Doch wir lassen uns das Denken nicht verbieten. Was geschieht, wenn sich die Russen als stärker erweisen und den ganzen Donbass erobern und vor Kiew stehen? Oder umgekehrt: Was passiert, wenn sie sich zurückziehen müssen und dann zur Atombombe oder zu anderen Massenvernichtungswaffen greifen? Darüber redet man kaum in unseren Medien. Die Gefahr ist real, wenn beispielsweise die Krim erobert werden soll – so konnte man es von Erich Vad, einem ehemaligen Brigadegeneral der Bundeswehr hören, der über lange Jahre Bundeskanzlerin Merkel beraten hat. Putin hat den Einsatz immer wieder als reale Möglichkeit bezeichnet. Und wir müssen damit rechnen, dass er damit ernst macht. Er ist schließlich kein besonders barmherziger Mensch. Denkbar ist auch, dass er chemische oder biologische Waffen einsetzt oder dass es einen riesigen Atomunfall in Saporischtschja gibt, der Tschernobyl weit in den Schatten stellt.
Was dann geschieht, weiß niemand. Kommt dann der große Schlagabtausch, bei dem von Europa, speziell von Deutschland, kaum mehr etwas übrigbleibt? Wenn man solche Fragen beantworten will, muss man immer die Interessen der beteiligten Staaten, insbesondere der Russen und der Amerikaner im Auge behalten. Die USA anzugreifen, würde einen so umfassenden Gegenschlag auslösen, dass große Teile der Welt unbewohnbar würden. Das wird also kaum geschehen. Aber wenn es nur Europa trifft? Da könnten doch einige mächtige Leute auf die Idee kommen, das sei gar nicht so schlimm, weil man dann einen Konkurrenten los wäre. Krokodilstränen würden sie in Washington weinen, wegen der zerstörten europäischen Städte und der zerstörten kulturellen Werte. In diese Situation dürfen wir niemals kommen. Wir müssen uns auf unsere eigenen Interessen besinnen.
Wir können die Geographie nicht ändern. Russland liegt nun einmal zu einem beträchtlichen Teil in Europa. Es gibt keine europäische Sicherheit ohne Russland und ohne die Ukraine. Wir haben ein vitales Interesse daran, diese Sicherheit wiederherzustellen. Man muss den andern nicht als Freund betrachten, aber man muss seine legitimen Sicherheitsinteressen respektieren.
Was sollen wir tun? Ich habe da meine eigene Vorstellung. Im Zweiten Weltkrieg sind über 25 Millionen Sowjetbürger gestorben, weil Deutschland die Sowjetunion überfallen hat. Deshalb haben deutsche Waffen für alle Zeiten dort nichts mehr zu suchen, weder in Moskau noch in Kiew. Also keine Waffenlieferungen mehr.
Aber, wird man sagen, die Ukraine ist angegriffen, klar, und deshalb ist es legitim, sie zu unterstützen. Aber Unterstützung muss nicht in der Lieferung von Waffen bestehen. Warum sollten wir nicht Ärzt:innen dorthin schicken und medizinisches Gerät? Das braucht die Ukraine dringend, weil ihr Gesundheitssystem schon vor dem Krieg sehr schlecht war und jetzt völlig am Boden liegt. Und wir können helfen, dass die Infrastruktur wieder funktioniert, die Versorgung mit Wasser, Strom und Gas, wir können helfen, dass die Bevölkerung weniger leiden muss. Wir wären solidarisch, aber wir würden niemals zur Kriegspartei. Unsere Existenz wäre nicht gefährdet. Genau das verlangt die Verfassung von unserer Regierung.
Hat irgendjemand Zweifel, dass die USA die Ukraine verteidigen? Sie werden es weiter tun, mit Waffen, aber auch mit sehr viel Geld. Sie haben erklärt, der Krieg würde Russland entscheidend schwächen. Das ist ihre eigentliche Motivation. Und solange sich in den USA die Regierung nicht ändert, wird es dabei bleiben. Ob die Deutschen mitmachen oder nicht, spielt da keine Rolle. Würden wir keine Waffen mehr liefern, wäre die Ukraine keineswegs hilflos der russischen Aggression ausgesetzt.
Allerdings gibt es in den USA auch andere Stimmen. Eine diplomatische Lösung ist das, was mit Sicherheit eines Tages kommen wird. Da sind sich alle einig. Das hat auch der US-Generalstabschef Milley gesagt. Und die Rand Corporation, die die US-Regierung berät, hat kritisiert, dass man sich bisher zu wenig um diesen Weg gekümmert hat. Es geht nur darum, wann man mit Verhandlungen beginnt.
Müssen erst noch Hunderttausende von Menschen sterben, bevor man sich an den Verhandlungstisch setzt? Es gibt immer wieder Aussagen wie etwa die des früheren israelischen Ministerpräsidenten Bennett, dass man sehr nahe bei einer Einigung war. Auch von türkischer Seite gibt es entsprechende Berichte. Es hat Abkommen gegeben über Getreidelieferungen und über den Austausch von Gefangenen. Und der Besuch des US-Präsidenten Biden in Kiew war mit den Russen abgesprochen. Es gibt sie also, die Diplomatie, man muss sie nur etwas energischer betreiben. Und es gibt Vermittler wie den brasilianischen Präsidenten Lula oder den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping.
Natürlich sind beide Seiten weit auseinander. Aber das ist bei Verhandlungen oft so. Ich erinnere mich an ein ganz simples Beispiel aus einer Metalltarifrunde in Baden-Württemberg. Franz Steinkühler hat abends um acht im Fernsehen erklärt: Eher führt man eine Kuh über ein Drahtseil, als dass man sich mit diesen Arbeitgebern einigt. Und drei Stunden später war die Einigung da.
Der diplomatische Weg ist der Einzige, der zum Ziel führt. Eine Feuerpause wäre ein entscheidender erster Schritt, weil dabei keine Seite Konzessionen machen muss. Wenn man sich jetzt an einen Tisch setzt, hört das Sterben auf beiden Seiten auf. Wenn man es erst in ein oder zwei Jahren macht, muss man mit weiteren 100, 200 oder 300 Tausend Opfern rechnen. Ich bin dafür, diese Menschenleben zu bewahren. Ein Krieg hat noch nie eine gute Lösung hervorgebracht. Weg mit dem Kriegsgeschrei! Weg mit den Waffenlieferungen! Wir sollten den Anfang machen.
Ich danke Euch.
15 Kommentare verfügbar
Thomas Rothschild
am 19.04.2023Hätten Sie verhandeln sollen?