"Was nördlich des Bahnhofs an der Heilbronner Straße entstanden ist, ist eine Blamage", schreibt Stuttgarts grüner Oberbürgermeister Fritz Kuhn <link http: fritz-kuhn-ins-rathaus.de baukultur _top>auf seiner Homepage über die größte Konversionsfläche der Schwabenmetropole, das Europaviertel. Bis in die 1980er-Jahre befand sich dort der zentrale Güter- und Rangierbahnhof für die Versorgung der Stuttgarter Innenstadt. Jetzt wird das 16 Hektar große Areal zum neuen Innenstadtquartier umgebaggert und zubetoniert. "Von den Neubauten im Gerberviertel und am Österreichischen Platz sind wiederum Orgien in Stein zu befürchten. Es gibt zu viele seelenlose Büroprojekte von Großinvestoren." Kuhn hat die Probleme der Stadt erkannt und versucht dagegen anzugehen. Er möchte etwa den Autoverkehr im Talkessel um 20 Prozent reduzieren. Und er will der Stadt wieder ein Gesicht geben, mit neuer Architektur auch Lebensqualität verbauen. "Wir haben einen Bedarf von 200 bis 300 sozial geförderten Wohnungen pro Jahr", so Kuhn weiter. "Wenn nur noch unbezahlbare Luxuswohnungen gebaut werden, dann werden ganz normale Familien und Geringverdiener aus Stuttgart rausgedrängt." Sein Vorgänger Wolfgang Schuster hatte Zeit seines Amtes laufend neue Großprojekte aus dem Hut gezaubert. Als die aufgebrachte Bürgerschaft ihn zu sprechen wünschte, flog er lieber zur Immobilienmesse nach Cannes.
Das Europaviertel nördlich des Bahnhofs, irreführenderweise immer als "Planquadrat A 1" des Mammutprojekts Stuttgart 21 verkauft, obwohl der alte Güterbahnhof auch unabhängig von der Neuordnung des Bahnknotens aufgelassen wurde, ist ein Musterbeispiel dafür, wie Städtebau heute funktioniert – oder besser: wie er nicht funktionieren sollte. In dem Quartier eröffnet im kommenden Oktober das Milaneo: die größte Shoppingmall Baden-Württembergs, betrieben vom Marktführer, der Einkaufscenter-Entwicklungsgesellschaft ECE. In Zahlen: 43 000 Quadratmeter, gleich mehr als sechs Fußballfelder, Verkaufsfläche für rund 200 Shops zuzüglich Flächen für Gastronomie und Dienstleistungen. Platz findet sich im Milaneo-Komplex für Büros mit zusammen 7400 Quadratmetern, plus rund 415 Wohnungen, ein Hotel mit 165 Zimmern sowie 1680 Autos in der Tiefgarage. Investiert haben ein Konsortium aus ECE, Bayrischer Hausbau, Strabag Real Estate und Hamburg Trust dafür rund 550 Millionen Euro.
Doch damit nicht genug: An der gegenüberliegenden Seite der Stuttgarter Innenstadt eröffnet zur gleichen Zeit eine weitere "Orgie in Stein": das "Gerber", mit 85 Läden auf 25 000 Quadratmeter Verkaufsfläche die zweitgrößte Mall der Stadt, die Kuhn auf seiner Homepage anspricht. In dieses Stadtquartier, das ebenfalls Wohnungen und Büros bietet, investieren die Württembergische Lebensversicherungs AG und der Projektentwickler Phoenix 250 Millionen Euro. Beide Projekte sind der Höhepunkt eines Baubooms, in dessen Verlauf rund fünfzehn weitere Baublöcke in der Innenstadt in den vergangenen zwei Jahrzehnten komplett abgerissen und neu bebaut oder "revitalisiert" wurden.
Nicht jedes Carrée zahlt sich aus
Revitalisiert heißt keineswegs, dass in den neuen Quartieren das Leben pulsiert: Das Zeppelin-Carrée, mit dem 1995 alles anfing, war für die Deutsche Gesellschaft für Immobilienfonds (DEGI) ein Riesenverlust und steht bis heute teilweise leer. Aber die Allianz, die den Fonds aufgelegt hat, hat in der Finanzkrise 2008 ihre Schäfchen ins Trockene gebracht und die DEGI nach Schottland verkauft. Bis heute prozessieren die Anleger. Ein weiteres Negativbeispiel sind die Königsbau-Passagen am Stuttgarter Schlossplatz. Für das Hamburger Nobel-Einrichtungshaus Stilwerk wurde das gesamte Carrée hinter dem Königsbau, mitten im Stadtzentrum, abgerissen, auch die frisch renovierte Hauptpost. Doch schon nach drei Jahren zogen aus den beiden oberen Etagen die ersten Geschäfte aus. Zwischenzeitlich übernahm ECE, offenbar ohne Erfolg. Die Königsbau-Passagen bleiben ein Problemfall.
Zwischen den drei Quartieren bestehen einige Querbeziehungen. Als die damalige SüdwestLB 1994 aus dem Zeppelin-Carrée in die heutige LBBW-Zentrale am früheren Güterbahnhof zog, wurde nicht nur das Projekt Stuttgart 21 aus der Taufe gehoben, das die Bank zum Portal des neuen Stadtzentrums machen sollte. Es begann auch, wie in einem Dominospiel, der großflächige Umbau der Innenstadt. Doch das A-1-Areal hinter der neuen Bank blieb noch für ein Jahrzehnt Brachland. Bagger und Baukräne rückten erst an, als der neue Stadtbibliotheks-Würfel stand, von dem Kuhn meint: "Auf jeden Fall steht er an einer völlig falschen Stelle." Es hätte andere Angebote geben. Unter anderem war Stilwerk bereit, die dritte und vierte Etage der heutigen Königsbau-Passagen der Bibliothek zu überlassen. Zu günstigen Konditionen. Und mit gutem Grund, wie sich heute erweist. Denn die beiden oberen Stockwerke des Einkaufstempels sind schlecht besucht und schwer zu vermieten. Die Bibliothek hätte Kundschaft ins Haus gebracht. Aber sie wurde auf dem A-1-Areal gebraucht, um der Blamage entgegenzuwirken, dass sich für das angeblich so heiß begehrte Bauland bis dahin offenbar keine Käufer gefunden hatten.
Es braucht einen Anker, der weitere Mieter zieht
Hier zeigt sich, wie sich das Prinzip Shoppingmall längst auf die Stadtplanung als Ganzes übertragen hat. Denn die Mall funktioniert so: Sie braucht zuerst einen oder zwei Ankermieter als Attraktoren, um Kunden ins Haus zu locken – zumeist Modegeschäfte, große Supermärkte oder Elektronik-Großmärkte. Der Rest wird gefüllt, alles unter einem Dach. Finden sich nicht genügend Mieter, dürfen auch Imbissbuden und kleine Gemüseläden rein: Leerstände schrecken ab. Parkplätze im Keller binden die Kunden ans Haus.
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Daniel Fuhrhop
am 28.04.2014