Während Leute wie StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs immer wieder betonten, wider besseren Wissens, dass im Pressehaus nichts zensiert werde, alles ausgewogen dargeboten und keine Blattlinie vorgegeben werde, war Adrian Zielcke erfrischend ehrlich. Und wahrscheinlich auch noch stolz auf den Einfluss seiner Zeitung, die S 21 mit möglich gemacht hat. Danach hat er Kolumnen für den wahlkämpfenden Sebastian Turner geschrieben, die durch ihre Kontinuität bestachen: Stuttgart 21 muss "endlich zügig gebaut" werden.
Im August 2010 überraschte Frei Otto, einer der Väter von Stuttgart 21, mit vollen Breitseiten gegen das Jahrhundertprojekt. Ein Neuanfang sei unumgänglich, forderte der international renommierte Architekt, der feuchte Grund berge unabsehbare Risiken, es bestünde Gefahr für Leib und Leben. Dietrich Heißenbüttel hat damals sieben Stunden lang mit ihm gesprochen. Sein Text sollte Eingang in die Geißler'sche Schlichtung finden, ermuntert von Winfried Kretschmann ("Das muss rein"), ebenso in die "Stuttgarter Zeitung". Erschienen ist die Kritik Ottos weder hier noch dort. Die kleine Kulturzeitschrift SuR hat sie ein halbes Jahr später gedruckt.
Volle Breitseiten gegen S 21 erwartete damals niemand von der StZ, dass sich die Zeitung ausgerechnet in der heißen Protestphase noch einmal explizit zu einer Blattlinie gegenüber dem Projekt bekennen würde, aber auch nicht. Und doch: Unter der Überschrift "Die Zeitung muss Stellung beziehen" schrieb am 1. September der stellvertretende StZ-Chefredakteur Michael Maurer im Leitartikel: "Die Stuttgarter Zeitung hat schon lange eine klare Haltung zu Stuttgart 21: Wir sehen das Vorhaben positiv". Warum, lässt sich hier nachlesen.
"Beobachter kratzten sich angesichts dieser ungewöhnlichen Positionierung erstaunt am Kopf, sah sich die Redaktion doch ohnehin schon mit Abo-Kündigungen wegen S21 konfrontiert", war dazu im November 2010 im Stadtmagazin "Lift" zu lesen, das damals noch nicht zur Südwestdeutschen Medienholding SWMH gehörte. Unter dem Titel "Tageszeitungen sorgen für Leserfrust 21" fragten Ingmar Volkmann und Oliver Stenzel im Pressehaus nach Gründen für die Entfremdung von der Leserschaft. Die Antworten könnten heute noch so kommen. Die Abo-Kündigungen wurden kleingeredet, die eigene Berichterstattung als objektiv und ausgewogen dargestellt – auch beim Schwesternblatt "Stuttgarter Nachrichten". Es gebe eine "argumentative Linie" zu Stuttgart 21 innerhalb der StN-Redaktion, und die habe sich schon in den Anfangstagen des Projekts Mitte der 1990er-Jahre herausgebildet, so der kommissarische Chefredakteur Wolfgang Molitor gegenüber Lift. Man sei von Anfang an "aufgeschlossen und neugierig" auf die mit dem Projekt verbundenen "Chancen" gewesen, sagte der StN-Mann und betonte: "Wir sehen Stuttgart 21 auch als Riesenchance für die beiden Tageszeitungen".
Spätestens nach dem Schwarzen Donnerstag fragte sich die Republik, was eigentlich in Stuttgart los ist? Ausgerechnet bei den biederen Schwaben sollte die Hauptstadt des Widerstands sein. Das hat auch das Interesse der überregionalen Presse geweckt, die nun das Wesen der Eingeborenen erforschen wollte. Für Josef-Otto Freudenreich war es die Zeit, in der er als Botschafter des aufgeklärten Schwabentums unterwegs war. Unter anderem beim 25. Journalistentag der dju im November 2011 in Berlin. "Agenda-Setting in den Medien" lautete das Tagungsthema. Wie gemalt für Stuttgart 21.
Das gallische Dorf bei der "Stuttgarter Zeitung" war schon immer das Feuilleton. Da sprangen so Kerle wie Hellmuth Karasek, Gerhard Stadelmaier und Ruprecht Skasa-Weiß herum, die sich einen Teufel darum scherten, was ihre Chefredakteure glaubten meinen zu müssen. Ein wenig davon hat sich erhalten, wie selbst Adrian Zielcke bemerkt hat. Er hat die Kulturabteilung um den Bahnhof kämpfen sehen. Ein schönes Stück hat dazu der Theaterkritiker Roland Müller geschrieben: "Soviel Hunger nach Aufklärung war nie! Überall im Freien wachsen plötzlich neue Volkshochschulen".
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Jo
am 02.09.2020