Der Ankündigungstext des Stadtspaziergangs ist durchaus geeignet, solchen Befürchtungen Vorschub zu leisten. Darin steht etwa, dass Giese zusammen mit Reinhold Weber, dem stellvertretenden Leiter der Landeszentrale für politische Bildung, "einen ersten Versuch der Historisierung der bis heute stark emotional aufgeladenen Ereignisse" unternehmen wolle. Sprechen Historiker von "Historisierung", geht es tendenziell darum, ein Ereignis nicht mehr als Gegenstand des Zeitgeschehens zu betrachten, sondern mit größerem Abstand und es, so das Ziel, neutraler einzuordnen. Bedingung ist dabei, dass die Ereignisse und gesellschaftlichen Vorgänge, um die es geht, nicht mehr virulent, nicht mehr Gegenstand von Debatten sind, dass die Quellenlage sich nicht mehr groß ändert, dass die Protagonisten und Zeitzeugen entweder nicht mehr in ihren früheren Funktionen oder nicht mehr am Leben sind. Im Falle des Schwarzen Donnerstags trifft nichts davon zu, und eigentlich reicht es schon, sich vor Augen zu führen, dass in der Geschichtswissenschaft momentan diskutiert wird, ob die 68er-Bewegung allmählich historisiert werden könne.
Das Thema ist noch lange nicht gegessen
Das Wort "Historisierung" fällt denn auch nie während des Spaziergangs, zu klar wird immer wieder, dass es dafür noch zu früh ist, zu klar wird schon an den Diskussionen vorab, dass das Thema noch ziemlich virulent ist in der Stadtgesellschaft. Manches könne man erst sagen, wenn die Archive alle geöffnet seien, sagt Weber einmal, oder, dass man die beteiligten Politiker und Zeitzeugen befragen müsse. Geschichte, die noch qualmt eben, wie der stellvertretende LpB-Leiter selbst sagt.
Die beiden Historiker versuchen sich dennoch an einer Art Rekonstruktion der Ereignisse. Webers Part ist es, die Ereignisse in historische Linien einzuordnen, Giese fungiert als zuspitzender Stichwortgeber. Angesichts des breiten Protests gegen Stuttgart 21 sei es Ende September 2010 doch eigentlich "die blödeste Idee, in so einer Situation die Bäume zu fällen", sagt Giese etwa. Woher sei diese Entschlossenheit der Regierung des damaligen CDU-Ministerpräsidenten Stefan Mappus gekommen, "ist das eine Dummheit?"
So etwas kann (und will vielleicht) Weber nicht beantworten, stellt stattdessen den Schwarzen Donnerstag in die Protestgeschichte von Bund und Land. Frappierend für ihn ist dabei immer wieder der Bruch mit Kontinuitäten, mit der politischen Kultur. Dieser Tag im September 2010 sei "wie aus der Zeit gefallen", eine überraschende Wendung. "Wir sehen im Jahr 2010 Szenen, die wir eigentlich aus den 1980er Jahren kennen", sagt Weber. Szenen, die erinnern an die Proteste in Wackersdorf, Brokdorf, um die Startbahn West in Frankfurt, die Teststrecke Boxberg, "wo Gewalt immer wieder eskaliert" ist. Diese Phase sei eigentlich Ende der Achtziger, mit der Wiedervereinigung, beendet gewesen, in diesem Jahrzehnt "ist das grundsätzliche Verhältnis von staatlichem Gewaltmonopol und bürgerschaftlichem Engagement neu verhandelt worden", sagt Weber. Danach habe es solche Szenen erst einmal nicht mehr gegeben.
Noch größer ist für Weber dieser Kontinuitätsbruch für den württembergischen Landesteil – nicht Baden, das nimmt er ausdrücklich aus. Aber nach dem Krieg sei der einzige Polizeieinsatz mit Wasserwerfern 1968 in Esslingen erfolgt, gegen die Blockade der Druckerei Bechtle, wo DemonstrantInnen die Auslieferung der "Bild"-Zeitung verhindern wollten.
Eine Region der eher milden politischen Gegensätze sei Württemberg schon davor gewesen. Auch in der Weimarer Zeit und dem Kaiserreich habe es hier weniger Gewalt als in anderen deutschen Staaten gegeben, und diese politische Kultur lasse sich historisch mehrere Jahrhunderte weit zurückverfolgen – weil die regionalen Machthaber, ob Herzöge oder Könige, über relativ wenige Machtmittel verfügten. "Wenn Sie als Herrscher ein kleines Land regieren, mit relativ wenig Reichtum und damit auch wenig Militär, dann bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Konflikte mit den Untertanen auszuhandeln – weil sie sich nicht machtpolitisch durchsetzen können. Anders als etwa in Preußen", erzählt Weber.
Es sind die sehr weiten historischen Linien, die Weber nachzeichnet, er ergänzt noch eine kurze Geschichte der modernen Protestformen wie Sitzblockaden, die sich in den 1960er Jahren in den USA etabliert hätten. All dies ist hochinteressant und klingt oft bestechend schlüssig. Und lässt doch so vieles offen.
Robuste Einsätze
Schon der vermeintliche Kontinuitätsbruch, die angeblich sanfteren politischen Konfrontationen in den Neunziger- und Nuller-Jahren, bedürfen einiger einschränkender Fußnoten. Sowohl bei diversen Protesten gegen Castor-Transporte ging die Polizei bundesweit oft so robust vor wie in den Jahrzehnten zuvor, und auch 2007 bei den Protesten gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm – wo ein Demonstrant durch den Einsatz eines Wasserwerfers auf einem Auge erblindete, ein Fall, dessen juristische Aufarbeitung oft in Zusammenhang mit dem 30. September thematisiert wurde. Auch in Württemberg und Stuttgart wurde in der Vergangenheit nicht nur konsensorientiert auf Proteste reagiert. Wenn etwa Antifa-Gruppen zu Demonstrationen gegen Rechts mobilisierten, verhielt sich die Polizei nicht immer friedlich, und die Räumung des Jugendhauses OBW9 in Stuttgart-Degerloch im Jahr 2005 durch 150 Beamte inklusive SEK erinnerte manche Bobachter gar an die Zeit der Studentenproteste. Mit dem Unterschied, dass die Protestierenden damals nicht unbedingt dem gesellschaftlichen Mainstream zuzuordnende Gruppen waren, im Gegensatz zur breiten Basis des S-21-Protests.
6 Kommentare verfügbar
peter lenk
am 09.10.2021Dass ausgerechnet der Denkmalstürmer Giese hier unverfroren Gedenkreden zum Schwarzen Donnerstag schwingt, um die Erinnerung daran abschließend zu beerdigen, ist schon lächerlich.
Noch lächerlicher ist es aber, dass es bis heute offenbar keine technische Lösung für das…