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Bundeswehr an Schulen

Auf der Rasierklinge

Bundeswehr an Schulen: Auf der Rasierklinge
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Die Bundeswehr will mehr junge Menschen rekrutieren, sogar die Verpflichtung Minderjähriger ist dabei möglich. Wie der Unterricht in Baden-Württemberg die Schüler:innen auf dieses Unterfangen vorbereitet, steht noch in den Sternen.

Lehrkräfte in Haupt-, Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen sollen sich angesprochen fühlen von diesem Angebot: Die Regionalstelle Freiburg des baden-württembergischen Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) veranstaltet eine Fortbildung zum Thema "Krieg und Frieden, die Rolle der Bundeswehr, internationale Zusammenarbeit und Sicherheit, Konfliktbearbeitung u.a.", einschließlich einer Information über "Jugendoffiziere der Bundeswehr, Servicestelle Friedensbildung". Wer teilnehmen möchte, braucht derzeit noch Geduld. Gegenwärtig werden in diesem ZSL-Angebot überhaupt nur zwei einschlägige Veranstaltungen genannt, eine davon ist immerhin mit einem Datum versehen: Am 7. Oktober können sich Berufsschullehrkräfte drei Stunden lang über Karriere und Personalentwicklung bei der Bundeswehr und im Speziellen beim Hubschraubergeschwader 64 Laupheim informieren.

Dass in den Schulen die sogenannte Zeitenwende ankommen wird, hat sich angedeutet spätestens seit einem Besuch von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im März 2024 in Schweden. In dem Land, das lange neutral war und erst 2023 der Nato beitrat, werden alle Männer und Frauen gemustert, aber nur ein Teil eingezogen, ausgewählt nach bestimmten Kriterien. In der Ampelkoalition konnten sich SPD und Grüne für dieses Modell erwärmen, die FDP lehnte es ab. Die neue Bundesregierung aus Union und Sozialdemokraten hat zum Start in den politischen Herbst eine andere Variante beschlossen: Ein Brief mit dem QR-Code zum Online-Fragebogen wird verschickt, allein in Baden-Württemberg an rund 90.000 junge Menschen – in der Hoffnung auf ausreichend großes freiwilliges Interesse. Pistorius strebt 20.000 Wehrdienstleistende im kommenden Jahr an. 2025 sei ein Kontingent noch für 15.000 Interessenten aufgelegt. 13.000 hätten sich bereits gemeldet.

Monika Stein, die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), verlangt, dass Kultusministerium und ZSL umgehend Lehrkräfte darauf vorbereiten, auf diese neue Rechtsgrundlage und vor allem auf die gesellschaftlichen Veränderungen einzugehen. Immerhin habe Pistorius das Ziel der Kriegstauglichkeit bis 2029 ausgegeben, sagt die Grüne, die 2026 Oberbürgermeisterin in Freiburg werden möchte. Es sei legitim, dass sich die Bundeswehr Anreize überlegt, wie sie attraktiv sein könnte. Nicht legitim aber sei es, in Schulen dafür zu werben.

Bundeswehr ist seit 2011 verstärkt an Schulen

Die Lehrkräfteweiterbildung sei allein deshalb dringend geboten, weil er einem Ritt auf der Rasierklinge gleichkommen werde. Einerseits gelte es, der Haltung gegenüber der Bundeswehr, die sich seit Russlands Invasion geändert hat, gerecht zu werden. Und andererseits den fast ein halbes Jahrhundert alten Grundsätzen der politischen Bildung. Im 1976 von der Landeszentrale für politische Bildung (LpB) beschlossenen "Beutelsbacher Konsens" ist festgehalten, dass Schüler:innen im Unterricht zum selbständigen Urteilen befähigt werden müssten.

In Zeiten des Nato-Doppelbeschlusses Anfang der 1980er-Jahre war heftig diskutiert worden über die Präsenz von Soldaten und Friedensaktivist:innen in Schulen. Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht 2011 durch den damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) verstärkte die Bundeswehr ihre Aktivitäten in Schulen deutlich. Nicht nur, um 18-Jährige zu interessieren.

Höchst umstritten ist bis heute die Möglichkeit der Rekrutierung ab 17 Jahren. Die GEW präsentierte ebenfalls 2011 ihr Positionspapier "Einsatzgebiet Klassenzimmer – die Bundeswehr in der Schule". Unter vielem anderen erinnert die Gewerkschaft an das Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention von 2002, mit dem sich die unterzeichnenden Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verpflichten, auf die zwangsweise Einberufung von unter 18-Jährigen zu verzichten. Zugleich jedoch habe sich die Bundesrepublik den USA und Großbritannien angeschlossen, die "auf Druck ihrer Militärs und gegen den Widerstand der jeweiligen nationalen Kinder- und Menschenrechtsgruppen" freiwillig und mit Einwilligung auch 17-Jährige rekrutieren.

Lücken in der Wissensvermittlung

Solche und viele andere Details sind bisher weder Gegenstand der Fortbildung noch im Schulunterricht, etwa im Fach Gemeinschaftskunde. Genauso wenig wie die im Netz derzeit heiß diskutierte Frage, warum Frauen nicht verpflichtet werden, den Bundeswehr-Fragebogen auszufüllen. Die Antwort ist nicht kompliziert: Weil dafür das Grundgesetz geändert werden müsste, wozu Union und SPD aber die Mehrheit im Bundestag fehlt. Allein die digitale Diskussion darüber zeigt aber, wie groß der Nachholbedarf in der Wissensvermittlung ist.

Dafür steht ebenso der von Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) 2019 für den Unterricht vorgelegte Leitfaden "Demokratiebildung": Der Begriff "Bundeswehr" kommt nicht einmal vor. Selbst in der Neuauflage 2023 durch ihre Nachfolgerin Theresa Schopper (Grüne) änderte sich daran nichts. Das Thema Krieg und Frieden ist weitgehend umschifft. Mit der Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium soll aber in den Klassen fünf bis elf die Demokratiebildung gestärkt werden, "insbesondere das projekt- und praxisorientierte Lernen im Kontext der Leitperspektiven Demokratiebildung und 'Bildung für nachhaltige Entwicklung'", heißt es im Kultusministerium weiterhin reichlich unkonkret.

Einen Fingerzeig geben einschlägige Unterrichtsmaterialien. Der Bildungsverlag Cornelsen hat Arbeitsblätter im Angebot mit dieser Frage im Titel: "Wieder Wehrpflicht in Deutschland? Altes Modell in neuem Gewand", mit einer Karikatur von balgenden Kindern, einer Passantin und deren Kommentar, Kriegstauglichkeit beginne ab jetzt auch im Kindergarten. Die Bundeszentrale für politische Bildung hält Materialien zum "Pflichtdienst für alle?" vor. Dazu zählen Erfahrungsberichte wie der einer jungen Soldatin.

Berichte von Soldat:innen als Unterrichtsmaterial

Der Beutelsbacher Konsens

1. Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, Schüler:innen – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der "Gewinnung eines selbständigen Urteils" zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle der Lehrkraft in einer demokratischen Gesellschaft und der Zielvorstellung von der Mündigkeit der Schüler:innen.

2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob die Lehrkraft nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, also solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schüler:innen (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.

Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt der Lehrkraft, ihre wissenschaftstheoretische Herkunft und politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden. Ihr Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch dem entgegenstehende, andere Ansichten kommen zum Zuge.

3. Die Schüler:innen müssen in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und ihre eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen.  (jhw, Quelle: Landeszentrale für politische Bildung)

Würde sie, eine Kraftfahrerin für Brückenlegepanzer ("Schon als Kind fand ich Panzer cool"), in eine Schule des Landes zur Diskussion eingeladen, müsste das nach Maßgabe einer "Kooperationsvereinbarung" aus dem Jahr 2014 geschehen. Sie verpflichtet Vertreter:innen der Bundeswehr, namentlich Jugendoffiziere, auf den "Beutelsbacher Konsens" und seine Grundlagen. Verantwortlich für den Unterricht blieben die Lehrkräfte, heißt es in dem vom damaligen Kultusminister Andreas Stoch (SPD) unterschriebenen dreiseitigen Papier.

Die Vereinbarung gilt noch immer, ergibt eine Anfrage beim Kultusministerium. Sie werde, sagt ein Sprecher, "beständig auf ihre Aktualität hinsichtlich neuer Entwicklungen überprüft". Und im übrigens würden "die Besuche der Jugendoffiziere als wichtiger Beitrag zur sicherheitspolitischen Bildung und Friedensbildung unterstützt" – rund tausend gab es im vergangenen Schuljahr. Weitere Details zur Lehrkräfte-Fortbildung liegen noch nicht vor, sehr wohl aber Erkenntnisse dazu, dass zunehmend Schulbücher zur Zulassung eingereicht werden, die den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine aufgreifen. Außerdem ist Schulen im Land möglich, sogenannte Karriereberatungsoffiziere der Bundeswehr einzuladen. Die Teilnahme für Schüler:innen ist freiwillig, wie der Sprecher weiter mitteilt.

Die Grünen-Landtagsfraktion regt immerhin an, "vor dem Hintergrund der Weltlage und der sich aktuell verändernden Regelungen zum Wehrdienst, die Grundlagen der Zusammenarbeit zwischen Schulen und Bundeswehr nochmals in den Blick zu nehmen", so der bildungspolitische Sprecher Thomas Poreski, der junge Menschen dabei zu unterstützt sehen will, "ein eigenes, differenziertes und ganzheitliches Verständnis von Friedens- und Sicherheitspolitik zu entwickeln". Es klingt wie der Versuch, Ziele früherer Tage in einer komplizierten Gegenwart für die Zukunft zu retten.

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