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Zum Tod von Gangolf Stocker

Der Löwenzahn ist verblüht

Zum Tod von Gangolf Stocker: Der Löwenzahn ist verblüht
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Der Protest gegen Stuttgart 21 hat seinen Vater verloren: Gangolf Stocker. Er ist im Alter von 76 Jahren gestorben. Mit der bitteren Erkenntnis, letztlich gescheitert zu sein. Ein Nachruf auf einen Mann, der auch Wiesenblumen mochte.

Im Oktober 2019 fährt die Bewegung, so sie noch mobil ist, alles auf, was Rang und Namen hat. Es gilt, das Zehnjährige der Montagsdemos zu feiern. Dem Motto Max Uthoffs ("Dem Feind den Frust nicht gönnen") folgend, sind sie ins Theaterhaus gekommen, Bruhnkelöschprayonrockenbauchschorlau, und erzählen sich, wie es damals war, am Nordflügel, am Südflügel des Bahnhofs, und im Schlossgarten. Die Stimmung ist aufgeräumt, Kontext titelt: Die Kastanie bleibt in der Tasche.  Am Ende verliest Walter Sittler die Namen der zu Ehrenden – und vergisst den eigentlich Wichtigsten: Gangolf Stocker, den Vater des Protests. Er habe den Namen schlicht überlesen, wird der Schauspieler später sagen, das tue ihm unendlich leid.

Das Buch des Widerstands ist zugeklappt

Man darf das Sittler glauben. Stocker war einfach weg, aus den Augen, aus dem Sinn. Raus aus der Politik, schwer krank zuhause in seiner Zweizimmer-Butze im Stuttgarter Stadtteil Gaisburg, eingezwängt zwischen Farben, Pinseln, Staffelei und Arzneischachteln, mit Blick auf den Friedhof. Die einstige Zentralfigur des Protests hatte sich zurückgezogen, genug Egos erlebt, das Buch des Widerstands gegen Stuttgart 21 zugeklappt. Eine Geschichte, die untrennbar mit der Person Stocker verbunden war. 1995 hat er die Initiative "Leben in Stuttgart – kein Stuttgart 21" (inspiriert von dem Linken Winfried Wolf) gegründet, 2007 ein Bürgerbegehren (zusammen mit dem Grünen Werner Wölfle) gestartet, 2009 als einer der Ersten die MontagsdemonstrantInnen (gemeinsam mit Helga Strauch-Stöhr) zum Laufen gebracht, die ein Jahr später Zehntausende werden sollten.

Stocker war Ideengeber, Organisator und Ordner, gestählt durch seine politische Vita, unter anderem durch PDS und DKP, verfolgt von einer Staatsgewalt, die ihn mit immer neuen Bußgeldern traktierte, nachdem sie ihn als Versammlungsleiter ausgespäht hatte, der pro 50 Demonstranten eine Aufsichtsperson hätte stellen müssen. Was für ein Irrsinn! Bei 70.000 renitenten Bürgerinnen und Bürgern wären das 1.400 gewesen. Stockers Anwalt Roland Kugler wusste damals nicht, ob er weinen oder lachen sollte, wenn ihn Staatsanwälte wegen "telefonischer Nichterreichbarkeit", "Mitführen eines Wasserwerfers ohne Oldtimerkennzeichen" oder "Behinderung des fließenden Verkehrs" belangten. Nachzulesen in dem Kontext/Anstifter-Buch "Die politische Justiz in unserem Land" unter dem Kapitel "Die versuchte Unterwerfung des Gangolf S."

Für die FAZ war Stocker der "Herr über Krieg und Frieden" in Stuttgart, was damals kein Provinztitel war, sondern ein Oscar, der plötzlichen Berühmtheit der Hauptstadt des Widerstands angemessen. Das hat dem Ego vielleicht ein wenig geschmeichelt, weil der Junge nicht im Herrenhaus geboren wurde. Der Vater war Friedhofsgärtner, sein Sohn Volksschüler und Vermessungstechniker beim Flurbereinigungsamt Offenburg, ehe er an der Stuttgarter Kunstakademie als Student der Bildhauerei aufgenommen wurde. Aber objektiv war es natürlich Quatsch, anzunehmen, eine Person könne einen so bunten Haufen hin- und her dirigieren. Das schafft auch ein Altleninist und Ex-DKPist nicht, das spukt eher in den Köpfen von FAZ-Redakteuren herum, die sich eine führerlose Bewegung nicht vorstellen können.

Stocker war mittendrin im erbitterten Streit um das camouflierte Immobilienprojekt S 21, schrieb wütende Sätze an Winfried Kretschmann ("Der Landesvater steht mir bis zum Hals"), geißelte die "Mafia" aus Spekulanten, Politikern, Richtern und Staatsanwälten, wetterte aber auch gegen die Parkschützer, die Absperrgitter niedertrampelten und, so seine Sorge, das Bürgertum von der Halbhöhe verschreckten. Es sollten doch alle dabei sein, die dagegen waren, dass die Stadt zu Tode geritten wird. "Ihr werdet uns nicht los – wir euch schon" – das war seine Losung.

Der lebenslange Kämpfer – entnervt und entkräftet

Das hat bekanntlich nicht geklappt. 2011 warf er das Handtuch als Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, der lebenslange Kämpfer war entnervt und entkräftet vom ewigen Dagegenhalten, ausgeknockt von der Sturheit des scheinbar unzähmbaren Idealisten, aber auch von der Erkenntnis, dass sich die Linken immer selbst zerlegen. Seinen politischen Zögling und Freund Hannes Rockenbauch hat er ausgenommen, ihm gezeigt, wie man Gewitterwolken malt. Den Bruch mit der Bewegung hat er bewusst vollzogen. Keine Kompromisse möglich. Im April 2016 verließ er auch das linke Bündnis "Stuttgart Ökologisch Sozial" (SÖS), dem er als Stadtrat angehört hat. Spätestens jetzt war es still geworden um die einstige Ikone mit dem weißen Kinnbart, dem verratzten Pullover und den Jesussandalen.

Es gehe jetzt nicht mehr um Gegenwind, sagte er der Journalistin Elena Wolf, die ihn im Mai 2016 besuchte, sondern um das Verarbeiten des Scheiterns. Seines eigenen Schicksals. Die heutige Kontext-Kolumnistin ist ihm, wie kaum jemand anderes von der schreibenden Zunft, nahe gekommen. In ihrem Porträt zeichnet sie einen traurigen, desillusionierten Mann, für den Stuttgart 21 durch ist, nicht mehr aufzuhalten, schon gar nicht durch ein montägliches Ritual, das ihm "sektenhaft" erscheint, wenn er es böse ausdrücken wolle. Dass Stuttgart 21 nicht verhindert werden konnte, empfinde Stocker als persönliche Niederlage, schreibt Wolf, als wäre es seine Schuld. So werde sein gebrochener Rücken zu einer sarkastischen Metapher.

In der Tat ist Stocker schon zu diesem Zeitpunkt schwer krank. Eine fortschreitende Osteoporose lässt die Wirbel seines Rückgrats in sich zusammenbrechen, er ist zwölf Zentimeter kleiner geworden. Eine kaputte Speiseröhre macht das von ihm so geliebte Essen zur Qual, Asthma das Atmen schwer, sein Tisch ist voller Medikamente, man könnte meinen, für jedes Lebensjahr eines. Er malt auch nicht mehr. Ohne Bilder im Kopf keine Bilder, sagt er. Die schöne Basler Bankierstochter Maja, die als großes Gemälde an der Wand hängt, sattgrün im Sessel und fast zimmerhoch, eine Erinnerung an eine unerhörte Liebe, hat er im Jahr 2000 auf die Leinwand gebracht.

Noch einmal hilft das Malen zu leben

2017 ermuntert ihn Guntrun Müller-Enßlin, doch an die Staffelei zurückzukehren. Sie ist Pfarrerin, Mitglied der SÖS-Fraktion, malt selbst und sieht die Stockerschen Bilder als Lebenszeichen. Sie sind nicht düster, im Gegenteil, sehr hell und pastellig. Die geistig verwandte Künstlerseele organisiert 2019 noch eine Ausstellung im Böblinger Blauen Haus für ihn, der wiederbelebte Maler wundert sich über sich selbst, dass er das hingekriegt hat, so etwas Schönes, Mythisches in dieser chaotischen Welt. Erstaunlich für einen Menschen, der Zeit seines Lebens ein Politaktivist war, aber wieder auch nicht, wenn man an seine Leidenschaft für Wiesenblumen denkt (erinnert sich Hannes Rockenbauch), an das Wachgeküsstwerden in sachlicher Leidenschaft (Werner Wölfle), an den "Rebellen mit Herz" (Brigitte Dahlbender). In solchen Augenblicken pflegte der Raubauz das spitzbübische Gangolfgrinsen aufzusetzen, mit dem er sagen wollte: Pass auf, was da noch kommt.

War da noch etwas, was er schaffen wollte? Ja, sagt er bei unserem letzten Besuch und deutet auf ein Foto, das ihn mit einer Löwenzahnblüte im Mund und seine Tochter Franziska an seiner Schulter zeigt. Sie wollte er noch porträtieren. Er hat es nicht mehr geschafft, das Augenlicht wurde immer schwächer. Am vergangenen Freitag, 26. März, ist er im Degerlocher Hospiz St. Martin gestorben. Keine Beerdigung, keine Trauerfeierlichkeiten. Er wollte es so. Seinen Körper hat er der Anatomie zur Verfügung gestellt. Als letzten Dienst an der Gesellschaft.


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5 Kommentare verfügbar

  • Eberhard Boeck
    am 03.04.2021
    Antworten
    Ich habe ihn sehr geschätzt,seit 2007 ging ich regelmäßig zu den Versammlungen der Initiative LEBEN IN STUTTGART-KEIN STUTTGART21 (im Museumraum vom Weißenhof); regelmäßig ging sein Ordner in die Runde mit den von ihm aufgeklebten Zeitungsausschnitten zum Thema S21, die Ordner mit diesen Blättern…
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