Man hat es längst vergessen: Nicht das Britannien unter Margaret Thatcher und auch nicht die USA unter Ronald Reagan waren das Geburtsland des Neoliberalismus. Es war das Chile unter dem Diktator Augusto Pinochet, wo Milton Friedman, der marktradikale Wirtschaftsprofessor und Nobelpreisgewinner aus Chicago, im Schutz der Gewehre der Militärjunta zum ersten Mal seine Theorie in die Praxis umsetzte. Man nannte seine nach Chile geschickten Schüler die "Chicago-Boys" und sie krempelten das Land gründlich um. Sie schlossen Fabriken, privatisierten Staatsbetriebe, Straßen, Krankenhäuser, Schulen und Universitäten. Sie öffneten die Zollgrenzen für billige Importe. Es war das erste neoliberale Schockprogramm der Geschichte. Die Militärs zerschlugen derweil die Gewerkschaften.
Zum Trost baute man Shopping Malls für die Chilenen. So wurden aus einer solidarischen Arbeiterbewegung innerhalb weniger Jahre vereinzelte Konsumenten. Die Shopping Mall wurde zum Ort, an dem die aus der Niederlage erwachsenen Frustrationen versüßt hinuntergewürgt werden konnten. Und damit dies auch gewährleistet war, bot man jedem Chilenen an, was vorher nur die Superreichen hatten: eine Kreditkarte. Dass Konsumschulden Abhängigkeiten schaffen gegenüber Finanzkapitalisten - den eigentlichen neuen Herren des Landes - war kein Nebeneffekt, sondern durchaus erwünscht. In der aus siebzehn Jahren Diktatur geborenen neuen Spielart einer "Demokratie" war dann die Wahlfreiheit zur freien Auswahl unter endlos vielen Waren geworden. So ist es kein Wunder, dass der einzige rechte Präsident Chiles seit Pinochet mit Sebastián Piñera ein Mann war, der erst als Investmentbanker und dann als Kreditkartenkönig Lateinamerikas zum Multimilliardär geworden ist.
Diesen Zustand einer Gesellschaft hat der italienische Poet, Literat und Filmemacher Pier Paolo Pasolini in seinen in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre meist im Corriere della Sera publizierten und später in den "Freibeuterschriften" zusammengefassten Essays beschrieben, bevor er richtig Wirklichkeit geworden ist. Pasolini dachte dabei nicht an Chile, sondern an Italien und ahnte wohl, was auf Europa zukommen würde. Er beschrieb dabei das, was er "Konsumismus" nannte, als eine neue Form des Totalitarismus, der "die Entfremdung bis zur äußersten Grenze der anthropologischen Degradierung" treibe. In der Konsumgesellschaft werde die Kultur des einzelnen zerstört: "Es ist klar, dass überflüssige Dinge das Leben überflüssig gemacht haben." Pasolini nannte dies einen "neuen", einen "hedonistischen Faschismus", der im Gegensatz zu seiner brutalen althergebrachten Variante die Menschen nicht mehr verfolge, foltere und liquidiere - allenfalls in Ausnahmefällen. (Selbst die chilenischen Militärs waren nur in den Jahren vor dem neoliberalen Schock richtig brutal und danach im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Diktaturen verhältnismäßig unblutig.) Dieser "neue Faschismus" ist nicht mehr dumpf, sondern glitzernd, freundlich, verführerisch. Aber - so Pasolini - er "schaltet mit seiner Diktatur des Konsums die Körper und Köpfe gleich" und liquidiere so die Menschlichkeit.
1 Kommentar verfügbar
era
am 26.12.2016Wir sind nur zu verdummt ("Lückenpresse"), wir lernen das nicht. Die Medien entziehen das, zum Teil absichtlich, zum Teil im Herdentrieb, zum Teil unter ökonomischem Druck…