KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

FAZ gibt der S-21-Kritik recht

Das tut weh, DB

FAZ gibt der S-21-Kritik recht: Das tut weh, DB
|

Datum:

Dass wir das noch erleben dürfen: Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" bewertet "Stuttgart 21" neu und warnt vor diesem "Menetekel". Die Abrechnung hätte auch in Kontext stehen können.

Dahinter steckt immer ein kluger Kopf. Mit diesem Spruch wirbt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) für sich und ihre Kundschaft seit 1960. Das ist raffiniert, weil er vorgibt, Teil einer guten Gesellschaft zu sein, mindestens obere Mittelschicht, wenn man diese Zeitung liest. Zusammen mit Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Ursula von der Leyen, Joschka Fischer, Ferdinand Piëch und Dieter Zetsche, um nur einige zu nennen, die sich als Werbeköpfe zur Verfügung stellten. Vereint in einer Klasse, die sich gedanklich an der Frühstückstafel trifft, zur täglichen Verständigung über das große Ganze. Wir dürfen also von einem Leitmedium sprechen.

Bei einem Gegenstand von nationaler, ja internationaler Bedeutung ist das wichtig. Unabdingbar geradezu, alternativlos, wenn sich daran die Zukunftsfähigkeit eines Landes zeigt, wie Kanzlerin Angela Merkel (CDU) einst befand. Die Rede ist von Stuttgart 21 und dessen richtiger Vermittlung in das Volk hinein.

Selbstverständlich hat die FAZ ("große Chance") das Vorhaben gutgeheißen, wie nahezu alle großen Medien. Wohlwollend hat sie die märchenhaften Versprechen der Politik weiter verbreitet, den "großen Wurf" (Erwin Teufel/CDU), die "Jahrhundertchance" (Günther Oettinger/CDU), die "zweite Stadtgründung" (Manfred Rommel/CDU). S 21 war Fortschritt per se, Futter für Bau und Immo-Branche, Blutzufuhr für die Herzkammer Europas, schienentechnisch gesehen. Was das Zentralorgan des Kapitals vermieden hat, war die ungenierte Parteinahme. Das hat die FAZ den lokalen und regionalen Medien überlassen, die es gar nicht erwarten konnten, bald von Paris bis Budapest durchbrausen zu können. Eine örtliche Zeitung schrieb gar, ohne ihre tätige Mithilfe wäre "Stuttgart 21" nicht gebaut geworden.

Ministerpräsident Günther Oettinger hat mir damals die Geschichte erzählt, dass man Angela Merkel und Nicolas Sarkozy nicht zumuten könne, am Stuttgarter Sackbahnhof die Richtung zu wechseln und mit 60 Stundenkilometern die Geislinger Steige hochjuckeln zu müssen. Es bestünde die Gefahr, dass ihr der französische Staatspräsident den Rotwein auf den Blazer schütte.

Stocker sprach zuerst mit dem Klassenfeind

Der FAZ-Mann in Stuttgart ist Rüdiger Soldt, 58, gebürtiger Niedersachse, seit 2006 für seine Zeitung am Neckar. Er kennt Stadt und Land, hat viel über den Bahnhof geschrieben und sagt, er sei über die Jahre kritischer geworden. Keine Verteidigung mehr auf Biegen und Brechen. Zuviel sei passiert, was vernunftbegabte Menschen nicht mehr nachvollziehen konnten. Sinnbildlich dafür steht Stefan Mappus, der Kurzzeitministerpräsident und Verantwortliche für den "Schwarzen Donnerstag", den brutalen Polizeieinsatz gegen S-21-Gegner:innen 2010.

Zum regelmäßigen Gesprächspartner für Soldt wird Gangolf Stocker, der Vater des S-21-Protests. Der Ex-DKP'ler verblüfft den FAZ'ler mit der Aussage, als Linker müsse man "zuerst mit dem Klassenfeind" reden. Offenbar mit Erfolg. Im Frankfurter Leitmedium weitet sich das Gesichtsfeld, Stocker wird zum "Herr über Krieg und Frieden" in Stuttgart erklärt. Das hat was. Ein Kunstmaler, der so wunderbar über die "Mafia" aus Spekulanten, Politikern, Richtern und Staatsanwälten herziehen konnte. Zu seinem Tod 2021 schreibt ihm Soldt einen schönen Nachruf.

Und jetzt? Steht der Regisseur und Autor Klaus Gietinger am 18. August bei der 769. Montagsdemo auf der Bühne (hier geht’s zum Video) und sagt ins Publikum: "Auch die FAZ hat begriffen, dass ihr alle Recht behalten habt." Das lässt aufhorchen. Gelobt wird nicht Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident, der jüngst auf einer Pressekonferenz wie ein Rohrspatz darüber schimpfte, wie arrogant sie einst als S-21-Gegner "abgebürstet" worden seien, und dass alles eingetreten sei, "von A bis Z", was sie prophezeit hatten. Doch das war bereits Wahlkampf und der MP schon lange nicht mehr ihr Freund. Gelobt wird die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", ein national bedeutendes Organ, das Blatt des Großbürgertums, wie manche sagen.

Was war geschehen? Soldt hat einen Leitartikel verfasst, am 16. August prominent auf der ersten Seite der FAZ platziert. Es soll eine "Neubewertung" der größten Baustelle Europas sein und trägt die Überschrift "Das Menetekel Stuttgart 21", was so viel wie drohendes Unheil oder dunkles Omen bedeuten kann. Es ist eine Abrechnung mit der Deutschen Bahn (DB) und der Politik, die auch in Kontext hätte stehen können – bis auf kleine Details. "Leider glaubt der Kommentator, dass der Fetisch Digitalisierung den Flaschenhals S 21 noch retten kann", kritisiert Gietinger zu Recht. Trotzdem schlägt Werner Sauerborn vom Aktionsbündnis gegen S 21 vor, der Text sollte "eins zu eins" vorgelesen und dann in die Geschichtsschreibung des unterirdischen Bahnhofs aufgenommen werden.

Die Kritik der Kritiker sei "im Kern berechtigt", sie hätten das richtige Gespür für die Schwächen des Projekts gehabt, bilanziert Soldt und blättert das Sündenregister auf: Das eklatante Missverhältnis zwischen Kosten und Nutzen, vulgo das Milliardengrab. Ignoranz und Größenwahn bei der Politik, die der Bahn ein Projekt aufzwingt, das in seiner Komplexität nicht kontrollierbar ist, das sie so "nie bauen wollte". Angetrieben von Oettinger, der 2007 einen politischen Erfolg brauchte, nach seiner skandalösen Trauerrede auf Hans Filbinger. Auf den frei werdenden Gleisflächen sollten ursprünglich von 2011 an Wohnungen gebaut werden. Als neues Startdatum wird inzwischen das Jahr 2028 genannt, schreibt Soldt (Aus Kontext-Sicht erscheint Ende der 2030er-Jahre realistischer). Ein Beispiel mehr für den "nicht enden wollenden Bau".

Der Autor dieser Zeilen erinnert sich noch an ein Gespräch mit dem damaligen Bahnchef Hartmut Mehdorn, in dem er versicherte, man müsse den "Kopf schon in den Gully" stecken, um von den Bautätigkeiten etwas mitzubekommen. Das war kurz vor seinem Abgang als DB-Vorstandsvorsitzender im Jahr 2009, ein Jahr später fiel der Nordflügel des Bonatzbaus und Stuttgart wurde zur "Hauptstadt des Widerstands" ("Der Spiegel"). Die ewig langen Fernwanderwege zu den Gleisen gibt es heute noch.

Arrivierte Häuslebesitzer sind keine Wutbürger

All das ist in die "Tiefengrammatik" der Protestbewegung eingesickert, und die sei lange falsch eingeschätzt worden, kommentiert Soldt, weil die Oettingers, Mehdorns und Grubes dachten, sie hätten es mit "esoterischen Juchtenkäfer-Liebhabern" und einer "Halbhöhen-Bourgeoisie" zu tun, die aufgrund mangelnden Durchblicks zu vernachlässigen seien. Falsch gedacht, entgegnet Soldt, die Mehrzahl seien "arrivierte Häuslebesitzer mit akademischer Bildung" gewesen. Und die sind empfindlich, wenn sie unter Niveau belogen werden.

So schwinde das Vertrauen, soweit vorhanden, in die Bahn sowieso, aber auch in die etablierten Parteien, in die CDU, SPD und FDP – alle "stoische Projektbefürworter". Meint Soldt. So gesehen müsse der Protest als "frühes Warnzeichen" für tiefe Veränderungen der politischen Landschaft gedeutet werden. Das Misstrauen gegen die Volksparteien, gegen staatliche Institutionen, die Wissenschaft – alles schon damals zu sehen. Wenn man es sehen wollte.

Das führt zur Rolle der Medien. Soldt klammert sie aus und bleibt damit unvollständig. Der ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen spricht 2010 von einem "journalistischen Totalversagen". Statt Kritik kommt das Zerrbild des "Wutbürgers". Ältere Menschen, die brüllen und hassen, Angst vor Neuem und keine innere Gelassenheit haben, diagnostiziert damals der Journalist Dirk Kurbjuweit, der später "Spiegel"-Chefredakteur werden soll. Mit der "Tiefengrammatik" auf Stuttgarts Straßen, wo Zehntausende demonstrieren, hat die Ferndiagnose aus Hamburg nichts gemein.

Es war der Versuch, die Bewegung als Ganzes "zu diskreditieren", als Heimstatt von rechtsanfälligen Spinnern, sagt der Stuttgarter Ex-Stadtrat Tom Adler von der Linken. Bis heute organisiert er die Montagsdemos, auf denen Verkehrsexperten wie der unvergessene Winfried Wolf, Umweltschützer:innen, Architekten:innen oder auch ein ehemaliger Schweizer Bahnchef seit 2009 vortragen, was schiefläuft beim bestgeplanten Jahrhundertprojekt (Eine ausführliche Zusammenstellung ist hier zu lesen). Und die jetzt bescheinigt bekommen, dass sie richtig gelegen haben. 

2011 ist Kontext, die gemeinnützige Wochenzeitung, mit dem Anspruch angetreten, Lücken zu füllen. Adler und Stocker gehörten zu den Mitgliedern der ersten Stunde.


Transparenzhinweis: Autor Josef-Otto Freudenreich lehnt den von der FAZ verliehenen Titel ("publizistische Ikone des S-21-Widerstands") ab. Viel zu viel der Ehre. Er sagt, er habe nur versucht, seinen Job ordentlich zu machen.  

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!