war. Auch von türkischer Seite gibt es entsprechende Berichte. Es hat Abkommen gegeben über Getreidelieferungen und über den Austausch von Gefangenen. Und der Besuch des US-Präsidenten Biden in Kiew war mit den Russen abgesprochen. Es gibt sie also, die Diplomatie, man muss sie nur etwas energischer betreiben. Und es gibt Vermittler wie den brasilianischen Präsidenten Lula oder den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping.

Natürlich sind beide Seiten weit auseinander. Aber das ist bei Verhandlungen oft so. Ich erinnere mich an ein ganz simples Beispiel aus einer Metalltarifrunde in Baden-Württemberg. Franz Steinkühler hat abends um acht im Fernsehen erklärt: Eher führt man eine Kuh über ein Drahtseil, als dass man sich mit diesen Arbeitgebern einigt. Und drei Stunden später war die Einigung da.

Der diplomatische Weg ist der Einzige, der zum Ziel führt. Eine Feuerpause wäre ein entscheidender erster Schritt, weil dabei keine Seite Konzessionen machen muss. Wenn man sich jetzt an einen Tisch setzt, hört das Sterben auf beiden Seiten auf. Wenn man es erst in ein oder zwei Jahren macht, muss man mit weiteren 100, 200 oder 300 Tausend Opfern rechnen. Ich bin dafür, diese Menschenleben zu bewahren. Ein Krieg hat noch nie eine gute Lösung hervorgebracht. Weg mit dem Kriegsgeschrei! Weg mit den Waffenlieferungen! Wir sollten den Anfang machen.

Ich danke Euch.


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