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Impfgegner

Mehr differenzieren, bitte!

Impfgegner: Mehr differenzieren, bitte!
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Der Artikel von Dietrich Krauß über Impfmüdigkeit im Südwesten und die Rolle der Anthroposophie hat vielfältige Reaktionen ausgelöst. Unser Gastautor, langjähriger Waldorflehrer und Mitglied in anthroposophischen Gremien, mit einer Erwiderung.

Wir erleben zum ersten Mal eine Pandemie, die wirklich ihren Namen verdient. Was mich daran besonders überrascht hat, ist die große Ratlosigkeit der Experten. Wie genau verbreitet sich der Virus? Tröpfchen, Aerosole, Flächenkontakt? Hilft eine Maske? Wie lange hält eine Immunität? Welche Maßnahmen sind angebracht? Eine weltweite Debatte setzt ein. Einig ist man sich, dass eine Impfung helfen könnte, also beginnt ein Wettrennen um einen Impfstoff, der womöglich schon in Kürze verfügbar sein soll. Eine "Wette auf eine Technologie, die schon lange auf ihren Durchbruch wartet", wie die "Zeit" schreibt, auf die neuartigen RNA-basierten Impfstoffe, bei denen man direkt am Bauplan des Menschen ansetzt. Also wird debattiert, und das ist gut so.

Zur Debatte gehört kompetente Information, und hier setzt meine Frage an Herrn Krauß ein. Er beginnt seinen Artikel mit einer Art Schlachtruf und identifiziert auch gleich den Gegner – die Anthroposphie Rudolf Steiners samt ihren Verzweigungen. Wenn eine "Debatte" mit einer deutlichen pauschalen Voreingenommenheit beginnt, ist der Ausgang abzusehen. Und so geht es in diesem Text gar nicht eigentlich um eine sachliche Auseinandersetzung, um Für und Wider, sondern um den Einsatz von griffigen Schlagworten zur Darlegungen einer Meinung. Ich bin kein Mediziner, also kann ich mich zum Thema Impfen nicht kompetent äußern. Ich will also zu dieser Facette des Artikels lediglich auf Methode und Begrifflichkeit des Autors eingehen.

Was haben die Waldorfschulen mit Esoterik zu tun?

Da ist zu Beginn die Feststellung, dass "nirgendwo in Deutschland" die Impfquote niedriger ist als im Land der "schwäbischen Impfparanoia". Das mag stimmen, aber die Unterschiede liegen im Bereich von 0,7 bis 4 Prozent. Ein Zusammenhang dieser Feststellung mit der Anthroposophie ist nicht ersichtlich, ebenso wenig wie bei den folgenden Zielscheiben. Weder die "Querdenker-Demo" noch das "Stuttgarter Impfsymposion" sind anthroposophische Veranstaltungen, selbst wenn dabei Anthroposophen aufgetreten sein mögen. Und so wird auch im weiteren Verlauf alles Greifbare in einem großen Topf verrührt; eine "Impfallergie" entsteht, und Krauß wundert sich nicht, dass die Angst davor "besonders im Südwesten auf fruchtbaren Boden fällt", weil der ja "seit Langem biologisch-dynamisch gedüngt" ist.

Dr. Bruno Sandkühler, Jahrgang 1931, absolvierte nach der Schulzeit an Waldorf- und Staatsschulen ein Studium in Anglistik, Romanistik und Orientalistik in Florenz, Perugia, Paris, München und Freiburg. Promotion über die frühen Dantekommentare. Von 1960 bis 2001 arbeitete er als Waldorflehrer und Geschäftsführer einer Waldorfschule sowie in verschiedenen Gremien der Waldorf-Bewegung (Landesarbeits-Gemeinschaft, Länderkonferenz, European Council for Waldorf Education, Arbeitsgemeinschaft Freier Schulen des European Council of National Associations of Independent Schools).  (red)

Ein hübsches Bild, das er aber lieber nicht ins Rhetorikseminar bringen sollte. In den folgenden Absätzen kommen weitere Zutaten in die Suppe, der Autor verliert die Anthroposophie vorübergehend aus dem Blick, bis sie wieder im Verein mit den Grünen aus dem Gemisch der NS-Rassentheoretiker, Naturfreunde, Kneippianer, Homöopathen auftauchen, als "the elephant in the room".

Jetzt aber geht es richtig zur Sache mit weiteren sprachlichen Meisterleistungen. In Stuttgart, der "Hauptstadt der eurythmischen Bewegung", hat die Waldorfschule ihr hundertjähriges Bestehen gefeiert. Obwohl doch "an Waldorfschulen oft Kinderkrankheiten ausbrechen", ist das biedere Bürgertum mit Steiners Esoterik liiert. Hier wäre eine Erklärung hilfreich, in welcher Weise diese bürgerlich-esoterische Liaison zu denken ist und was genau die über tausend Waldorfschulen in aller Welt mit Esoterik und den "Abgründen von Steiners Okkultismus" zu tun haben. Immerhin bekommen wir für Stuttgart noch einen Hinweis: Das "spezifische Klima alternativer Spießbürgerlichkeit" hat hinter dem "harmlosen Image" diese Abgründe nicht durchschaut. Mein Urgroßvater, der Architekt des Königsbaus, der Feuerseekirche und der Villa Berg, hätte sich im Grabe umgedreht bei dieser Klassifizierung.

Rassismus wird in der Anthroposophie hitzig diskutiert

Das Thema Rassismus hat zwar nicht unbedingt mit Impfen zu tun, darf aber im Krauß'schen Arsenal natürlich nicht fehlen. In der Tat gibt es in den Vorträgen Steiners Stellen, die aus heutiger Sicht höchst problematisch erscheinen. Eine grundsätzliche Äußerung Steiners bildet den Titel einer Arbeit, in der sich Hans-Jürgen Bader, Lorenzo Ravagli und Manfred Leist mit dieser Frage auseinandersetzen: "Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit". Das Thema sorgt aber weiterhin für erhitzte Auseinandersetzungen. Es erschiene mir fruchtbarer, die heutigen Waldorfschulen und anthroposophischen Veröffentlichungen auf einen angeblichen Rassismus zu untersuchen – z.B. In Nairobi, São Paulo, Mumbai oder in Israel. Nicht wenige europäische Waldorfschulen haben sogenannte Willkommensklassen für Geflüchtete eingerichtet, so etwa in Graz oder in Kassel.

Doch zurück zum Impfen. Ungeachtet dieser okkulten Abgründe "grenzen sich die anthroposophischen Oberärzte in den offiziellen Stellungnahmen der Fachgesellschaft klar ab von ordinären Impfgegnern", und "führende anthroposophische Mediziner" akzeptieren die gesetzliche Impfpflicht. Selbst bei einer solchen Feststellung kann sich Krauß eine versteckte Unterstellung nicht verkneifen, indem er die Tatsache auf die offiziellen Stellungnahmen eingrenzt. Doch "das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit": Da gibt es einen Verein "Ärzte für individuelle Impfentscheidung", der sich allerdings von einer generellen Impfgegnerschaft ausdrücklich absetzt.

Dass es so etwas wie Differenzierung in den anthroposophischen Abgründen gibt, könnte Herrn Krauß auf den Gedanken bringen, dass das mit Meinungsfreiheit und mit dem kritischen Hinterfragen der Zeitläufte zusammenhängen könnte. Zu dieser Differenzierung gehört die Tatsache, dass an Waldorfschulen nicht Anthroposophie gelehrt wird, obgleich ihnen ein anthroposophisches Menschenbild zu Grunde liegt. Es gehört auch dazu, dass in der Pädagogik der unkritische Einsatz von digitalen Hilfsmitteln hinterfragt und in der Landwirtschaft nachhaltig gearbeitet wird. Der anthroposophisch inspirierte SEKEM-Betrieb in Ägypten hat vor Jahrzehnten nachgewiesen, dass mit biologisch-dynamischem Anbau hochwertige Baumwolle kostengünstiger wächst, sodass die ägyptische Regierung das Besprühen der Felder mit Pestiziden im Nildelta eingestellt hat.

Eine Persiflage verhindert eine ernsthafte Diskussion

Differenzierung in den anthroposophischen Abgründen – das trifft auch auf Christoph Hueck zu und sogar auf Ken Jebsen (obwohl auch der offenbar Waldorfschüler war!). Hier wäre Gelegenheit gewesen, in eine fundierte Diskussion einzutreten; stattdessen folgt ein Rundumschlag: Mit der Anthroposophie hat sich der Autor immerhin so weit beschäftigt, dass er mit ausgesuchten, möglichst fremdartig anmutenden Zitaten Stimmung machen kann, wobei er vor versteckten eigenen Einfügungen nicht zurückscheut. Das Ganze geht dann ins Kabarettistische über, da "geht die okkulte Luzi ab". Cool!

Dass Anthroposophie ein dankbares Objekt für Persiflagen abgibt, ist kein Geheimnis, ist aber in einer ernsthaften Debatte nicht gerade konstruktiv. Ich habe wegen der NS-Verbotszeit nur drei Jahre die Waldorfschule besucht, habe mein Abitur auf dem Gymnasium abgelegt und an ganz normalen Universitäten studiert, war aber als Lehrer später über 40 Jahre an Waldorfschulen im In- und Ausland tätig, habe die europäischen Freien Schulen im Europarat vertreten und konnte als Mitglied im "European Council of Steiner Waldorf Pedagogy" in Konferenzen mit Ministerien europäischer Staaten auf Augenhöhe über Waldorfpädagogik sprechen.

So kenne ich nicht nur die Vorzüge der Waldorfschule, sondern auch die Probleme, mit welchen sie ringt. So bringt das Ideal der kollegialen Schulführung erhebliche Herausforderungen mit sich (Beschlussfassung, verantwortliche Außenvertretung). Weitere Probleme liegen in der adäquaten Beurteilung von Schülern und Schülerinnen und dem Ziel, Laufbahnentscheidungen bis zum Abschluss der Schulzeit offenzuhalten. Auch der Mangel an qualifizierten Lehrern macht einigen Schulen zu schaffen, was auch finanzielle Gründe hat.

Der Autor jedoch sieht nur "esoterische Abgründe". Sachlich unrichtig ist schon die Aussage, die Waldorfschulen hängen am staatlichen Tropf. In Wirklichkeit erhalten sie in Deutschland nur einen Teil dessen, was alle Eltern zur Finanzierung des Schulwesens an Steuern beitragen. In anderen Ländern erhalten sie vom Staat gar nichts. Waldorfschüler kommen aus unterschiedlichsten Elternhäusern und bevor man von Indoktrinierung spricht, sollte man mit einer nennenswerten Anzahl von Schülern und Eltern sprechen. Man verschließt "im Südwesten" und weltweit nicht vor den "esoterischen Abgründen der "Steinerschen Lehre" "fest die Augen", sondern man hat sie als eine wirksame Alternative anerkannt.

Herr Krauß würde sich schwertun, in Schulvereinsvorständen von Waldorfschulen die "Esoteriker" und "Okkultisten" seines Feindbildes zu finden. In seinem Schlussabsatz findet sich jedoch eine beherzenswerte Anregung: kritische Debatte. Womöglich ohne verinnerlichte Vorurteile.


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35 Kommentare verfügbar

  • Andreas Lichte
    am 17.12.2020
    Antworten
    „Interview

    Anthroposophie und Antisemitismus

    Auf den Querdenker-Demonstrationen der vergangenen Monate traten Anthroposophen Seite an Seite mit Rechten auf. Tipps gegen den hierdurch entstandenen Imageschaden holte sich die "Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland" beim…
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