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Reisen in die USA

Die Sehnsucht stirbt zuletzt

Reisen in die USA: Die Sehnsucht stirbt zuletzt
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Donald Trump hat mehr Hass entfesselt als jeder andere amerikanische Politiker. Aufgehen konnte diese Saat, weil die USA nicht das Traumland sind, das vielen im Kopf herumspukt. Bei den Reisen baden-württembergischer PolitikerInnen wird das Zerrbild deutlich.

Simon und Garfunkel im Central Park, die Mondlandung, der Marshall-Plan, Michael Jackson, Bonanza, die Skyline, Fastfood und Upton Sinclair: Endlos sind die Bilder, die Klischees, die Ohrwürmer, die wir mit uns herumschleppen über das Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten. Und viel zu vieles davon ist viel zu positiv besetzt. Als sich in Amsterdam, in München-Giesing oder in der Stuttgarter Königstraße Verpackungsmüllberge vor diesen neuen Imbissläden mit dem gelben M auf rotem Grund türmten, rieben sich gewöhnliche Mittel- und WesteuropäerInnen die Augen. Aber nur kurz und folgenlos, weil es einfach richtig sein musste, was kam aus God's own country.

Falsch. An einem denkwürdigen Sonntagabend im Februar 1985 wollte eine aufgekratzte kleine Truppe, angeführt von Lothar Späth, mit einem Spaziergang durch Georgetown feiern, dass erstmals eine offizielle Delegation aus Baden-Württemberg in Washington, D.C. empfangen werden sollte. Die Idee, sich die Beine in der Neuen Welt zu vertreten, ließ Botschaftsmitarbeiter die Augen rollen, der Hotelmanager wurde deutlicher und bat die Gäste, sich nicht mehr als zwei oder drei Blocks wegzubewegen, weil nur die engere Umgebung sicher und die Kriminalitätsrate in der Bundeshauptstadt so hoch sei wie nirgends sonst im Land.

Wer ein Gebiss braucht, kauft sich halt eins

Die unmissverständliche Botschaft lautete: Amerikas Wirklichkeit passt nicht zur erträumten Hochglanz-Sehnsuchtswelt, die es nie gab und nie geben wird. Schnell sortierten sich viele (Vor-)Urteile, was zu deren Ausrottung aber kaum beitragen konnte und bis heute nicht kann. Allen voran der naive Glaube von den Aufstiegschancen für beinahe alle. Millionen Tellerwäscher – inzwischen: working poor – blieben ihr ganzes Leben Tellerwäscher, das Image des Landes prägten aber nicht sie, sondern die Legende vom Aufstieg der wenigen Self-Made-Millionäre.

Wer wollte ihn nicht sehen, den neuen Tower, 721 bis 725 Fifth Avenue? Die Stadtführerin erzählte die unschöne Geschichte, wonach der Erbauer und Namensgeber sich eines von der Mafia gesteuerten Kartells bediente, um den Bau zu beschleunigen und Streiks zu entgehen. Ein paar Mitglieder der polyglotten Besuchergruppe aus dem unaussprechlichen Bindestrichland im deutschen Südwesten wiegten bedächtig das Haupt, um sich dann doch wieder der Begeisterung über den Indoor-Wasserfall, das Atrium und den rosa Marmor hinzugeben.

Keine zehn Blocks weiter südwärts traf ein paar Jahre später eine von Günther Oettinger, damals Chef der CDU-Landtagsfraktion, angeführte Delegation Kurt Viermetz, den gebürtigen Augsburger und Vice Chairmann im Boards of Directors der J. P. Morgan Gruppe. Überhaupt empfangen zu werden, war eine große Ehre, die Botschaft in der Tonlage "Geld regiert die Welt". Und wer sich einfügt und abfindet, kann selbst auf niedrigem Niveau gut leben. Jedenfalls so gut, dass die versponnenen Ideen von First Lady Hillary Clinton bezüglich einer Krankenversicherung für Millionen Nichtversicherte restlos überflüssig sind, weil sie quer stünden zur amerikanischen Mentalität. Wer ein Gebiss braucht, kauft sich halt eins. Und wenn ihm das Geld fehlt? O-Ton Viermetz: "Der eifert denen nach, die sich eines kaufen können."

Die Gebissgeschichte ist nicht lustig, zieht aber sehr weite Kreise. Hillary Clinton saß damals der Task Force of National Health Care Reform vor. Alle Vorschläge, außer einer Nothilfe für gut sieben Millionen Kinder, haben sehr mächtige interessierte Kreise bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt: Investoren wollten Häuser bauen, MaklerInnen dieselben verkaufen, Banken Kredite geben. Eigentum zu bilden sollte entspannen auf dem weiteren Lebensweg. Als 2008 die Investmentbank Lehman Brothers kollabierte, platzte die Blase, Erinnerungen an den fatalen Börsencrash von 1929 wurden wach.

In der Not hilft auch ein Revolver

Zwei Mal in nur einem Jahrhundert werden Millionen kleiner Leute mit der unerfüllbaren Hoffnung auf ewigen Wohlstand gelockt – und enden in bitterster Armut. Dazu passt bestens dieses Treffen des Sozialausschusses im baden-württembergischen Landtag mit einem Verwalter staatlicher Pensionsfonds. Damit an der Börse zu spekulieren, wurde als Selbstverständlichkeit dargestellt: Nur so, hieß es, ist eine höhere Rendite zu erzielen. Als Franz Wieser, der CDU-Abgeordnete aus Bretten, ungläubig nachfragt, was bei dramatischen Verlusten passieren würde, zieht der Gastgeber einen Revolver aus der Schublade – der sei dann der einzige Ausweg für ihn.

Besonders aufschlussreich sind Fahrten über Land, auch mit dem Reisedienst der SPD. Für das Mittagessen in der heruntergekommenen Tankstelle an wackeligen Tischen mit der Aussicht auf Autowracks entschuldigt sich die Reiseleitung wortreich. Die Stimmung bleibt aber mies. Dann kommt Wasser in Krügen aus verdächtig mattem Glas. Die Reaktion einer schlagfertigen Wienerin auf den überstarken Chlorgeruch findet Eingang in das kleine rote Tagebuch, das sich die bunte Reisegruppe zu führen ausgedacht hatte: "Daheim würde ich darin nicht einmal schwimmen." Genauso wie das Foto des Türschilds an einer kleinen französischen Boutique in Montpelier/Vermont: "Amerika ist die Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz ohne Umweg über die Kultur." Das Zitat, zugeschrieben Georges Clémenceau, kann leider aber nur kurz diskutiert werden, dann muss es einfach verblassen gegenüber dem unvergesslichen Farbenspiel des Indian Summer.

Auf privaten wie beruflichen Reisen landen die Gespräche regelmäßig bei den Schattenseiten des in so vielerlei Hinsicht erstaunlichen Landes. Bei den Gründungsfehlern der Nation: Mehr Sklavenbesitz bedeutete im 18. Jahrhundert mehr Wahlmänner. Gesprochen wird über die Gräuel der Eroberungsfeldzüge gegen die Eingeborenen, den Bürgerkrieg, die Prohibition, die Kommunistenverfolgung. Oder darüber, wie die vielgerühmte Freundlichkeit an der Tanke und im Supermarkt, im Deli oder im Museum mit für Hire-und-Fire steht und Lächeln eben zum Geschäft gehört für alle, die ihren Job zum Überleben brauchen. Oder über das selektive, einer Demokratie unwürdige Wahlrecht, über die in Westeuropa unvorstellbar hohe Säuglingssterblichkeit, die riesigen überfüllten Gefängnisse – pro 100.000 Einwohner sitzen fast 700 Menschen ein, in Deutschland sind es 70 –, die seit Generationen extrem unterfinanzierten öffentlichen Schulen, das vorwiegend aus Löchern bestehende soziale Netz.

Auch Winfried Kretschmann spürte den "Schpirit"

Aber immer und immer wieder macht diese unausrottbare Sehnsucht aus Negativem eine Mücke, weil das nicht bestehen kann gegen die Straßenschluchten von Manhattan, das MOMA und die Everglades, das National Air and Space Museum, die Sterne auf dem Walk of Fame oder die nebelumspielte Golden Gate. Apropos Kalifornien: Die Studierenden (Deutsch und Neue Geschichte), die den Wissenschaftsausschuss des Landtags von Baden-Württemberg ein paar Jahre vor dem Fall der Mauer zur politischen Debatte eingeladen hatten, wollten am Ende wissen, ob die Abgeordneten eigentlich aus West- oder aus Ostdeutschland kämen?

Viele Landtagsausschüsse, alle Ministerpräsidenten seit 1985, seit der denkwürdigen Späth-Reise samt Besuch im White House, alle Wirtschafts- und WissenschaftsministerInnen hatten den Drang in die USA. Sie alle verstanden sich vornehmlich als Türöffner für heimische Unternehmen und Unis, auf der Suche nach neuen Geschäftsfeldern und renommierten Partnern. Selbst Winfried Kretschmann rühmte im Silicon Valley den "Schpirit", als längst offenkundig war, wie viele Beschwernisse die Erfindungen, für die die Garage in Palo Alto steht, gerade über westliche Demokratien bringen. Einmal, im weltberühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, wurden Erwin Teufel und Wissenschaftsminister Klaus von Trotha von ProfessorInnen gebeten, eine dringende Botschaft mitzunehmen auf die andere Seite des Atlantiks: Keinesfalls den Fehler von der Umstellung des universitären Systems auf Bachelor und Master nachzumachen, weil die nur zu Niveauverlust führe. Daheim haben Erkenntnisse wie diese eine Halbwertzeit von weniger als einem Monat, dann wird Amerika wieder als Vorbild gepriesen.

Einen Einschnitt gibt's dann irgendwann doch. Hiesigen UnternehmerInnen, kleineren, mittelständischen und ganz großen, war die Einreise nach 9/11 und den damit selbst für befreundete Staaten verbundenen scharfen Restriktionen zu aufwändig und damit zu teuer. Niederlassungen wurden nach Kanada in den Großraum Toronto verlegt. Wieder einmal war ein Landtagsausschuss unterwegs, diesmal der für Finanzen. Wieder wurden zahllose Informationen gesammelt, etwa zur Arbeit eines Rechnungshofs, der, anders als bei uns, gegen staatliche Investitionen sein Veto einlegen kann, zu Fracking und Schulsystem. Aber selbst die interessantesten Zahlen, Daten und Fakten wurden getoppt – von der Bootsfahrt zu den Niagara-Fällen. Noch viel toller, sagten die, die zum ersten Mal da waren, als in all ihren Vorstellungen.


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1 Kommentar verfügbar

  • Jörg Tauss
    am 11.11.2020
    Antworten
    Na, na..... Nachdem der offensichtlich Irre irgendwann wohl doch das Weiße Haus verlässt wird wieder alles gut.... Dann könnten die Wallfahrten wieder losgehen... Der Impfstoff wird‘s zusätzlich richten.

    Und vielleicht geht Kretschmanns und Fritze Kuhns Herzenswunsch dann doch noch in…
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