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Queere Geschichte

Lücken in der Holocaustforschung

Queere Geschichte: Lücken in der Holocaustforschung
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Über manche Menschen, die der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt waren, ist wenig bekannt. Vor allem wenn es sich um Menschen handelt, die auch nach Kriegsende gesellschaftlich nicht anerkannt waren, wie trans Personen.

Liddy Bacroff beschrieb sich mit dem in der damaligen Zeit verwendeten Begriff "Transvestit". Sie ist eine der wenigen transgeschlechtlichen Personen, die in der NS-Zeit verfolgt wurde, von der eigene Selbstzeugnisse erhalten sind. Heute liegt im Hamburger Viertel St.Pauli ein Stolperstein für sie.

Bacroff wurde am 19. August 1908 in Ludwigshafen geboren, von den Großeltern aufgezogen und vom späteren Ehemann ihrer Mutter adoptiert, so dass sie den Namen Heinrich Habitz erhielt. Sie begann eine kaufmännische Lehre, die sie jedoch nicht beendete. 1924 wurde sie zum ersten Mal wegen "sittlichen Vergehens" gerichtlich verurteilt. Es sollten viele weitere Urteile in ihrem nur 35-jährigen Leben folgen. 1925 kam sie mit 17 Jahren für etwa ein Jahr in die Erziehungsanstalt Schwarzacher Hof im Odenwald. Eine Einrichtung der evangelischen Kirche, die später zum Diakonischen Werk wurde.

Im Landesarchiv Karlsruhe befinden sich verschiedene Akten und Briefwechsel der Heimleitung mit der Mutter, die ihre Besuche ankündigt und gerügt wird, da sie offenbar einen Brief an Liddy an der Heimleitung vorbeischmuggelte. Dass letztere einschüchternd auf Bacroff einwirkte, belegt ein Briefwechsel zwischen dem Heim und dem Ludwigshafener Jugendamt, das sich aufgrund ihrer Entlassung nach dem Betragen von Bacroff erkundigt. Darin steht: "Vor der Anstalt hat H. einige Furcht, das wird ihm Ursache sein, sich zusammenzunehmen."

Ihre Familie besorgt ihr nach ihrer Entlassung eine Anstellung als Bote beim Elektrizitätswerk Brown & Boweri in Mannheim. Doch 1929 wird Liddy Bacroff dort am Amtsgericht nach Paragraf 175 wegen "widernatürlicher Unzucht" zu einer zweimonatigen Haftstrafe verurteilt.

Der Paragraf 175 bestand seit dem Kaiserreich und bestrafte männliche homosexuelle Handlungen. Unter den Nationalsozialist:innen wurde er verschärft, sodass nicht nur sexuelle Handlungen, sondern auch schon Blicke und Umarmungen zu einer Verurteilung zu Zuchthaus oder Konzentrationslager führen konnten. Da die Ideologie der Nationalsozialist:innen nur zwei Geschlechter vorsah – nämlich Mann und Frau –, wurden trans Personen nicht anerkannt. Folglich wurde Sex zwischen trans Frauen und Männern wie schwuler Sex bestraft.

Kein Entkommen vor der Ermordung

Liddy Bacroff zog nach ihrer Haftentlassung für kurze Zeit nach Berlin und von dort nach Hamburg, wo sie ihren Lebensunterhalt mit Sexarbeit verdiente. Sie wird immer wieder wegen Diebstahls und Paragraf 175 verurteilt und sitzt die Strafen in unterschiedlichen Zuchthäusern für Männer ab.

Im April 1938 stellte Bacroff einen Antrag auf "freiwillige" Kastration. Vielleicht weil sie sich dadurch erhoffte, dem Konzentrationslager zu entgehen. Zumindest versuchten manche nach Paragraf 175 eingewiesene KZ-Häftlinge auf diese Weise ihre Entlassung zu bewirken. Bacroff nutze es jedoch nichts. Ihr Gesuch wurde abgelehnt.

Aus einem Schreiben des verantwortlichen Gerichtsmediziners des Hamburger Gesundheitsamts wird deutlich, wie schwierig die historische Suche nach queeren Persönlichkeiten ist, denn in den behördlichen Dokumenten sind fast ausschließlich die Sicht und die Sprache der Täter:innen zu finden. Der für Bacroff verantwortliche Mediziner begründete die Ablehnung der Kastration folgendermaßen: "Als Persönlichkeit in der geschilderten Form ist und bleibt er zweifellos ein Sittenverderber schlimmster Art und muß deshalb aus der Volksgemeinschaft ausgeschaltet werden."

Im gleichen Jahr wird Liddy Bacroff dann auch als "gefährlicher Gewohnheitsverbrecher" zu drei Jahren Zuchthaus mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Um anschließend 1942 ins KZ Mauthausen überstellt zu werden, wo sie wenig später, am 6. Januar 1943, ermordet wurde.

Nazis sahen "gemeingefährliche Geisteskrankheit"

Gleichzeitig lässt sich eine einzelne Biografie wie jene Bacroffs nicht stellvertretend für das Leben von trans Menschen im Dritten Reich auslegen. Wie heute immer noch besaßen Behörden auch früher schon einen eigenen Spielraum bei der Um- und Durchsetzung von Gesetzten. Es kam also auf die jeweiligen Sachbearbeiter:innen und das Umfeld an, ob Menschen oder Vergehen angezeigt und geahndet wurden, die dem vernichtenden Konstrukt des deutschen Volkskörpers angeblich schadeten.

Belegt ist, dass die queere Subkultur der 20er Jahre gleich nach 1933 systematisch zerstört wurde. Dadurch fehlten wichtige Anlaufpunkte für queere Menschen. Auch das von Magnus Hirschfeld gegründete Institut für Sexualwissenschaft in Berlin wurde schon 1933 gestürmt und danach geschlossen. Der Mediziner und Sexualwissenschaftler Hirschfeld zählte zu den progressiven Stimmen in Diskussionen rund um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Er sprach sich beispielsweise dafür aus, den Paragraf 175 abzuschaffen, und stellte ab 1900 sogenannte "Transvestitenscheine" aus: eine offizielle medizinische Erlaubnis zum Vorzeigen bei Polizeikontrollen für Menschen, die Kleider des angeblich "anderen Geschlechts" in der Öffentlichkeit zu tragen. Damit entgingen Menschen einerseits Haftstrafen, gleichzeitig waren sie dadurch den Behörden bekannt. Unter den Nationalsozialist:innen wurden allerdings die meisten "Transvestitenscheine" nicht verlängert und keine neuen ausgestellt.

Ob Hertha Wind, geboren mit dem Namen Adolf Wind, so einen "Transvestitenschein" besaß, ist heute nicht mehr bekannt. Auch sie wurde in Ludwigshafen geboren, einige Jahre vor Liddy Bacroff, Ende November 1897. Mit 15 Jahren fing sie an, bei der BASF zu arbeiten, meldete sich mit 17 freiwillig bei der Marine und diente im 1. Weltkrieg. Danach arbeitete sie für kurze Zeit weiter bei der BASF. Sie heiratete 1923, bekam zwei Kinder. 1931 erfolgte dann eine erste geschlechtsangleichende Operation in Frankfurt am Main.

1933, nach der Machtübergabe an Hitler und die NSDAP, wurde Hertha Wind für drei Monate in die Kreis-, Kranken-, und Pflegeanstalt Frankenthal zwangseingewiesen. Die Begründung lautete "gemeingefährliche Geisteskrankheit". Auch über sie gibt es Akten vom Gesundheitsamt und Polizeirevier Mannheim im Landesarchiv Karlsruhe, allerdings keine Selbstzeugnisse. Wind lebte bis zu ihrem Tod von einer kleinen Rente in den Mannheim Quadraten in B2 in der Nähe des Schlosses zwischen heutigem Landgericht und Schillerplatz.

Die Forschung wird kaum gefördert

Um mehr über die Leben von Liddy Bacroff und Hertha Wind oder andere trans Personen herauszufinden, müsste man in verschiedenen Archiven ganze Jahrgänge von beispielsweise Krankenakten, Gerichtsprotokolle oder Berichte von Jugendämtern nach ihren Namen durchsuchen. Eine kleinteilige und zeitaufwendige Arbeit, weshalb bisher nur wenige Biografien bekannt sind. Die Forschung über die Verfolgung queerer Menschen im NS wird erst seit ein paar Jahren und nur von wenigen Wissenschaftler:innen international vorangetrieben.

Dabei berichtet Bildungsreferentin Lisa Rethmeier, die für die Gedenkstätte Buchenwald arbeitet, gegenüber Kontext von ihrer Beobachtung, dass Jugendliche bei Gruppenarbeiten zu Häftlingsbiografien "häufig Geschichten aussuchen, wo es um das Thema Liebe und Sexualität und Geschlechtsidentität geht". Sie schlussfolgert, dass ein Interesse daran vorliegen muss. Gleichzeitig werden aktuell pädagogische Programme nur dann entwickelt, wenn eine wissenschaftliche auf Quellen basierende Forschung vorliegt. Folglich werden Workshops zur Verfolgung queerer Menschen im NS kaum angeboten.

Dass die Aufarbeitung noch nicht so weit ist, wie sie sein könnte, verdeutlicht noch einmal mehr die Stigmatisierung gegenüber queeren Menschen, die es schon vor dem Nationalsozialismus gab und die danach noch lange anhielt. Der Paragraf 175 wurde in der DDR 1968 gestrichen, in der BRD im Laufe der Jahrzehnte zwar etwas geändert, aber erst 1994 komplett abgeschafft. Seit dem 1. November 2024 ist das Selbstbestimmungsgesetz in Deutschland in Kraft getreten. Das bedeutet, Menschen können in Zukunft eigenständig ohne gesondertes Gutachten bei Standesämtern ihren Vornamen und Geschlechtseintrag anpassen lassen.


Zum Thema läuft aktuell die Ausstellung "gefährdet leben. Queere Menschen 1933-1945" der Bundesstifung Magnus Hirschfeld vom 10. Januar bis zum 16. Februar im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg. Danach ist sie vom 21. Februar bis zum 27. März in der Abendakademie und Volkshochschule in Mannheim zu sehen.

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Ausgabe 720 / Weiter so, Elon! / Cornelius W. M. Oettle / vor 9 Stunden 37 Minuten
Danke, werd ich mir gleich mal anhören!




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