Den Tübinger Historiker Martin Ulmer irritiert diese "Sakralisierung" von Bolz, wie er es nennt, ziemlich. Er stieß schon bei der Arbeit zu seiner Dissertation über Antisemitismus in Stuttgart auf viele Beispiele, die Bolz’ Politik in einem sehr ungünstigen Licht erscheinen lassen. Seitdem hat er beharrlich weiterrecherchiert – und wird am heutigen Mittwoch, dem 11. September 2024, im Hotel Silber in Stuttgart mit Wolf Ritscher über "Eugen Bolz und die Weimarer Demokratie" sprechen.
Schon in den 1980ern wurden im Rahmen des Ausstellungsprojekts "Stuttgart im Dritten Reich" viele Beispiele präsentiert, die zeigen, wie Bolz die Nationalsozialisten unterschätzte. Und dass Bolz auf dem rechten Auge "zwar nicht blind (war), aber er sah mit ihm erheblich schlechter", merkt auch dessen Biograf Frank Raberg an.
Ulmer geht noch weiter. "Aus meiner Sicht hat Bolz den Aufstieg der Nationalsozialisten gefördert", sagt er. Weil er sie nicht konsequent bekämpfte, sondern ihre menschenfeindliche Agitation oft genug tolerierte – und teilweise sogar eine inhaltliche Nähe sah. Beispiele dazu finden sich reichlich.
Fatale Verharmlosung der Nazis
Als etwa 1922 nach dem Mord an Außenminister Walter Rathenau durch Rechtsextreme in vielen anderen Ländern des Deutschen Reiches die NSDAP verboten wurde, lehnte die württembergische Landesregierung dies ab – vor allem auf Drängen von Stuttgarts rechtsnationalem Polizeipräsidenten Rudolf Klaiber und Eugen Bolz, der damals Justizminister war. Bolz’ Begründung: In Württemberg gehe von diesen Verbänden keine Gefahr aus, und "unser Volk kommt durch solche Maßnahmen niemals zur Ruhe".
Nach einigen gewaltsamen Zwischenfällen im Dezember 1922 erließ das Innenministerium dann doch immerhin ein Versammlungsverbot für die NSDAP – ein halbherziges nur, denn es galt nur für öffentliche Versammlungen und konnte leicht umgangen werden. Und es wurde schon im Juli 1923 wieder aufgehoben, nachdem Bolz – er war noch nicht lange Innenminister – die Vorsitzenden aller rechtsgerichteten Organisationen in Stuttgart, darunter auch die NSDAP, zu einem Gespräch geladen hatte. Von einer Sitzung des Staatsministeriums im August 1923 ist folgende Einschätzung durch Bolz dokumentiert: "Die nationalsozialistische Bewegung habe ihren Höhepunkt überschritten … von einer Rechtsgefahr sei keine Rede … im ganzen Reich bestehe lediglich eine Linksgefahr."
Auch kurz vor dem Hitlerputsch 1923, als zu beobachten war, wie sich die SA auf einen Bürgerkrieg vorbereitete, glaubten Bolz und Klaiber an keine Gefahr. Die scharfe Judenhetze der NSDAP und deren antisemitische Belästigungen stellten für beide keine Gründe zum Einschreiten dar und erst recht keine für ein Verbot. Eine Linie, die sich auch nach 1923 fortsetzte, weswegen Ulmer urteilt: "An der Durchsetzung des Antisemitismus in Stuttgart und Württemberg trugen Staatsregierung, Behörden, Polizei und Justiz eine gehörige Mitverantwortung, indem sie jeden Kampf gegen Antisemitismus durch Ächtung und Strafverfolgung unterließen".
Die Reaktion auf den Hitlerputsch in München am 9. November 1923 wird oft als Beleg dafür genannt, dass Bolz durchaus auch entschieden gegen Nazis vorging: Hier verhinderte die schnelle Reaktion des Innenministers tatsächlich, dass sich auch württembergische NSDAP- und SA-Mitglieder am Putsch beteiligen konnten. Der Historiker Ulmer relativiert aber auch hier: Das schnelle Eingreifen hängt aus seiner Sicht weniger mit Bolz als mit Staatsminister Johannes von Hieber von der liberalen DDP zusammen. "Meine These ist, dass Bolz hier gedrängt wurde", sagt Ulmer. Es gibt Dokumente, die deutliche Differenzen zwischen von Hieber und Bolz offenbaren: Während von Hieber meinte, NSDAP-Mitglieder dürften keine Beamten sein, war Bolz’ protokollierte Position: "Wenn ein Beamter aus Idealismus der nationalsozialistischen Partei angehöre, könne man ihn nicht aus der Beamtenschaft ausschließen; eine Gefahr für den Staat liege nur in der bewaffneten Organisation …; die Nationalsozialistische Partei richte sich nicht gegen die Verfassung." Die Beispiele lassen sich noch lange fortsetzen.
Die Fahrt in den Abgrund beschleunigte sich noch, als Bolz’ Zentrums-Partei ab 1924 in einer Koalition mit der Württembergischen Bürgerpartei, einer Landespartei der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) regierte. In dieser Konstellation war Bolz von 1928 bis 1933 Staatspräsident, und in seiner Regierungszeit nahm die Koalition ab Anfang der 1930er Jahre immer autokratischere Züge an, entmachtete etwa den Landtag. Nach der Landtagswahl im Frühjahr 1932 kam es sogar zu Koalitionsverhandlungen mit der NSDAP. Auch wenn diese scheiterten, befindet Ulmer: "Bevor die Nationalsozialisten 1933 auch in Württemberg die völkische Zustimmungsdiktatur errichteten, war die parlamentarische Demokratie bereits durch die Regierung (…) faktisch beseitigt." Durch eine Regierung, der in den letzten fünf Jahren Eugen Bolz vorstand.
Vorbild Bolz? Es geht hier um ein Geschichtsnarrativ
Und so ein Politiker soll heute allgemeines Vorbild sein? Es sei ein "paradigmatischer Fall mit Gegenwartsbezug", sagt Ulmer, ein Beispiel, "wie führende konservative Politiker mit dem Aufstieg der rechtsextremen Bewegung umgehen". Die offiziellen Vertreter in Baden-Württemberg – in der Politik, dem Haus der Geschichte oder der katholischen Kirche –, sie alle sähen nur den "Märtyrer" Bolz, das Opfer der Nazis – was er ab 1933 ja auch ist. Doch in einer seltsamen Geschichtsvergessenheit würde, wie Ulmer beklagt, die Bolzsche Politik zwischen 1920 und 1933 ausgeblendet – auch wenn selbst bekannte Bolz-Biografen wie Frank Raberg auf deren Problematiken hinweisen.
2 Kommentare verfügbar
Janix
vor 3 WochenDennoch sollte man es dabei belassen, dass Kinder auf Bolz-Plätzen spielen dürfen, mehr Verklärung aber auch nicht, bitte.