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Linksunten-Archive

Schlampiger Strafbefehl

Linksunten-Archive: Schlampiger Strafbefehl
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Die Politolog:in Detlef Georgia Schulze hat ein Archiv der verbotenen "linksunten.indymedia"-Plattform veröffentlicht und sich dazu bekannt. Nach aufwendigen Ermittlungsarbeiten folgt fünf Jahre später ein Strafbefehl – der sich jedoch gegen ein anderes Linksunten-Archiv richtet.

Eigentlich erscheint der Sachverhalt nicht allzu knifflig: Im Januar 2020 veröffentlichten Unbekannte ein Archiv des linksradikalen Portals "linksunten.indymedia". Die Seite war vom Netz genommen worden, nachdem sie das Bundesinnenministerium 2017 verboten hatte, weil es dort strafrechtlich relevante Beiträge zu lesen gab und es sich um die "wichtigste Plattform des gewalttätigen Linksextremismus" gehandelt habe. Die Veröffentlichung des Archivs knapp drei Jahre später unter der Adresse "linksunten.archive.indymedia.org" war mit dem Aufruf verbunden: "Ladet es herunter, teilt es und erstellt Mirrors der Seite."

Der Appell verleitete Politikwissenschaftler:in Detlef Georgia Schulze aus Berlin, die zuvor als Autor:in Artikel auf "linksunten" veröffentlicht hatte, ihrerseits ein Archiv ins Netz zu stellen – und zwar ebenfalls im Januar 2020 unter der Adresse "links-wieder-oben-auf.net". Nicht besonders klandestin gibt sich Schulze im Impressum zu erkennen, zudem erläutert sie in einem Editorial auf der Seite: Mit diesem Schritt wolle sie ihrer "juristischen und politischen Überzeugung" Ausdruck verleihen, "dass solche Medien wie linksunten erscheinen dürfen (= juristischer Aspekt) und erscheinen sollen (= politischer Aspekt)". Dabei halte sie nicht alles für inhaltlich richtig, "was ich – im Interesse der Meinungsäußerungs-, Presse- und Informationsfreiheit – für veröffentlichungswürdig halte". Und sie sei überzeugt, dass sie sich mit dieser Dokumentation nicht strafbar mache: "Ich werde deshalb auch die Berliner Staatsanwaltschaft über mein Tun informieren."

Tat, Motiv, Bekenntnis: Es scheint, als habe Schulze den Behörden die wichtigsten Ermittlungen abgenommen. Doch es dauerte knapp fünf Jahre, bis am 15. Oktober 2024 ein Strafbefehl folgte mit einer Geldbuße (900 Euro), verantwortlich zeichnet sich Tobias Pollmann, Richter am Amtsgericht Tiergarten. Doch offenbar ist dabei ein bisschen was durcheinandergeraten. Denn trotz Schulzes Steilvorlage richtet sich der Strafbefehl nicht gegen das Archiv unter der Adresse "links-wieder-oben-auf.net", sondern gegen ein indymedia-Archiv unter der Adresse "linksunten.tachanka.org" – ohne Impressum und ohne Bekenntnis, veröffentlicht nicht im Januar, sondern im Februar 2020. Schulze bekräftigt: Damit hat sie nichts zu tun.

"Mit Verlaub, der Strafbefehl ist wirr"

Eine Rückfrage beim Amtsgericht Tiergarten: Liegt vielleicht eine Verwechslung vor? Die Sprecherin bittet auf Anfrage zunächst, einen Presseausweis vorzulegen und antwortet, nachdem sie Publikationsnachweise des Anfragestellers überprüft hat: Nein, es gehe tatsächlich um "eine Veröffentlichung auf der Internetseite 'linksunten.tachanka.org'. Die Adresse 'links-wieder-oben-auf.net' ist nicht Gegenstand des Strafbefehls". Ob diesbezüglich ein anderes Ermittlungsverfahren anhängig sei, entziehe sich ihrer Kenntnis. Ebenso kann sie nicht beantworten, welche Tatsachen, Überlegungen und Anhaltspunkte dafür sprechen, dass Schulze auch für die Tachanka-Veröffentlichung verantwortlich sein soll: "Ich selbst kenne die Akte nicht und habe auch kein Akteneinsichtsrecht."

Um Einsicht in die Akten hat sich daraufhin Schulze bemüht und Einspruch gegen die Geldbuße eingelegt. Begründung: "Mit Verlaub, der Strafbefehl ist wirr." Als zentrales Beweismittel wird darin der Zeuge W., Polizeihauptkommissar beim Berliner LKA, angeführt – von dem allerdings keine einzige Aussage zitiert und auch sonst keine Angaben genauer ausgeführt werden. Die Akteneinsicht zwei Monate später wirft dann zu allem Überdruss noch mehr Fragen auf als sie beantwortet. Denn der Spitzenbeamte W. legte der Staatsanwaltschaft im März 2022 einen dreiseitigen Tätigkeitsbericht vor, in dem Erkenntnisse des Freiburger Kriminalhauptkommissars K. verwertet worden sind (in Freiburg kam es im Zuge des "linksunten"-Verbots zu Razzien). K. hatte die Seite "links-wieder-oben-auf.net" erfolgreich Schulze zugeordnet. Allerdings beruft er sich dabei nicht auf das Impressum oder das Bekenntnis im Editorial – er hat es nach monatelanger Korrespondenz mit diversen Internet-Firmen über eine Bestandsdatenauskunft herausgefunden.

Anklage auf "links-wieder-oben-auf.net" ummünzen?

Auf dieser Grundlage gelingt dem Karlsruher Staatsanwalt Manuel Graulich – zuständig für politische Kriminalität – noch die korrekte Zuordnung von Schulze und "links-wieder-oben-auf.net" (nicht aber von Schulze und "linksunten.tachanka.org"). Das Verfahren wird an die Berliner Staatsanwaltschaft übergeben. Was anschließend bis zum fertigen Strafbefehl passiert ist, erweist sich als Blackbox. Jedenfalls enthalte die umfangreiche Akte laut Schulze gar keine Angaben, wer für die Seite "linksunten.tachanka.org" verantwortlich sein könnte. Stattdessen heiße es auf Blatt Nummer 17, dass eben dies unklar sei.

Vielleicht haben zu viele Köche den Brei verdorben. Nach den jahrelangen Bemühungen hochrangiger Polizeibeamter, zweier Staatsanwaltschaften und eines Berufsrichters bilanziert Schulze jedenfalls: "Der verfahrensgegenständliche Strafbefehl in Bezug auf die Archiv-Veröffentlichung unter der Adresse 'linksunten.tachanka.org' hätte niemals beantragt und erlassen werden dürfen und beruht allein auf nachlässiger Aktenlektüre bei Beantragung und Erlass des Strafbefehls." Damit die großen Anstrengungen nicht ganz umsonst waren, regt sie an, die in Zweifel stehende Anklage auf "links-wieder-oben-auf.net" umzumünzen.

Von einer nicht vorliegenden Strafbarkeit war Schulze von Anfang an überzeugt. Mittlerweile müsste ein potenzielles Delikt aber ohnehin verjährt sein, glaubt sie. Die Frist liegt dabei normalerweise bei drei Jahren. Nachdem sie sich seit Januar 2020 öffentlich zur Verantwortlichkeit bekennt, ist nun eine mündliche Verhandlung auf den 10. Januar 2025 datiert. Am 3. Januar 2025 erhielt Schulze ein Schreiben des Gerichts, "dass nach vorläufiger Einschätzung ohnehin ein Freispruch erfolgen wird; es sei denn, Sie bleiben der Verhandlung unentschuldigt fern, was zwingend zur Verwerfung des Einspruchs [gegen den Strafbefehl] führen müsste". Sollte Schulze erscheinen, dürften die Kosten für das reichlich ominöse Verfahren der Staatskasse zur Last fallen.

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1 Kommentar verfügbar

  • Jörg Tauss
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Kleine Korrektur: Die Kosten solcher Justizpossen fallen nicht der Staatsanwaltschaft „zur Last“ sondern der Staatskasse und insofern leider „nur“ der steuerzahlenden Bürgerschaft…
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