Die Kritik der Kritiker sei "im Kern berechtigt", sie hätten das richtige Gespür für die Schwächen des Projekts gehabt, bilanziert Soldt und blättert das Sündenregister auf: Das eklatante Missverhältnis zwischen Kosten und Nutzen, vulgo das Milliardengrab. Ignoranz und Größenwahn bei der Politik, die der Bahn ein Projekt aufzwingt, das in seiner Komplexität nicht kontrollierbar ist, das sie so "nie bauen wollte". Angetrieben von Oettinger, der 2007 einen politischen Erfolg brauchte, nach seiner skandalösen Trauerrede auf Hans Filbinger. Auf den frei werdenden Gleisflächen sollten ursprünglich von 2011 an Wohnungen gebaut werden. Als neues Startdatum wird inzwischen das Jahr 2028 genannt, schreibt Soldt (Aus Kontext-Sicht erscheint Ende der 2030er-Jahre realistischer). Ein Beispiel mehr für den "nicht enden wollenden Bau".
Der Autor dieser Zeilen erinnert sich noch an ein Gespräch mit dem damaligen Bahnchef Hartmut Mehdorn, in dem er versicherte, man müsse den "Kopf schon in den Gully" stecken, um von den Bautätigkeiten etwas mitzubekommen. Das war kurz vor seinem Abgang als DB-Vorstandsvorsitzender im Jahr 2009, ein Jahr später fiel der Nordflügel des Bonatzbaus und Stuttgart wurde zur "Hauptstadt des Widerstands" ("Der Spiegel"). Die ewig langen Fernwanderwege zu den Gleisen gibt es heute noch.
Arrivierte Häuslebesitzer sind keine Wutbürger
All das ist in die "Tiefengrammatik" der Protestbewegung eingesickert, und die sei lange falsch eingeschätzt worden, kommentiert Soldt, weil die Oettingers, Mehdorns und Grubes dachten, sie hätten es mit "esoterischen Juchtenkäfer-Liebhabern" und einer "Halbhöhen-Bourgeoisie" zu tun, die aufgrund mangelnden Durchblicks zu vernachlässigen seien. Falsch gedacht, entgegnet Soldt, die Mehrzahl seien "arrivierte Häuslebesitzer mit akademischer Bildung" gewesen. Und die sind empfindlich, wenn sie unter Niveau belogen werden.
So schwinde das Vertrauen, soweit vorhanden, in die Bahn sowieso, aber auch in die etablierten Parteien, in die CDU, SPD und FDP – alle "stoische Projektbefürworter". Meint Soldt. So gesehen müsse der Protest als "frühes Warnzeichen" für tiefe Veränderungen der politischen Landschaft gedeutet werden. Das Misstrauen gegen die Volksparteien, gegen staatliche Institutionen, die Wissenschaft – alles schon damals zu sehen. Wenn man es sehen wollte.
Das führt zur Rolle der Medien. Soldt klammert sie aus und bleibt damit unvollständig. Der ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen spricht 2010 von einem "journalistischen Totalversagen". Statt Kritik kommt das Zerrbild des "Wutbürgers". Ältere Menschen, die brüllen und hassen, Angst vor Neuem und keine innere Gelassenheit haben, diagnostiziert damals der Journalist Dirk Kurbjuweit, der später "Spiegel"-Chefredakteur werden soll. Mit der "Tiefengrammatik" auf Stuttgarts Straßen, wo Zehntausende demonstrieren, hat die Ferndiagnose aus Hamburg nichts gemein.
Es war der Versuch, die Bewegung als Ganzes "zu diskreditieren", als Heimstatt von rechtsanfälligen Spinnern, sagt der Stuttgarter Ex-Stadtrat Tom Adler von der Linken. Bis heute organisiert er die Montagsdemos, auf denen Verkehrsexperten wie der unvergessene Winfried Wolf, Umweltschützer:innen, Architekten:innen oder auch ein ehemaliger Schweizer Bahnchef seit 2009 vortragen, was schiefläuft beim bestgeplanten Jahrhundertprojekt (Eine ausführliche Zusammenstellung ist hier zu lesen). Und die jetzt bescheinigt bekommen, dass sie richtig gelegen haben.
2011 ist Kontext, die gemeinnützige Wochenzeitung, mit dem Anspruch angetreten, Lücken zu füllen. Adler und Stocker gehörten zu den Mitgliedern der ersten Stunde.
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