Ein hübsches Bild, das er aber lieber nicht ins Rhetorikseminar bringen sollte. In den folgenden Absätzen kommen weitere Zutaten in die Suppe, der Autor verliert die Anthroposophie vorübergehend aus dem Blick, bis sie wieder im Verein mit den Grünen aus dem Gemisch der NS-Rassentheoretiker, Naturfreunde, Kneippianer, Homöopathen auftauchen, als "the elephant in the room".
Jetzt aber geht es richtig zur Sache mit weiteren sprachlichen Meisterleistungen. In Stuttgart, der "Hauptstadt der eurythmischen Bewegung", hat die Waldorfschule ihr hundertjähriges Bestehen gefeiert. Obwohl doch "an Waldorfschulen oft Kinderkrankheiten ausbrechen", ist das biedere Bürgertum mit Steiners Esoterik liiert. Hier wäre eine Erklärung hilfreich, in welcher Weise diese bürgerlich-esoterische Liaison zu denken ist und was genau die über tausend Waldorfschulen in aller Welt mit Esoterik und den "Abgründen von Steiners Okkultismus" zu tun haben. Immerhin bekommen wir für Stuttgart noch einen Hinweis: Das "spezifische Klima alternativer Spießbürgerlichkeit" hat hinter dem "harmlosen Image" diese Abgründe nicht durchschaut. Mein Urgroßvater, der Architekt des Königsbaus, der Feuerseekirche und der Villa Berg, hätte sich im Grabe umgedreht bei dieser Klassifizierung.
Rassismus wird in der Anthroposophie hitzig diskutiert
Das Thema Rassismus hat zwar nicht unbedingt mit Impfen zu tun, darf aber im Krauß'schen Arsenal natürlich nicht fehlen. In der Tat gibt es in den Vorträgen Steiners Stellen, die aus heutiger Sicht höchst problematisch erscheinen. Eine grundsätzliche Äußerung Steiners bildet den Titel einer Arbeit, in der sich Hans-Jürgen Bader, Lorenzo Ravagli und Manfred Leist mit dieser Frage auseinandersetzen: "Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit". Das Thema sorgt aber weiterhin für erhitzte Auseinandersetzungen. Es erschiene mir fruchtbarer, die heutigen Waldorfschulen und anthroposophischen Veröffentlichungen auf einen angeblichen Rassismus zu untersuchen – z.B. In Nairobi, São Paulo, Mumbai oder in Israel. Nicht wenige europäische Waldorfschulen haben sogenannte Willkommensklassen für Geflüchtete eingerichtet, so etwa in Graz oder in Kassel.
Doch zurück zum Impfen. Ungeachtet dieser okkulten Abgründe "grenzen sich die anthroposophischen Oberärzte in den offiziellen Stellungnahmen der Fachgesellschaft klar ab von ordinären Impfgegnern", und "führende anthroposophische Mediziner" akzeptieren die gesetzliche Impfpflicht. Selbst bei einer solchen Feststellung kann sich Krauß eine versteckte Unterstellung nicht verkneifen, indem er die Tatsache auf die offiziellen Stellungnahmen eingrenzt. Doch "das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit": Da gibt es einen Verein "Ärzte für individuelle Impfentscheidung", der sich allerdings von einer generellen Impfgegnerschaft ausdrücklich absetzt.
Dass es so etwas wie Differenzierung in den anthroposophischen Abgründen gibt, könnte Herrn Krauß auf den Gedanken bringen, dass das mit Meinungsfreiheit und mit dem kritischen Hinterfragen der Zeitläufte zusammenhängen könnte. Zu dieser Differenzierung gehört die Tatsache, dass an Waldorfschulen nicht Anthroposophie gelehrt wird, obgleich ihnen ein anthroposophisches Menschenbild zu Grunde liegt. Es gehört auch dazu, dass in der Pädagogik der unkritische Einsatz von digitalen Hilfsmitteln hinterfragt und in der Landwirtschaft nachhaltig gearbeitet wird. Der anthroposophisch inspirierte SEKEM-Betrieb in Ägypten hat vor Jahrzehnten nachgewiesen, dass mit biologisch-dynamischem Anbau hochwertige Baumwolle kostengünstiger wächst, sodass die ägyptische Regierung das Besprühen der Felder mit Pestiziden im Nildelta eingestellt hat.
Eine Persiflage verhindert eine ernsthafte Diskussion
Differenzierung in den anthroposophischen Abgründen – das trifft auch auf Christoph Hueck zu und sogar auf Ken Jebsen (obwohl auch der offenbar Waldorfschüler war!). Hier wäre Gelegenheit gewesen, in eine fundierte Diskussion einzutreten; stattdessen folgt ein Rundumschlag: Mit der Anthroposophie hat sich der Autor immerhin so weit beschäftigt, dass er mit ausgesuchten, möglichst fremdartig anmutenden Zitaten Stimmung machen kann, wobei er vor versteckten eigenen Einfügungen nicht zurückscheut. Das Ganze geht dann ins Kabarettistische über, da "geht die okkulte Luzi ab". Cool!
Dass Anthroposophie ein dankbares Objekt für Persiflagen abgibt, ist kein Geheimnis, ist aber in einer ernsthaften Debatte nicht gerade konstruktiv. Ich habe wegen der NS-Verbotszeit nur drei Jahre die Waldorfschule besucht, habe mein Abitur auf dem Gymnasium abgelegt und an ganz normalen Universitäten studiert, war aber als Lehrer später über 40 Jahre an Waldorfschulen im In- und Ausland tätig, habe die europäischen Freien Schulen im Europarat vertreten und konnte als Mitglied im "European Council of Steiner Waldorf Pedagogy" in Konferenzen mit Ministerien europäischer Staaten auf Augenhöhe über Waldorfpädagogik sprechen.
So kenne ich nicht nur die Vorzüge der Waldorfschule, sondern auch die Probleme, mit welchen sie ringt. So bringt das Ideal der kollegialen Schulführung erhebliche Herausforderungen mit sich (Beschlussfassung, verantwortliche Außenvertretung). Weitere Probleme liegen in der adäquaten Beurteilung von Schülern und Schülerinnen und dem Ziel, Laufbahnentscheidungen bis zum Abschluss der Schulzeit offenzuhalten. Auch der Mangel an qualifizierten Lehrern macht einigen Schulen zu schaffen, was auch finanzielle Gründe hat.
Der Autor jedoch sieht nur "esoterische Abgründe". Sachlich unrichtig ist schon die Aussage, die Waldorfschulen hängen am staatlichen Tropf. In Wirklichkeit erhalten sie in Deutschland nur einen Teil dessen, was alle Eltern zur Finanzierung des Schulwesens an Steuern beitragen. In anderen Ländern erhalten sie vom Staat gar nichts. Waldorfschüler kommen aus unterschiedlichsten Elternhäusern und bevor man von Indoktrinierung spricht, sollte man mit einer nennenswerten Anzahl von Schülern und Eltern sprechen. Man verschließt "im Südwesten" und weltweit nicht vor den "esoterischen Abgründen der "Steinerschen Lehre" "fest die Augen", sondern man hat sie als eine wirksame Alternative anerkannt.
Herr Krauß würde sich schwertun, in Schulvereinsvorständen von Waldorfschulen die "Esoteriker" und "Okkultisten" seines Feindbildes zu finden. In seinem Schlussabsatz findet sich jedoch eine beherzenswerte Anregung: kritische Debatte. Womöglich ohne verinnerlichte Vorurteile.
35 Kommentare verfügbar
Andreas Lichte
am 17.12.2020Anthroposophie und Antisemitismus
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