Bei Sevinç (30), Jessica (29), Markus (32) und Martin (40) ist das Private politisch. Wie jeden Dienstag sitzen sie mit weiteren FreundInnen in Markus' WG in Bad Cannstatt. Spielen "Trivial Pursuit" oder Quizze. Süffeln mitgebrachte Getränke und qualmen wie die Schlote. Reden über Marx, Adorno oder Judith Butler. Diskutieren aktuelle Gender-Debatten anhand von Selbsterlebtem aus Bus und Büro. Dann streiten sie leidenschaftlich über ihre unterschiedlichen Haltungen zu Prostitution, Pornografie, Israel oder die Verbannung des Begriffs "Neger" aus ihrem Wortschatz. Als eine Freundin in der gemütlichen Wohnküche des Altbaus gesteht, dass sie (wieder) Fleisch isst, zieht Martin vorwurfsvoll die Augenbrauen hoch. "Ein Loch in der Matrix" sei es schon, wenn man Weltverbesserin sei, aber trotzdem Tiere esse, bemerkt er spitz. Alle Anwesenden haben irgendwas mit Menschen, Aristoteles und Ratio studiert. Gott und Religion sind nur dann Thema, wenn man sich darüber lustig machen kann.
Als Sevinç sich nach einer Quizfrage über den Papst darüber echauffiert, dass Markus, Jessica und Martin noch in der Kirche sind – "einem Laden, der allem widerspricht, für das ihr steht!", ist die höchste Eskalationsstufe gezündet. Das Ende vom Lied: Die quizzenden GeisteswissenschaftlerInnen und sozialen ArbeiterInnen aus Bad Cannstatt haben sich in einen Gruppenstreit bis morgens um drei hineingesteigert. Und zwar nicht im Jahr 1968, sondern 2016.
Das Thema "Kirche" ist seit den Achtundsechzigern nicht ausdiskutiert. Zwar sinkt die Zahl der Kirchenaustritte seit Mitte der 1960er-Jahre zunehmend. Doch während im Rekordjahr 2014 noch rund 218 000 Katholiken und 270 000 Protestanten deutschlandweit der Kirche den Rücken gewendet haben, traten im Jahr 2015 nur noch 182 000 Katholiken und 210 000 Protestanten aus den christlichen Institutionen aus. Nach der Veröffentlichung der aktuellen Kirchenstatistiken diesen Sommer freute sich der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, sogar über die gestiegene Zahl an Taufen und Trauungen im Vergleich zum Vorjahr und dem Wunsch nach den Sakramenten der Kirche.
Kirchenaustritte haben abgenommen
Dass sie die kirchlichen Statistiken mit in die Höhe treiben, finden die Kirchenmitglieder vom linken Spieleabend nicht gut. Da der Kexit, wie der Kirchenaustritt an diesem Abend getauft wurde, in Baden-Württemberg aber bis zu 60 Euro kostet, verlaufen Ausstiegsgedanken oftmals im Sand. Schnell kommt auf den Tisch, dass Jessica, Markus und Martin als SozialarbeiterInnen Job-Probleme bekommen könnten. Große Träger deutscher Sozialeinrichtungen, wie Caritas und Diakonie, dürfen als "Tendenzbetriebe" von ihren Angestellten verlangen, dass sie katholisches oder evangelisches Kirchenmitglied sind. "Das ist eine Riesenfrechheit. Wir müssen Kirchenmitglieder sein, um anderen Menschen helfen zu dürfen", sagt Jessica wütend.
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Adelheid
am 16.09.2016