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Bücher über jüdisches Leben in Rexingen

Mosaiksteine einer verlorenen Welt

Bücher über jüdisches Leben in Rexingen: Mosaiksteine einer verlorenen Welt
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In Rexingen bei Horb am Neckar lebten bis zu Beginn der NS-Zeit überdurchschnittlich viele Jüdinnen und Juden. Die Nazis beendeten dieses Miteinander. Zwei neu erschienene Bücher beschäftigen sich mit dem verschwundenen jüdischen Leben.

Diesen Satz ihres Vaters hörte Mimi Schwartz schon als Kind dauernd: "In Rexingen sind alle gut miteinander ausgekommen!" Wo und was dieses Rexingen war, davon hatte die 1940 in New York geborene Mimi wohl anfangs keine allzu genaue Vorstellung, sie reagierte allergisch auf den Namen. Doch für ihren Vater Arthur Löwengart, der in Rexingen aufgewachsen war, war dieser Ort ein ständiger Referenzpunkt, ein "moralischer Kompass". Seine Kindheit und Jugend hatte er dort verbracht, war nach kurzem Intermezzo in Frankfurt mit seiner Familie wieder hingezogen – und 1937 dann von dort in die USA ausgereist. "Sein Dorf reiste immer mit", erzählt Schwartz, "er konvertierte zum amerikanischen Lebensstil und machte Englisch zu seiner Muttersprache, doch er sollte dem Ort, aus dem er gekommen war, immer verbunden bleiben."

Jene alle, die gut miteinander auskamen, damit meinte Arthur Löwengart die Katholiken und die Juden, die in Rexingen lebten. Einem Dorf in der Nähe von Horb am Neckar, einer Besonderheit mit höchst ungewöhnlicher Einwohnerstruktur: Um 1900 war etwa die Hälfte der Bevölkerung jüdisch, die andere katholisch. Und auch wenn nach dem Ersten Weltkrieg viele Juden in die größeren Städte zogen, machten sie doch 1933, zu Beginn der Nazi-Zeit, noch etwa ein Drittel der Bevölkerung aus, rund 300 Menschen. Angesiedelt hatten sie sich hier nach dem Dreißigjährigen Krieg, viele von ihnen waren Viehhändler.

Es sei ein respektvolles, freundliches, herzliches Miteinander gewesen, aggressiven, gar gewalttätigen Antisemitismus habe es nicht gegeben. Man kaufte in den Geschäften der jeweils anderen Gruppe ein, ging in deren Gasthäuser, auf die Hochzeiten.

Doch die Nazis beendeten dieses Miteinander. In den ersten Jahren des Regimes reisten bereits viele aus. In die USA, wie die Löwengarts. Oder nach Israel: Nach gründlicher Vorbereitung ging im Frühjahr 1938 eine Gruppe von 41 Personen nach Palästina, um dort die noch heute bestehende Siedlung Shavei Zion zu gründen, im nordwestlichsten Teil des späteren Staates Israel. Nicht allen gelang es allerdings zu entkommen. Weniger als 100 lebten zu Kriegsbeginn noch hier, etwa 90 wurden in Vernichtungslager im Osten deportiert.

Heute gibt es in Rexingen keine Juden mehr, schon während des Krieges waren in ihre Häuser neue Besitzer eingezogen, die meisten Protestanten. Es gibt den Ort und seine alten Häuser noch, aber es ist ein anderer Ort, das alte Rexingen ist verloren.

"Gute Nachbarn, schlechte Zeiten"

Es dauerte, bis Mimi Schwartz, Schriftstellerin und Professorin für Literarisches Schreiben, beschloss, sich auf die Suche nach dieser verlorenen Welt, nach ihren Wurzeln zu machen. Erst Anfang der 1990er-Jahre, als ihr Vater schon zwanzig Jahre tot und die Verwandten von seiner Seite der Familie, die Rexingen noch erlebt hatten, auch schon alle gestorben waren, fing sie an, in der Vergangenheit nachzuforschen – einer "Vergangenheit, die ich jetzt rasch einholen möchte, bevor alle, die diese Welt kannten, verschwunden sind", wie Schwartz in ihrem vor Kurzem auf Deutsch erschienenen Buch "Gute Nachbarn, schlechte Zeiten" schreibt.

Und so begann eine zwölfjährige Spurensuche. Erst in ihrer näheren Umgebung, in und um New York, wo viele frühere Rexinger Familien leben. Sie ging nach Rexingen, traf Menschen, die sich noch an die jüdisch-katholische Vergangenheit erinnern, und solche, die sich um eine dauerhafte Erinnerung kümmern, ging in Horb ins Archiv. Und sie ging nach Israel, nach Shavei Zion, den von Rexinger:innen gegründeten Ort.

Dabei stellte Schwartz immer wieder fest, dass es oft nicht eine Version einer Geschichte gibt, sondern mehrere verschiedene, mal nur in Nuancen, mal in grundlegenden Aspekten unterschiedlich. Die Unzuverlässigkeit der menschlichen Erinnerung begegnet ihr immer wieder. An vieles, was sie interessiert, muss sie sich von mehreren Seiten herantasten. Genau das ist das Spannende und Fesselnde an ihrem Buch, dass sie die Leserinnen und Leser sehr hautnah an diesem Forschungsprozess teilhaben lässt, an ihrer Sympathie oder ihrem Misstrauen gegenüber Gesprächspartner:innen, an ihrer Skepsis und ihren Zweifeln an manchen Darstellungen, aber auch, warum sie anderen vertraut. Und so kommen nach und nach immer mehr Mosaiksteine dieser verlorenen Welt zusammen, auch wenn nicht immer alle zusammenpassen.

Da sind die Geschichten von Hedwig Luger und Fritz Helm. Luger und ihr Mann, beide katholisch, rühmen sich ihrer vielen Kontakte zu emigrierten Rexinger Juden, erzählen von harmonischem Spielen mit jüdischen Kindern wie Fritz Helm. Doch Fritz Helm erzählt Schwartz: "Hedwig habe ich als echte Nazizicke in Erinnerung", sie sei gerne "in ihrer BDM-Uniform herumstolziert" und habe ihrer kleinen Schwester gedroht, jeden Kontakt mit Fritz dem neuen Nazi-Bürgermeister zu melden.

Die gerettete Thora

Oder die Geschichte von der geretteten Thora. Am 9. November 1938, der Pogromnacht, brannte auch in Rexingen die Synagoge. Schwartz erzählt eine hinreißende Episode über die alten Rexinger Jüdinnen Hannah, Gretl und Lotte, die sich darüber streiten, wie genau diese Nacht ablief. Zusammen kommen "Fragmente, Schnipsel und Splitter", schreibt Schwartz, "keine Geschichte, an der man sich festhalten kann, keine allein wahre Version." Konsens gibt es dennoch in einigen Punkten: Dass die Brandstifter nicht aus Rexingen kamen, sondern aus dem nahegelegenen Sulz am Neckar. Und dass es Nichtjuden waren, die die Thora retteten. Im Zuge der Nachforschungen wird dann irgendwann klar, dass es wohl ein junger Polizist gewesen ist. Doch wie genau sie dann nach Shavei Zion kam, wo sie heute noch ist, darüber gehen die Versionen wieder auseinander. Bei einem Gespräch erfährt Schwartz, dass sogar zwei Thoras gerettet worden seien, die andere ist heute in Burlington, Vermont.

Worin bei den Gesprächspartner:innen Konsens herrscht: Dass es nach der Pogromnacht auch in Rexingen für Juden nicht mehr sicher war. Schon davor mag es eine trügerische Sicherheit gewesen sein, illustriert von einer Geschichte, die die in New York lebende Gretl erzählt: Ab 1933 habe sich jeden Freitagabend die jüdische Jugendgruppe in der Volksschule getroffen und für die Zukunft geplant, etwa die Gruppenauswanderung nach Shavei Zion. Zur gleichen Zeit habe sich in den oberen Klassenzimmern die Hitlerjugend des Ortes getroffen, und weil die jüdischen religiösen Gesetze es nicht erlaubten, am Schabbat das Licht an- und auszuschalten, sei der HJ-Führer nach unten gekommen und habe das übernommen. "In unserem Dorf war diese Art der Zusammenarbeit ganz typisch!", lässt Schwartz Gretl erzählen. "Deshalb erkannten unsere Eltern nicht die näherkommende Bedrohung."

Einige, wie Mimi Schwartz' Vater, erkannten sie dagegen schon früh. Ab 1933 plante er die Emigration, schaffte Geld ins Ausland, 1937 verließ die Familie Rexingen. Auch später schafften es noch viele – immerhin zwei Drittel der Rexinger Juden entging dem Holocaust. Dass es der Rest nicht schaffte, lag nicht nur an Blauäugigkeit, sondern oft auch daran, dass die Mittel für eine Ausreise fehlten oder sie keine oder nicht schnell genug Visa bekamen. Ab November 1941 wurden die Rexinger Juden in drei Wellen deportiert. Erst kamen sie, wie andere Juden aus Württemberg, zur Sammelstelle auf den Killesberg nach Stuttgart, mussten dann am Nordbahnhof – wo heute eine Gedenkstätte ist – in Züge steigen und kamen nach Riga, Lublin oder Theresienstadt. Nur drei überlebten.

Wie geht es vonstatten, dass ein menschenverachtender, rassistischer Geist auch in einen Ort eindringt, in dem Juden und Christen bislang gut zusammenlebten? Auch hier bleiben es eher einzelne Mosaiksteine als ein geschlossenes Bild. Einmal spricht Schwartz mit Anna Binder, der Frau des früheren Bürgermeisters, die immer wieder Jüdinnen und Juden vor der Deportation geholfen hatte, ihnen Essen und Kleidung besorgte. Binder erzählt ihr, nach der Pogromnacht habe ihr Lehrer – "der kein Nazi war" – den Schülern gesagt, sie sollten beim Aufräumen in der ausgebrannten Synagoge helfen und nichts stehlen. Dann sei ein SA-Mann in die Schule gekommen und habe die Kinder angewiesen, bei allen jüdischen Häusern die Scheiben einzuschlagen. "Der Lehrer, der den Anstand bewahren wollte, hatte keine Chance gegen den SA-Mann, der zu Hass und Gewalt aufrief", zitiert Schwartz dazu Willy Weinberger, einen der drei Überlebenden der Deportationen. Die Indoktrination, die zur Gewalt ermutigte, habe bei den Kindern gewirkt und sie zu Nazis werden lassen.

Ein etwas besserer Ort für Juden

Es bleibt ein zwiespältiges Bild. Auch wenn Schwartz dem kleinen Rexingen am Ende bescheinigt, in der NS-Zeit ein besonderer, etwas besserer Ort für Juden gewesen zu sein als viele andere im damaligen Deutschland. Ganz anders als im hessischen Rhina, demografisch ähnlich mit einem vergleichbaren Judenanteil an der Bevölkerung, wo es aber viel mehr Gewalt gegenüber den jüdischen Bürger:innen gab. "Hier eroberten die Nazis die Seele des Dorfes", schreibt Schwartz. "Das kann man von Rexingen nicht einfach so behaupten."

2008 erschien die erste englische Fassung von Mimi Schwartz' Buch, kurz darauf bekam sie Post aus Australien. Max Sayer, in einer katholischen Familie in Rexingen aufgewachsen, hatte es gelesen, was für ihn Anlass war, seine eigenen Erlebnisse zu reflektieren. Ein Mailwechsel entspann sich, und in der zweiten Auflage von 2021 verflocht Schwartz einige von Sayers Erinnerungen mit denen ihrer Gesprächspartner:innen – was immer wieder für interessante neue Mosaiksteine sorgt.

Bis 2025 sollte es dauern, dass Schwartz' Buch auch auf Deutsch im Verlag Hentrich & Hentrich erschien – nicht zuletzt dank des Engagements von Barbara Staudacher und Heinz Högerle vom Förderverein Ehemalige Synagoge Rexingen (Kontext berichtete). Dort fand Ende Juni dieses Jahres auch die Buchvorstellung mit Mimi Schwartz statt.

In ihrem Buch erzählt Schwartz gegen Ende auch eine ganz unwahrscheinlich klingende Geschichte: über Juden, die den Krieg in Rexingen überlebten. Sie schreibt über die Familie von Marta Stein (den Namen hat sie, wie viele andere im Buch, geändert), 1898 in Rexingen geboren, die mit ihrer Schwester zum Christentum konvertierte, einen christlichen Mann heiratete, mit dem sie drei Töchter hatte und in Stuttgart lebte. Sogenannte "Mischehen" und "Mischlinge" genossen in der NS-Zeit zwar eine Zeitlang einen gewissen Schutz, gegen Ende der Kriegszeit wurden aber auch sie immer wieder deportiert. 1938 zog die Familie – ohne den Vater, die Eltern hatten sich schon getrennt – nach Rexingen ins Haus der Großmutter. Schwartz hat sich mit allen drei Töchtern getroffen. Sie schildert auch, wie die jüngste, die 1937 geborene Uschi – eigentlich Ursula Röhm – bereits da an ihren Erinnerungen an die Rexinger Zeit arbeitet, fertige Passagen immer wieder vorliest.

Erst jetzt, 2025, ist das Buch "Das hügelige Dorf" von Ursula Röhm fertig, am 7. September wird es in der ehemaligen Synagoge vorgestellt. "Das Reduzieren, dass ich immer nur das Wesentliche schreibe, war das Schwierigste", erzählt Röhm, die schon lange im Stuttgarter Westen lebt, im Gespräch mit Kontext. Sie ist eine zierliche Frau mit weißem Pagenschnitt, lächelt viel, strahlt einen enormen Optimismus aus. Es habe lange gedauert, erzählt sie, bis sie sich mit ihrer jüdischen Herkunft auseinandergesetzt habe – "das kam erst mit den Jahren." Und mit ihrer jüdischen Großmutter, die mit ihrem Sohn Rudolf 1941 aus Rexingen deportiert wurde; 1942 in Riga kamen beide um. Im November 2001 fährt sie zur Einweihung eines Erinnerungsorts bei Riga, "zu einem symbolischen Grab. Man hat ja sonst keinen Ort, wo man Blumen hinlegen kann."

In ihrem Buch erzählt sie auch von jüdischen Frauen und Männern mit christlichen Partnern, die immer wieder in dem Haus in der Rexinger Geißstraße, in dem sie lebte, unterkamen. Oft nur kurz – dann wurden sie deportiert. "Aber fast alle, die bei uns waren, haben überlebt", sagt Röhm.

War Rexingen ein besonderer Ort für Juden in der NS-Zeit? "Meine Mutter ist hier wirklich angenommen wurden, sie ist mit den Bauern auf die Felder zum Arbeiten gegangen", erzählt Röhm, alles andere als selbstverständlich damals. Eine sehr mutige und entschlossene Frau sei ihre Mutter gewesen, doch fast wäre auch sie dem Vernichtungsapparat der Nazis zum Opfer gefallen. Anfang 1945 erhält auch sie den Bescheid zur Deportation. Sie fährt nach Stuttgart ins Hotel Silber, und sie hat "dem Mann von der Gestapo ein Bild von euch drei Mädchen gezeigt und ihm gesagt, dass es seine Verantwortung ist, mich von drei Kindern wegzuschicken", zitiert Röhm sie im Buch. Der Beamte habe geantwortet: "Gehen Sie nach Hause. Sie stehen unter meinem Schutz." Sie blieb die letzten Monate des Krieges unbehelligt. Ursula Röhms Lächeln ist nun besonders strahlend.


Ursula Röhms Buch "Das hügelige Dorf. Erinnerungen" (Barbara Staudacher Verlag, 80 Seiten) wird am Sonntag, dem 7. September, dem Europäischen Tag der Jüdischen Kultur, um 17 Uhr in der Ehemaligen Synagoge in Rexingen (Freudenstädter Str. 16) vorgestellt. Die Autorin ist anwesend, der Rundfunksprecher Peter Binder liest Passagen aus dem Buch. Der Eintritt ist frei.

Mimi Schwartz: "Gute Nachbarn, schlechte Zeiten. Nachhall auf das Dorf meines Vaters in Deutschland", Hentrich & Hentrich, 330 Seiten, 24,90 Euro.

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