KONTEXT:Wochenzeitung
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Ach, die Linke

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"Von den Mühen demokratischen Aufbruchs", überschrieb unser Autor seinen Text. Seit fast 60 Jahren ist Detlef Hensche Mitglied einer demokratischen Partei, erst der SPD, dann der Linken. Jetzt unterstützt der ehemalige Chef der IG Medien die Bewegung "Aufstehen". In Kontext begründet er den Schritt.

Am 4. September stellten Sahra Wagenknecht und andere die <link https: www.aufstehen.de external-link-new-window>Initiative "Aufstehen – für ein gerechtes und friedliches Land" vor (<link https: www.kontextwochenzeitung.de debatte surfen-auf-der-rasierklinge-5308.html external-link-new-window>Kontext berichtete vorab). Schon im Vorfeld hatte das Vorhaben Diskussionen ausgelöst. Die Parteien übten Kritik, einige so heftig, als gelte es, zusätzliche Gründe für die Notwendigkeit des Aufrufs zu liefern.

Die Situation ist paradox. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung verliert an Akzeptanz, seit sie in den industriellen Metropolen ihre zentrale Botschaft allgemeinen Wohlstands und Aufstiegs nicht mehr einlösen kann. Doch die Linke zeigt sich bis auf einige Ausnahmen außerstande, die Stunde zu nutzen; stattdessen überlässt sie das Feld der politischen Rechten.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten wächst in den Zentren des kapitalistischen Nordens die Zahl derer, deren Einkommen stagniert oder gar sinkt. Verlässliche, arbeitsrechtlich und sozial geschützte Arbeitsverhältnisse weichen dem Wechselspiel von Arbeitslosigkeit und unsicherer, schlecht bezahlter prekärer Beschäftigung. Von der Zukunft erwarten viele keine Verbesserung, sondern befürchten Einschränkungen und Abstieg. Die marktwirtschaftliche Fortschrittsverheißung verliert ihren Glanz.

Eigentlich sollte damit die Stunde der Linken schlagen. Nicht, dass Bedrückung und Angst gleichsam naturwüchsig zum sozialen Aufbruch drängen. Doch die Alternative einer humanen und solidarischen Gesellschaft gewinnt Plausibilität und Mehrheitsfähigkeit – wenn sie denn zum Thema gemacht wird. Tatsächlich ist die Linke in einigen Ländern wie Portugal, Spanien und Griechenland erstarkt. In Großbritannien ist die Labour Party mit ihrem Vorsitzenden Jeremy Corbyn auf dem Weg, sich von der neoliberalen Hinterlassenschaft New Labours zu befreien. Selbst in den USA lehrte Bernie Sanders als Kandidat im Vorwahlkampf mit einem ausgesprochen sozialdemokratischen Programm die Oligarchie der demokratischen Partei das Fürchten. Ohnmacht ist nicht naturgegeben. Dennoch ist die Linke in wichtigen Ländern entweder marginalisiert oder jedenfalls nicht in der Lage, der allenthalben feststellbaren Rechtsentwicklung entgegenzutreten.

Der Erfolg der politischen Reaktion sollte nicht überraschen. Er hängt aufs Engste mit der wirtschaftlichen und sozialen Regression zusammen. Die immer wieder hervorgehobene Zunahme der Migration hat die Entwicklung sicher befeuert, doch nicht ausgelöst. Zerbricht das Gerüst sozialer Sicherheit, beruflicher Anerkennung und wirtschaftlicher Perspektive, rückt der Kampf ums Bestehende in den Vordergrund. Man sollte dies übrigens nicht reflexartig als rückwärtsgewandt denunzieren, was als Fortschritt zu gelten hat, ist interessengebunden und wird bekanntlich von den Siegern diktiert. Erst wenn Rechte, gesellschaftliche Positionen und Einfluss mit einem Zaun der Exklusivität umgeben werden, der andere ausschließt, verliert Verteidigung ihre Unschuld. Und in der Tat verführt soziale Unsicherheit zur Flucht in Wagenburgen. Angst vor dem Verlust gesellschaftlicher Anerkennung, das im Klima des Konkurrenz- und Leistungsdrucks aufgedrückte Stigma des Versagens, laden dazu ein, die gebrochene Identität durch Deklassierung anderer zu kompensieren; Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind die Folgen.

Autoritätsverlust weckt überdies die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Hierarchie und intakten, zumeist maskulin geprägten Gewaltverhältnissen. Kein Wunder, dass den Gewinnern, die sich gerne als "Eliten" apostrophieren lassen, Zorn, ja Hass entgegenschlagen, erst recht, wenn sie ihre Weltoffenheit mit dem Gestus der Überlegenheit demonstrieren und nicht zögern, die Verlierer mit moralisierender Abwertung zu zensieren. Kein Wunder auch, wenn die täglich vorgetragenen und verbreiteten Mythen vom wirtschaftlichen Aufschwung, vom Segen der Deregulierung und der Alternativlosigkeit kapitalistischer Steuerung den Vorwurf der "Lügenpresse" provozieren.

Kapitalismuskritisch oder vergeblich

Dieser Entwicklung ist weder durch moralische Entrüstung noch durch Besetzung reaktionärer Themen beizukommen. Was Not tut, ist eine linke Alternative.

Deren erste Aufgabe ist es, die Ursachen des gesellschaftlichen und sozialen Niedergangs zu benennen. Nicht etwa Flucht und Migration bewirken Arbeitslosigkeit und Armut, sondern die Brutalität entfesselter Märkte und eine Politik, die sich der Freiheit der Kapitalverwertung verschrieben hat. Eine linke Intervention ist kapitalismuskritisch oder sie ist vergeblich.

Das Projekt einer menschenwürdigen Gesellschaft muss, zweitens, der sozialen Frage den Rang einräumen, der ihr gebührt. Rechtswende und Fremdenfeindlichkeit, in zahlreichen westlichen Industrienationen fast zeitgleich aufkommend, verweisen ungeachtet ihrer jeweils spezifischen Einfärbung auf die gleichen Erfahrungen wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs. Auch wer sich, etwa als Angehöriger der Mittelschicht, noch in sicherer Lage sieht, ist nicht frei von Sorgen um die Zukunft. Die verbreitete Erklärung der derzeitigen Polarisierung als kultureller Konflikt zwischen Weltoffenheit und Multikulturalismus der Globalisierungsgewinner hier (oben) und Provinzialität und Dumpfbackentum der "Abgehängten" dort (unten) greift entschieden zu kurz. Unter der Oberfläche symbolischer Konfliktlinien und -themen verbirgt sich die sehr reale Bedrohung der um ihre Zukunft betrogenen Menschen und ihrer Auflehnung gegen die, die tatsächlich oder vermeintlich dafür verantwortlich sind.

Detlef Hensche ist Mitherausgeber der "Blätter für deutsche und internationale Politik" und war bis 2001 Gewerkschaftsführer – ab 1975 im Geschäftsführenden Vorstand der Industriegewerkschaft Druck und Papier in Stuttgart und ab 1992 Vorsitzender der IG Medien. Nach 40 Jahren Mitgliedschaft trat der promovierte Jurist 2001 aus der SPD aus. Über die WASG kam er zur Partei Die Linke. Dort gehört der inzwischen 80-Jährige zum Ältestenrat. (sw)

Gegenüber einer verbreiteten Geringschätzung, die soziale Reformen zu sozialen "Wohltaten", Besitzständen und Instrumenten sozialer Befriedung kleinrechnet, sei daran erinnert: Wer in der Arbeit, wer als Mieter oder als Arbeitsloser und "Leistungsempfänger" täglich fremde Anweisungs- und Entscheidungsgewalt erfährt, erwartet von einer humanen Gesellschaft Rechte und Freiheitsräume, die ihm ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Gleich was auf der Tagesordnung steht – Zugang zur Arbeit, betriebliche Demokratie und Mitbestimmung, eine soziale Sicherung, die sozialen und gesellschaftlichen Absturz verhindert, bezahlbare Wohnung, das Recht auf Bildung und Weiterbildung, eine öffentliche bedarfsgerechte Infrastruktur, ... –, jede dieser Reformen dient der demokratischen Teilhabe und der Ermächtigung zum aufrechten Gang.

Hier liegt bekanntlich die Essenz des Sozialstaats: Gesellschaft und Wirtschaft so zu gestalten, dass demokratische Freiheit sich auch gegenüber privater und ökonomischer Herrschaft behaupten kann. Soziale Rechte und Freiheiten sind unteilbar; sie beanspruchen Anerkennung und staatlichen Schutz unabhängig von Nationalität, Geschlecht, Herkunft und Religion. Die Zumutung universeller Geltung ziviler und sozialer Menschenrechte ist nicht verhandelbar, so verführerisch auch die Sehnsucht nach umgrenzter Heimat ist und so laut nach Abschottung gerufen wird.

Vor diesem Hintergrund unternimmt es die Initiative "Aufstehen", Stimmen und Kräfte für einen solidarischen Aufbruch zu sammeln. Die Parteien wittern Ungemach und wehren ab. Als ob der Kampf um eine menschenwürdige und solidarische Gesellschaft derzeit bei ihnen in guten Händen läge! Die SPD – für demokratische und soziale Reformen immer noch unverzichtbar – steht seit der Agendapolitik im anderen Lager; ihr Führungspersonal macht keine Anstalten, dies zu ändern. Die Grünen fühlen sich von den sozialen Herausforderungen nur am Rande angesprochen, heute noch deutlicher als früher. Die LINKE, eigentlich die geborene Sachwalterin der Aufruf-Ziele, hat bisher nicht die Attraktivität entwickeln können, um SPD und Grüne zu Kurskorrekturen zu bewegen. So gehen die Parteien getrennte Wege; <link https: www.solidarische-moderne.de external-link-new-window>das parteiübergreifend gegründete "Institut Solidarische Moderne" (nach eigener Angabe eine Programmwerkstatt für neue linke Politikkonzepte, Anm. d. Red.) hat daran nichts geändert.

Kein Zweifel, Rechtsruck, soziale Unsicherheit und politische Spaltung lasten auch auf den Erfolgsaussichten von "Aufstehen". Kritiker der Initiative heben dies gerne hervor und fühlen sich in ihre Beobachterrolle entlastet. Auch sei der Aufruf, wie es heißt, eine Kopfgeburt und keine Bewegung von unten. Mag ja alles plausibel klingen. Doch wo liegt die Alternative? Weiter warten? Bis die SPD sich einstelligen Zustimmungsraten nähert und sich die Basis erhebt? Nein, die Zeiten werden nicht besser. Ein Ende der Rechtsentwicklung ist nicht in Sicht. Die Bereitschaft, dem entgegenzutreten, ist durchaus vorhanden – selbst in der Zitadelle einer Exportnation, der es immer wieder gelingt, weite Teile der Gesellschaft ruhig zu stellen, indem sie Not und Arbeitslosigkeit den Partnerländern aufbürdet. Die Chancen des Aufrufs liegen darin, dass er von Menschen unterstützt wird, die sich von den Parteien bisher nicht angesprochen fühlen. Was also hindert mitzumachen?


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11 Kommentare verfügbar

  • Jõrg Rupp
    am 14.10.2018
    Antworten
    #Aufstehen ist ein Instrument, um politisch Einfluss auf die Politik der Partei Die Linke zu nehmen. Ganz im Stile Joschka Fischers oder Winfried Kretschmanns wird versucht, inhaltlich Themen so zu setzen, die man medial vorträgt - udn sich innerparteilich nicht stellen muss. Dabei bedient man sich…
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