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Heidelberg, das Integrationswunder

Heidelberg, das Integrationswunder
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In der Hauptstadt der Romantik tobt ein Streit, wo das neue Ankunftszentrum für Flüchtlinge hin soll. Nach einem Wendemanöver der Grünen könnte es auf einem Gelände landen, das der Reiterverein nicht einmal seinen Pferden zumuten wollte.

Als die US-Army 2009 im Rahmen neuer militärstrategischer Konzepte definitiv kundtat, ihr Personal aus Heidelberg abzuziehen, war das Jammern in der Stadt groß. Man barmte um den amerikanischen Tourismus in die Stadt, um Hunderte von amerikanischen Soldaten und Offizieren in den verschiedenen Stadtteilen und im Umland, die vor allem als solvente Mieter den Hausbesitzern und Vermietern satte Renditen verschafften und die Mieten hochhielten. Bei Bekanntwerden der Abzugspläne der US-Army waren Oberbürgermeister Würzner und Kollegen noch im gleichen Jahr flugs nach Washington gereist, um die Amerikaner inständig zu bewegen, doch bitteschön in Heidelberg zu bleiben. Vergebens.

180 Hektar Konversionsflächen standen nun insgesamt zur Verfügung, für Heidelberg "eine Jahrhundertchance" – wie es der Stadtverwaltung mit einiger Verspätung dämmerte. Die ehemaligen US-Flächen waren dann aber schnell verplant: beispielsweise für Wohnquartiere im weiteren Innenstadtbereich, für Kultur- und Gewerbeeinrichtungen, für eine Internationale Bauausstellung, etwa auch für eine 5.000 Menschen fassende Sport- und Mehrzweckhalle oder einen "Sino German Hi Tech Park", ein deutsch-chinesisches Innovationszentrum als "Gateway to China", wahrscheinlich aber eher ein "Gateway to Germany from China". Vielleicht liegt die Hauptstadt der Romantik ja bald an der Seidenstraße.

Hoffnung auf die Zukunftsstadt

Pläne zu einem "Gateway" für Menschen auf der Flucht standen jedoch nie, zumindest nicht am Anfang, im Zentrum der Planungen, obwohl die Stadt öffentlich bekundet hatte, nicht nur Flüchtlinge aufzunehmen, sondern auch ein "Ankunftszentrum für Flüchtlinge" bereitzustellen – wofür es anfangs noch genug freie Flächen gab. Dann fand sich aber erst einmal eine provisorische Lösung auf den am Stadtrand liegenden Flächen des Patrick-Henry-Villages (PHV), einer ehemaligen "gated community" der US-Militärs. Zwar etwas weit vom Stadtzentrum entfernt, dafür aber sofort zu nutzen, mit einigermaßen intaktem Immobilienbestand und vor allem der Option auf eine komplette Infrastruktur. Ein Areal mit fast 100 Hektar auf der grünen Wiese – aber auch wie geschaffen für eine Art Laborversuch zum Thema Städteplanung. Und ein prächtiges Objekt für Investoren.

So legte die Internationale Bauausstellung Heidelberg (IBA) 2012 ein Konzept unter dem Titel "Wissen schafft Stadt" vor, das neben vielen Einzelprojekten ab 2016 vor allem auf die Neuentwicklung des PHV fokussiert war. Unter der konzeptionellen Leitung des IBA-Direktors Michael Braum wird eine "Zukunftsstadt" geplant, die bei 10.000 Einwohnern 5.000 Arbeitsplätze in "innovativen" Bereichen beherbergen soll. Optimal für die "Boomtown" Heidelberg, so die Hoffnung der Stadtverwaltung. In diesem Modell einer modernen Zukunftsstadt ist allerdings ein Ankunftszentrum für Flüchtlinge nicht vorgesehen, obwohl die Flüchtlingszahlen gerade 2015/2016 in die Höhe schnellten.

Und darum geht jetzt der Streit. Am 18. Juni soll der Gemeinderat entscheiden, wohin mit dem Ankunftszentrum. Sah es noch vor Monaten so aus, dass die Mehrheit für einen Verbleib im PHV votierte, änderten die Grünen (16 von 48 Mandate) plötzlich ihre Meinung und brachen damit ein Wahlversprechen aus dem Kommunalwahlkampf 2019. Jetzt will man – wie etwa die CDU – die Flüchtlinge in einem neu zu errichtenden Zentrum auf einer ebenfalls außerhalb liegenden landwirtschaftlichen Fläche namens Wolfsgärten unterbringen: zwischen Autobahnen und Eisenbahnlinie. Migranten sozusagen an der Wegscheide. Selbst der Wieblinger Reiterverein, der vor Jahren dorthin verortet werden sollte, lehnte damals mit der Begründung ab, das Gelände sei für seine "Pferde ungeeignet" und die "Anbindung für Jugendliche höchst bedenklich".

Machtkonstellationen

Was also hat die Grünen dazu bewogen, ihre früheren Positionen zu räumen und sich für ein Ankunftszentrum auf einem Acker am Rande der Stadt zu entscheiden? Die Antworten hierzu sind nicht besonders befriedigend, zu viel ist die Rede in der modernen Sprache des aufgeklärten und gutgemeinten Common Sense: nachhaltig muss alles sein, qualitätsvoll, zeitgemäß, innovativ, sorgsam, ökologisch, natürlich sicher für die Flüchtlinge und so weiter eben. Gewiss: Da gibt es bauliche Vorschriften, etwa einen hohen "blickdichten Zaun", der das Ankunftszentrum, sollte es im PHV verbleiben, zu einem "Solitär" machen würde, den man nicht in "einen lebendigen Stadtteil integrieren" könne. Deshalb: die Planungen für eine "Stadt der Zukunft", das IBA-Heidelberg-Projekt auf dem Patrick-Henry-Village, dürften nicht eingeengt werden, ein Ankunftszentrum passe da einfach nicht hin. Die Wolfsgärten seien auch nicht optimal, aber immer noch die "beste aller schlechten Lösungen".

Ähnlich argumentiert IBA-Direktor Michael Braum, der vor allem darauf aus ist, sein Zukunftsprojekt im Gewühl der Heidelberger Machtverhältnisse zu retten. Auch er reibt sich an dem störenden Zaun ("Zäune sind nicht auf Integration angelegt"), aber von ihm sind auch Sätze zu hören, die aufhorchen lassen. Seit er in Heidelberg ist, habe er festgestellt, dass "Stadtgesellschaft und Bürgerschaft ziemlich selbstzufrieden", ja "satt" seien, wenig aufgeschlossen gegenüber Innovationen. Er sei durchaus dafür, dass "Standorte auch wehtun müssen", nur eben nicht in Form eines hermetischen Ankunftszentrums; er habe kein Problem damit, wenn künftig in seiner Zukunftsstadt mit eingeplanten 10.000 Einwohnern 2.000 Geflüchtete leben würden, doch dann als Bürger und nicht als Ankommende . Aber, für ihn "würde eine Welt zusammenbrechen", wenn sein IBA-Projekt scheitern würde: "In dem Moment, wo das verhindert wird, bin ich ratlos, was wir der Welt zeigen wollen."

Der parteilose Baubürgermeister Jürgen Odszuck präsentiert eine pragmatische Sicht der Dinge. Vermutungen, die Stadtverwaltung würde die ein oder andere Alternative zum Ankunftszentrum klammheimlich befördern, weist er weit von sich: "Wir als Verwaltung führen die Beschlüsse der politischen Gremien und Mehrheiten aus. Mehr ist da nicht." Allerdings: Sollte der Gemeinderat entscheiden, das Ankunftszentrum auf dem PHV zu belassen, "dann ist natürlich das IBA-Projekt Zukunftsstadt in der geplanten Weise nicht zu realisieren". Wie es weitergeht, müsse man dann sehen.

Wenn die Grünen, die seit ihrem kommunalen Wahlerfolg von 2019 knapp ein Drittel aller Gemeinderatsmandate innehaben und vor Kraft kaum laufen können, bei ihrer gewendeten Position bleiben, bilden sie zusammen mit CDU, FDP, Freien Wählern und anderen kleinen Gruppierungen inklusive wahrscheinlich der AfD eine schwer zu brechende Mehrheit. Ein weiterer Schritt in die bürgerliche Mitte. Aber, so hört man, es gibt Dissidenten in manchen Fraktionen, auch bei den Grünen. Und die Landtagsgrünen, so der Parlamentarische Geschäftsführer Hans-Ulrich Sckerl, favorisieren bislang eindeutig das PHV: "Das ist unsere klare Wunschoption" und: "Der neue Standort soll in das Stadtleben integrierbar sein", "die Entscheidung liegt aber bei der Stadt".

Die will auch Innenminister Thomas Strobl (CDU) akzeptieren, wenn er auch neuerdings in einem Schreiben an die Heidelberger Stadtverwaltung wenig Begeisterung für die Lösung Wolfsgärten zeigt, weil dort die vom Land angepeilte Kapazität von 3.000 Plätzen für Flüchtlinge nicht möglich ist. Gerade hat er die Zusage des Landes für die Finanzierung der Wolfsgärten-Lösung aber noch einmal bekräftigt.

Außerparlamentarische Opposition

Für den Verbleib des Ankunftszentrums im PHV haben sich bisher unter anderem SPD, Linke, die Grün-Alternative Liste (GAL) und Bunte Linke ausgesprochen. Sie bekommen jetzt Verstärkung durch die neugegründete Initiative "Bündnis für Ankunftszentrum, Flüchtlinge und Flächenerhalt – PHV" (BAFF-PHV). Darin versammelt: der Heidelberger Asylarbeitskreis, der NABU-AK-Umweltpolitik und mehrere Heidelberger Bürger, wie etwa der im Ankunftszentrum tätige Arzt Karl Völker, ein Mitglied der Grünen.  Sie charakterisieren die Wolfsgärten-Lösung als eine "unmenschliche Zumutung" und haben ein Positionspapier vorgelegt, das in vielen Punkten kompetent die Argumente der Gegenseite zerpflückt. Etwa die von der IBA als Bedingung vorgeschriebene Bewohnerzahl der künftigen Zukunftsstadt von 10.000 Menschen, oder die angebliche Standorteignung des Wolfsgärten-Ackers, oder das Argument der "hohen Sicherheitsbedingungen".

Diese Gruppe BAFF-PHV zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie auch aus der täglichen Praxis im Umgang mit Flüchtlingen argumentieren kann. Darüber hinaus wird hier einer Frage nachgegangen, die man anderswo nicht hört, nämlich warum es eigentlich nicht möglich sein sollte, in der ehemaligen amerikanischen Trabantenstadt Patrick-Henry-Village mit Mut und Kreativität eine soziale und bauliche Struktur zu implantieren, in der Flüchtlinge auch ihren Platz haben. Hier soll ein Ankunftszentrum nicht einfach ein Durchgangslager sein, wie etwa für die Grünen, sondern für die Flüchtlinge ein erster Lebens- und Erfahrungsort: "Die unmittelbare Nähe von Bewohnern und Kontakten sind der beste Schutz für Flüchtlinge und auch besser geeignet zur Bewältigung krisen- und fluchtbedingter Traumata."

Diese Initiative scheint auch als einzige erkannt zu haben, dass die Migration ein Hauptthema in den nächsten Jahrzehnten sein und bleiben wird, mit immensen Auswirkungen auf die politische Landschaft – und dass mit simplen und kurzgedachten Zwischenlösungen nichts gewonnen ist. Die BAFF-PHV moniert, dass die Option, auf dem Patrick-Henry-Village zu bleiben, nie wirklich in irgendwelche Planungen eingeflossen ist, und fasst ein Bürgerbegehren ins Auge. Eine Petition zur Ablehnung der Pläne für die Wolfsgärten ist seit einiger Zeit im Netz.

Integration und Ankunftsstadt

In seinem Buch "Arrival City" über die Ankunftsstädte der weltweiten Migration beschreibt der kanadische Autor Doug Sanders ein Problem des Westens: "Wir verstehen diese Migration nicht, weil wir nicht wissen, wie wir sie zu betrachten haben. Wir wissen nicht, wo wir nachsehen sollen. Wir haben keinen Ort und keinen Namen für den Bereich, der für unsere neue Welt steht." Auch in Heidelberg, dieser internationalen Studenten- und Wissenschaftsstadt, ist dieses Unverständnis der Migration bei nicht wenigen zu finden und nicht überraschenderweise auch bei den Grünen, die sich ansonsten doch – außer natürlich Rebell Boris Palmer – so migrantenfreundlich geben. Stichwort: Integration.

Dieser schillernde Begriff, mit dem so ziemlich alle hantieren, scheint in Heidelberg ein einfältiges Dasein zu fristen. Er ist besonders dort zuhause, wo man sich um den Zusammenhalt der Gemeinschaft sorgt, etwa im Heidelberger Gemeinderat. So hat die stellvertretende Fraktionschefin der Grünen dort, Luitgard Nipp-Stolzenburg, ehemalige Chefin der Heidelberger Volkshochschule und promovierte Historikerin, bezüglich des Ankunftszentrums eine erstaunliche Erkenntnis verbreitet: "Es geht bei einem Ankunftszentrum nicht um Integration. Das ist nur eine erste Anlaufstelle" – erst wenn Flüchtlinge anerkannt seien, beginne die Integration.

Diese These ist kompletter Mumpitz und wird hoffentlich nicht an der Volkshochschule gelehrt. Sie findet sich aber nichtsdestoweniger als theoretische und argumentative Unterfütterung bei all jenen, die den Verbleib des Ankunftszentrums in der künftigen "Stadt der Zukunft" mit vielen scheinbar wohlmeinenden und rationalen Argumenten ablehnen. Heidelbergs Baubürgermeister Jürgen Odszuck spricht so, IBA-Direktor Michael Braum, vielleicht mit Einschränkungen, ebenso und viele andere in der lokalpolitischen Diskussion. Dass Integration kein definierter, "fixierter" Zustand ist, sondern ein stetiger, immer auch widerstreitender Prozess; dass Integration, wenn schon, genau in jener Sekunde und an jenem Ort beginnt (oder eben nicht), wenn der/die Fremde unser Land betritt, das muss immer wieder betont werden, davon zeugt auch die ganze migrantische Literatur. In "diesen städtischen Übergangsräumen", so Doug Saunders in "Arrival City", werden "am ehesten dauerhafte und unumkehrbare Wirkungen" erzielt.

Dass die Integration neuer städtischer Quartiere auch in Heidelberg möglich ist, demonstrieren die Stadt-Verwalter fast täglich mit ihrem neuen und immer wieder selbst bejubelten Stadtteil Bahnstadt – mit viel Geld. Denn die Bahnstadt ist, wenn man so will, ebenso eine Art Ankunftszentrum: allerdings ohne Zäune und hauptsächlich für die besseren Stände mit Familien und Kindern aus dem akademischen Milieu gedacht. Klassische Grünen-Klientel. Mit einem städtischen Defizit von mehr als 40 Millionen Euro wird hier Integration vom Feinsten praktiziert. Boomtown eben.


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6 Kommentare verfügbar

  • Gerd Guntermann
    am 20.12.2020
    Antworten
    ...Danke, Mario, für Deinen hintergründigen Text.
    Nicht zu vergessen der ökologisch-agrarische Aspekt: ein Boden mit höchster Wertigkeit für die Landwirtschaft soll hier versiegelt, trotz Klimakrise der wesentliche Teil einer Frischluftschneise überbaut werden. Dass auch dieser Aspekt von den…
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