Merkwürdig still ist es um die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland geworden in Zeiten von Corona. Es scheint, dass sich die Verantwortlichen schnell damit zufrieden gegeben haben, als der Besuch von Gottesdiensten während der Pandemie endlich wieder erlaubt war. Doch darüber hinaus haben die Menschen sie im Hinblick auf ihre Ängste und Sorgen in der Krise weitgehend sprachlos erlebt. Das hat selbst Pfarrerinnen und Pfarrer an ihrer Kirche verzweifeln lassen, der manche hinter vorgehaltener Hand sogar ein totales Versagen angesichts der Pandemie attestiert haben. "Die Kirchen haben sich weggeduckt", sagt ein Theologe aus dem Landkreis Esslingen, der namentlich nicht genannt werden will.
Was ist los mit den Kirchen? Sie wirken wie paralysiert, ihre Botschaften klingen schal. An Pfingsten haben die katholischen und evangelischen Bischöfe reflexartig wieder einmal zur Solidarität aufgerufen und Gerechtigkeit angemahnt – und das ein Jahr nach Beginn der Pandemie. Erst jüngst hat der württembergische evangelische Landesbischof Frank Otfried July globale Gerechtigkeit gefordert. Schöne Worte, nichtssagend und ohne Konsequenzen.
Julys katholischer Amtskollege, der Rottenburger Bischof Gebhard Fürst, musste sich sogar von Verschwörungstheorien einer Gruppe hochrangiger Geistlicher distanzieren , der auch der deutsche Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller angehört. Ohnehin hat sich die katholische Kirche völlig verstrickt in ihre Missbrauchsskandale. Jüngstes Beispiel: die Erzdiözese Freiburg und ihr Umgang mit einem Fall aus dem Jahr 1990. Auch hier war die erste Reaktion zunächst Abwehr. Dass dadurch Vertrauen verspielt wird, zeigen die Vorgänge um den Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki.
Dessen missglückte Kommunikationsstrategie hat jetzt den Papst veranlasst einzugreifen. Aber auch beim aktuellen Oberhaupt der katholischen Kirche ist von der anfänglichen Begeisterung nicht mehr viel übrig. Als Hoffnungsträger und Erneuerer angetreten, rüttelt Papst Franziskus längst nicht mehr an den konservativen Traditionen der Amtskirche. So kam ein striktes Nein aus Rom zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare. In Württemberg hat der Streit darüber fast zu einem Zerwürfnis zwischen konservativen Gläubigen und Kirchenleitung geführt.
Austrittszahlen auf Rekordhoch
Wenn sich die Kirchen nur noch um sich selbst drehen, wen wundert es da, dass Gläubige ihnen scharenweise den Rücken kehren? Auch auf die evangelische Kirche färben die Skandale ab, sie hat sich im Schatten der katholischen Kirche bisher bedeckt halten können, steht aber in Sachen Missbrauchsaufarbeitung noch am Anfang. Hier lichten sich die Reihen ebenso. Kirche scheint im Alltag der Menschen keine Bedeutung mehr zu haben. Viele bleiben nur drin, weil sie im Hinterstübchen doch noch auf geistlichen Beistand bei Krankheit und Sterben setzen.
Die Austrittszahlen sind alarmierend. 2019 lag ihre Zahl bei einer halben Million, ein Rekordhoch. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, konstatiert zu Recht: "Die Kirchenaustrittszahl zeigt, dass die Entfremdung zwischen Kirchenmitgliedern und einem Glaubensleben in der kirchlichen Gemeinschaft noch stärker geworden ist." Nur, ein Rezept dagegen hat er nicht.
Der Handlungszwang scheint noch nicht groß genug zu sein. Immer noch gehört nämlich rund die Hälfte der Bevölkerung einer Kirche an. Aber prognostiziert wird, dass die Zahlen in den kommenden Jahren bis 2060 rasant von mehr als 40 auf 23 Millionen sinken werden. Eine Zahl, die nicht nur dem demografischen Wandel, also einer immer älter werdenden Gesellschaft zuzuschreiben ist.
Zugleich sind die Kirchen hierzulande so reich wie nie zuvor. Rekordeinnahmen in Höhe von knapp 13 Milliarden Euro an Kirchensteuern hat es 2019 in die Kassen gespült. Die Millionen treibt der Staat ein, und immer mehr Menschen empfinden diese Unterstützung als ungerecht. Es ist zwar immer die Rede davon, dass Kirche und Staat in Deutschland getrennt sind, aber das ist nur auf den ersten Blick so. Die Verflechtungen sind eng, und die Kirchen positionieren sich gern an der Seite des Staates. Wie erleichtert waren die Verantwortlichen, als die württembergische Kirche im Jahr 2007 als letzte unter den evangelischen Landeskirchen einen Staatskirchenvertrag abschließen konnte. Damit waren die verlässlich fließenden Staatsgelder gesichert auch für den Religionsunterricht.
Seenotrettung ja, aber Händchenhalten mit der Politik
Wer also nach den Ursachen der Entfremdung von Kirche und Kirchenvolk sucht, muss gar nicht so weit gehen. Die Kirchen haben sich an der Seite des Staates gut eingerichtet und es sich auch ein Stück weit bequem gemacht. Zugegeben, es ist aller Ehren wert, wenn der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, den Tod von Flüchtlingen im Mittelmeer anprangert, die Untätigkeit der EU als Skandal brandmarkt und selbst ein Rettungsschiff aufs Meer schickt. Damit übernimmt die Kirche eine Aufgabe, die eigentlich die Politik übernehmen müsste. Aber die Politiker überzeugen kann Bedford-Strohm trotz aller Appelle und Aktionen für die Seenotrettung nicht. Sie laufen ins Leere, wenn die Kirche auf der anderen Seite mit der Politik Händchen hält.
Es ist schon einige Jahrzehnte her, dass die Kirche wieder den Stachel ausfährt und für ihre Ziele auch Massen mobilisierte. Hatte der Ökumenische Rat der Kirchen nicht 1998 eine Dekade zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung ausgerufen? Die ist dann vor ein paar Jahren still und leise in nichtssagenden Floskeln begraben worden. Und in den 1980er-Jahren waren die evangelischen Kirchentage noch friedensbewegt. Da wurde gegen den "Militärwahnsinn" mobilisiert.
Heute tanzt man mit der Politik lieber Ringelreihen, artikuliert artig seinen Protest, eckt aber wenn möglich nur ein klein wenig an. Auch der jüngste Ökumenische Kirchentag im Mai plätscherte im Netz als digitaler Event vor sich hin und endete in allgemeinen Floskeln. Ein gut gemeintes Unterhaltungsprogramm für schlappe 18 Millionen Euro. Kein Wunder, dass bei Politikerinnen und Politikern evangelische Kirchentage und Katholikentage inzwischen beliebte Plattformen sind, um sich zu präsentieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel kann man da mal ganz privat als überzeugte Christin erleben, auch der Austausch mit der Galionsfigur von Fridays for Future, Luisa Neubauer, macht sich gut. Sicher eine schöne Erinnerung für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), lange Jahre aktiv im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, dem höchsten Laiengremium der katholischen Kirche, liegen die Kirchen besonders am Herzen – als moralisches Fundament und als Kitt der Gesellschaft. Kirche also als gleichberechtigter Partner der Politik? Weit gefehlt. Als der ehemalige US-Präsident Barack Obama beispielsweise 2017 beim Evangelischen Kirchentag in Berlin bei einer Podiumsdiskussion mit Angela Merkel auftrat, war EKD-Ratsvorsitzender Bedford-Strohm nur noch Statist.
Die Deutungshoheit haben längst andere
Solche Vorfälle sollten sich die Kirchen zu Herzen nehmen, sonst verkommen sie in der Rolle des Wertelieferanten zu willigen Dienstleistern. Auch die wenigen Fälle von Kirchenasyl im Südwesten finden nach in Absprache mit dem Staat vereinbarten Regeln statt.
Ein scharfes Profil sieht anders aus. Längst haben andere die Deutungshoheit in gesellschaftlichen Fragen übernommen. Die Jungen von Fridays for Future kümmern sich um die Bewahrung der Schöpfung. Den Kirchenbeamten liegt beim Klimaschutz eine Zertifizierung nach EU-Regeln ohnehin näher als handfester Protest. Nicht Theologen, sondern Hirnforscher definieren die Grenze zwischen Leben und Tod, und Pfarrerinnen und Pfarrer sind inzwischen auch beim letzten Gang oft nicht mehr die erste Wahl. Spiritualität scheint manche und mancher heute eher beim Waldbaden zu finden als zwischen Kirchenmauern.
Es gibt für die Kirchen offenbar nicht viel zu sagen zu den drängensten Ängsten der Menschen. Aber Fragen gibt es doch genug: Sind aus theologischer Sicht Lehren aus der Pandemie zu ziehen? Braucht Wissenschaft nicht auch ein kirchliches Korrektiv? Wie geht es weiter mit unserem Gesundheitssystem? Aus christlicher Sicht durchaus eine Herausforderung. Aber da müssten die Kirchen auch kritische Fragen an ihre eigenen Einrichtungen stellen, die längst effizienzorientierte Wirtschaftsbetriebe sind – das Nein der Caritas zu einem Pflegetarifvertrag ist nur ein Beispiel (Kontext berichtete).
Die Kirchen glänzen in der Corona-Pandemie durch Mut- und Ratlosigkeit. Im reichen Südwesten hütet man eifrig den Status quo. Aus dem Blick geraten scheint den Kirchen ihr ureigenster biblischer Auftrag. Da geht es um die Würde nicht nur des Menschen, sondern aller Kreaturen und der Schöpfung. Eine Institution, die diesen Zielen folgt, muss dies nah am Menschen tun. Alles liegt am Engagement der Pfarrerinnen und Pfarrer, das aber oft erlahmt in Gottesdienstritualen und Kirchenbürokratie.
Die offizielle Kirche, ob katholisch oder evangelisch, scheint zufrieden in der Behäbigkeit staatlicher Alimentierung, Reformen sind nicht in Sicht. Komfortabel ist dies allemal, aber damit besteht die Gefahr, künftig in die Bedeutungslosigkeit abzustürzen, wenn immer mehr Mitglieder der Institution den Rücken kehren.
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R.Gunst
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