Da hatte es Jürgen Roth satt, da spuckte er seine Wörter den Gegnern ins Gesicht! Am 7. Juni 2018 schreibt der Autor und Sprachwissenschaftler im "Freitag": "Es wütet, ausgehend von einer über ihrem 'Diversity'-Mantra verrückt gewordenen, ungebildeten, moralpolitisch verhärteten, feindfixierten postmodernen Linken, ein regressiv-antiaufklärerischer, antiliberaler Opferkult, der die wechselseitige Infantilisierung aller forciert. Dem Kulturprotestantismus unter dem falschen Kleid der Toleranz eignet ein inquisitorischer Wahn, der nichts anderes artikuliert als die narzisstisch präsentierte Unlust an der Welt, als die Weigerung, sich mit der Widersprüchlichkeit des Lebens zu beschäftigen, oder überhaupt mit etwas, das in die Nähe von Erfahrung gelangte." Wow! Hat Roth in seiner Kritik jedes Maß verloren?
Doch jetzt, zwei Jahre später, konstatieren auch 152 Intellektuelle aus dem Literatur-, Kunst- und Universitätsmilieu, dass der freie Austausch von Informationen und Ideen, der "Lebensnerv einer liberalen Gesellschaft", nicht nur durch die Rechte in Gefahr gerät, sondern auch "in unserer Kultur" immer mehr eingeengt werde.
Der Ton in diesem "Letter on Justice and Open Debate", den unter anderem Margaret Atwood, Louis Begley, Noam Chomsky, Jeffrey Eugenides, Francis Fukuyama, Daniel Kehlmann, Greil Marcus, J.K. Rowling, Gloria Steinem und Salman Rushdie unterzeichnet haben, ist höflicher als der in Jürgen Roths Schaum-vorm-Mund-Attacke. Die Diagnose aber ist ähnlich. Es breite sich eine "Atmosphäre von Zensur aus: Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, öffentliche Anprangerung und Ausgrenzung sowie die Tendenz, komplexe politische Fragen in moralische Gewissheiten zu überführen."
Werfen wir einen Blick auf deutsche Verhältnisse, beginnen wir erneut im Jahr 2018 mit einer Hauswand der Berliner Alice Salomon Hochschule und dem darauf zu lesenden Gedicht "avenidas" von Eugen Gomringer, das übersetzt so endet: "avenidas y flores y mujeres y / un admirador". Der Asta kritisierte diese Sätze wie folgt: "Ein Mann, der auf die Straßen schaut und Blumen und Frauen bewundert. Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind." Überzogene Kritik? Nicht für die Hochschule, das Gedicht wurde entfernt.
Männer sind Arschlöcher – weltweit
Noch'n Gedicht: Die Feministin Sibel Schick hat eins geschrieben, es heißt "Männer sind Arschlöcher". Die letzte Strophe: "Du sagst: 'Nicht alle Männer sind gleich.' / Ich sage: 'Ist das nicht irrelevant vielleicht?' / Denn es ist ein strukturelles Problem, / Und ja, es ist kein individuelles Problem, / Und nein, es geht nicht um Ausnahmen, / Denn es ist ein weltweites Phänomen, / Dass Männer Arschlöcher sind." Sibel Schick richtet ihren Beschimpfungsfuror nicht nur gegen Männer, im "Neuen Deutschland" wütet sie auch gegen die angeblich transfeindliche Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling, die lieber als Frau denn als "Mensch, der menstruiert" bezeichnet werden will. Und sie wütet gegen das "Emma"-Magazin und zitiert zustimmend die Ex-US-Außenministerin: "Madeleine Albright sagte, es gebe einen eigenen Platz in der Hölle für Frauen, die anderen Frauen nicht helfen."
Sibel Schick hat auch den Hashtag "menaretrash" in die Welt gesetzt. Ihre Mitstreiterin Hengameh Yaghoobifarah hat in der taz "nur" alle Polizisten als Müll bezeichnet. Ihr Text wurde in der Redaktion heftig diskutiert, Christian Jakob zeigt am 24.6. 2020 auf, "wo die Differenzen liegen: in der Frage, was es genau bedeutet, wer spricht. Vor allem jüngere KollegInnen halten dies heute für entscheidend. Das zeigte auch der Tweet einer Kollegin ...: Sie hätte sich 'gewünscht, dass all die White Privilege People' nichts zu der 'Müll'-Kolumne gesagt hätten ... Den Diskurs sollten diejenigen führen, die wirklich etwas zu struktureller Diskriminierung zu sagen haben." Entscheidend sei also, so Jakob, "die Zugehörigkeit zu einem privilegierten oder zu einem unterdrückten Kollektiv ... Rassistisch etwa ist demnach, was von einer – im Zweifelsfall einzigen – Poc so empfunden wird."
Den Eliten kann nichts Besseres passieren
Bernd Stegemann dazu in der "Zeit" (9. Juli 2020): "Was wie ein fairer Gedanke klingt, führt jedoch wie alles, was den Universalismus aushebeln will, zu unlösbaren Widersprüchen. Wie will man einem arbeitslosen, alten weißen Mann verbieten, gegen den 'großen Austausch' zu wettern, wo er doch offensichtlich ganz weit unten ist?" Der Philosoph Kwame Anthony Appiah antwortet auf die Feststellung eines "Zeit"-Interviewers, dass Schwarze und Schwule wie er in der intellektuellen Welt privilegiert seien, das wisse er natürlich: "Umgekehrt ist es empörend, wenn man armen Weißen erzählt, sie seien privilegiert. In Hinsicht der Hautfarbe mag das stimmen. Aber ihre hervorstechende Eigenschaft ist nicht, dass sie privilegiert sind, sondern dass sie arm sind."
8 Kommentare verfügbar
Maria Busold
am 17.02.2022Am Ende steht ein "admirador".
Wo aber steht denn, dass der Bewunderer automatisch ein Mann sein muss?
Gedichte haben viel mit Versmaß zu tun, es könnte auch das generische Maskulinum sein.
Ich selbst schaue auch lieber…