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Daniel Kartmann und der Schwarze Donnerstag

"Die Opferrolle überwinden"

Daniel Kartmann und der Schwarze Donnerstag: "Die Opferrolle überwinden"
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Der Musiker Daniel Kartmann gehörte zu den Verletzten des "Schwarzen Donnerstags", des brutalen Polizeieinsatzes gegen Stuttgart-21-Gegner:innen am 30. September 2010. Auf einem Auge verlor er einen großen Teil seiner Sehfähigkeit. Doch der Tag schärfte auch seinen Blick auf Politik und Gesellschaft.

Studiert hat Daniel Kartmann klassisches Schlagzeug, sechs Jahre an der Musikhochschule Stuttgart bis zum Diplom. Aber eigentlich ist seine Musik der Jazz. Das freie Spielen ohne Notenblatt, mit anderen Musiker:innen interagieren, sich spontan auf Gegebenheiten einlassen, "das kann ich gut", sagt der schlacksige 46-Jährige. Und er tut dies in vielen verschiedenen Ensembles, Sunswept Sunday, The Great Boredom und Kartmann Kollektiv heißen die drei wichtigsten. "Die Improvisation ist mein Medium, fast ein Way of Life". Schon seit er denken kann. Im Nachhinein ein Glück. "Schwierige Partituren im klassischen Bereich schaffe ich oft von der Konzentration nicht mehr, das strengt meine Augen zu sehr an", sagt Kartmann. Auf dem rechten Auge hat er nur noch 20 Prozent Sehfähigkeit. Und auch, wenn er das im Alltag meist kaum noch merkt, weil das andere Auge und gute Brillen doch viel ausgleichen können, macht es sich beim Lesen bemerkbar, da fehle ihm die Ausdauer.

Bis zum 30. September 2010 war er nur ein bisschen kurzsichtig. Im Stuttgarter Schlossgarten demonstrierte er an diesem Tag mit Tausenden anderen gegen den Polizeieinsatz zur Räumung des Parks, der die ersten Baumfällungen für Stuttgart 21 ermöglichen sollte. Am Protest gegen das Großprojekt hatte er sich schon in den Wochen zuvor beteiligt. Oft mit seiner Frau und seinen Kindern, denn die Atmosphäre sei immer positiv und friedlich gewesen, auch mit der Polizei habe es nie Probleme gegeben, "das war eher so ein Miteinander".

Dann begannen die Wasserwerfer zu schießen

Ganz anders am 30. September. Die in voller Montur aufmarschierenden Beamten, deren brutales Vorgehen, der Einsatz der Wasserwerfer. "Eine Grenzüberschreitung der Polizei", nennt es Kartmann, ein einseitig gewaltsames Vorgehen gegen friedliche Menschen. Die in kurzer Zeit vielen Verletzten hätten ihn schockiert, "ich hatte das Gefühl, ich kann hier nicht weg, hier passieren Dinge, die nicht in Ordnung sind, das kann ich nicht zulassen, das ist meine Aufgabe als Bürger". Er sei vorgegangen zu den Wasserwerfern, wurde eingekesselt, die Linien verschoben sich immer wieder, dann begannen die Wasserwerfer zu schießen. Um sich vor dem Strahl zu schützen, habe er sich mit dem Rücken zu ihm gedreht, da sei ihm seine Brille runtergefallen. "Als ich sie aufheben wollte, wurde ich getroffen. Ich war komplett passiv."

Freunde fingen ihn auf, brachten ihn, weil kaum Rettungskräfte vor Ort waren, zu einem Taxi, das Kartmann in die Charlottenklinik fuhr, spezialisiert auf Augenerkrankungen. Nach einer "albtraumhaften Nacht" in der Klinik habe er am nächsten Morgen eine Zeitung in die Hand bekommen, mit dem linken Auge schemenhaft das Bild des noch viel schlimmer an den Augen verletzten Dietrich Wagner gesehen. "In diesem Moment wurde mir klar: Ich bin mit diesem Mann verbunden, bin auch Opfer", sagt Kartmann am vergangenen Montag auf der Montagsdemo gegen Stuttgart 21 (Link zum Video).

Die Ärzte in der Charlottenklinik konnten erst gar nichts tun, weil das Auge so voller Blut war. Erst nach vier Wochen wurde festgestellt, dass sich bei Kartmanns linkem Auge die Netzhaut fast komplett abgelöst hatte. Es musste sofort operiert werden. Behandlungen und Nachsorge zogen sich über Wochen hin. "Etwa drei Monate hat es gedauert, bis ich das Gefühl hatte, mein Auge hat so eine Stabilität erreicht, dass ich wieder anfangen kann zu arbeiten." Neben der verminderten Sehfähigkeit ist ihm eine Schädigung der Iris geblieben, deshalb hat Kartmann Probleme mit direkter Sonneneinstrahlung. "Aber dafür habe ich jetzt ein neues Markenzeichen, meine Mütze", sagt er und grinst. Mittlerweile vergesse er sogar manchmal, dass er hier und da Probleme habe, "darüber bin ich sehr froh und dankbar".

Dreizehn Jahre bis zur Heilung

Die körperlichen Einschränkungen, mit denen er sich arrangieren kann, sind das eine. Die psychischen Wunden, die die Verletzung und die Art, wie er sie erlitt, nach sich zieht, das andere. Er habe fast dreizehn Jahre gebraucht, "um zu überwinden, zu verarbeiten und heilen zu lassen", sagt Kartmann. Zwölf Jahre lang war er in psychotherapeutischer Behandlung. Die Zeit unmittelbar nach der Verletzung sei "die schlimmste Zeit meines Lebens" gewesen. Später wechselten sich Gefühle der Ohnmacht und der Wut ab, worunter auch seine Familie litt. Er sei in einer Lebensphase, in der seine Kinder einen starken Vater gebraucht hätten, nicht in der Lage gewesen, diese Rolle auszufüllen, sagt Kartmann. Doch vor allem seine Frau habe ihm viel Rückhalt gegeben. "Es hat schon eine Qualität, dass man als Familie gemeinsam durch so eine Situation durchgeht und zusammenbleibt." Mittlerweile habe er den Eindruck, "dass wieder eine gewisse Stabilität da ist. Und das gibt mir auch die Kraft, mich zu engagieren und aus der eigenen Isolation herauszutreten."

Das Kontext-Gespräch findet im Biergarten des Mittleren Schlossgartens statt, sehr nahe an der Stelle, wo Kartmann verletzt wurde. Wie ist es für ihn, hier zu sein, triggert ihn der Ort? Nein, eigentlich nicht, sagt Kartmann. Aber in den ersten Jahren habe er den Ort komplett gemieden.

Später dann, einige Jahre nach dem "Schwarzen Donnerstag", sei er nachts mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Stadtbibliothek hier entlang gefahren. "Auf einmal bin ich auf einen Widerstand gestoßen, es hat mich über den Lenker geschmissen, direkt auf die Schnauze", erzählt Kartmann. Er rappelte sich auf, doch nirgendwo habe es ein Hindernis gegeben. Auch am Fahrrad sei nichts defekt gewesen. "Das war schon ein bisschen spooky", sagt er, der nicht so wirkt, als hänge er übersinnlichen Deutungsmustern an. "Vielleicht war es eine Art innerer Blockade, die dazu geführt hat, dass ich einen Fehler beim Fahren gemacht habe." Aber weil es genau an diesem Ort passierte, an diesem Ort mit Geschichte, sei er so geschockt gewesen, dass er in Tränen ausbrach.

Verblasst ist auch dieser Vorfall allmählich, überwunden habe er auch nach und nach "diese Opferrolle", in der er sich anfangs nach dem Polizeieinsatz fühlte, "dieses sich klein fühlen, sich machtlos fühlen". Ein wichtiger Impuls sei da ausgerechnet der Tod von Dietrich Wagner Ende Juni und dessen Beerdigung gewesen. Zwar seien sie sich beide persönlich nie sehr nahe gewesen, doch imponiert habe ihm immer der Mut Wagners, "der noch viel schlimmer von dieser staatlichen Willkür gegen uns Demonstranten am 30.9. betroffen war". Sein Engagement gegen Stuttgart 21 und für die juristische Aufarbeitung des "Schwarzen Donnerstags". Wagner habe sich nicht nur in Stuttgart gegen Polizeigewalt engagiert, sondern sich mit Organisationen weltweit zusammengetan, sagt Kartmann, er habe die Opferrolle verlassen, um auf Dinge aufmerksam zu machen, die nicht in Ordnung seien.

Sowohl Wagner als auch Kartmann waren Nebenkläger im Stuttgarter Wasserwerferprozess, über den Kontext ausführlich berichtete und der Ende 2014 abrupt endete. So unbefriedigend die juristische Aufarbeitung des 30. September 2010 hier blieb, ein Jahr später, im November 2015, urteilte das Verwaltungsgericht Stuttgart, dass der Polizeieinsatz rechtswidrig gewesen sei. Erst nach diesem Urteil hat es für Wagner, Kartmann und andere Betroffene eine Entschädigung des Landes und eine Entschuldigung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) gegeben.

Lehren aus dem Musikmachen

Die Entschädigung für Kartmann, 14.000 Euro (Wagner erhielt 120.000), war bei einer sechsköpfigen Familie "in kürzester Zeit" aufgebraucht. Und die Entschuldigung des MP habe für ihn "im Nachgang keine besondere Bedeutung" gehabt – "Kretschmann brauchte diese Inszenierung auch, um das Thema von der Agenda zu haben", sagt Kartmann. Aber "sehr wichtig" sei das Verwaltungsgerichtsurteil doch für ihn gewesen. Allein schon, um die Zweifel zu überwinden, damals irgendwie falsch agiert zu haben. "Das Urteil hat klargestellt: Es ist unser verbrieftes Recht, unsere Meinung kundzutun, unser Demonstrationsrecht wahrzunehmen." Das ist seine Bestätigung für das Zurückliegende und sein "Antrieb für weiteres Handeln". Denn mit Stuttgart 21 sei es ja nicht vorbei. "Möglicherweise sind wir jetzt an einem Punkt, wo wieder viel mehr Protest gegen das Projekt nötig ist, weil wir mittlerweile mehr wissen als damals."

Doch Kartmann will nicht bei Stuttgart 21 stehen bleiben, die Jahre nach 2010 haben seinen Blick geweitet. "Für mich war eine der wichtigsten Weiterentwicklungen im Protest die Erkenntnis, dass wir hier nicht nur ein Stuttgarter Problem haben, sondern dass wir eingebunden sind in einen globalen Missstand." An S 21 zeigten sich nicht nur exemplarisch die Folgen von globalem Kapitalismus und Profitgier. Sondern auch die zuweilen kritische Rolle der Medien, die oft enge Verschränkung mit der Politik, den Regierenden. Und entsprechend müssten sich die Bürger:innen bei viel mehr Problemen unserer Gesellschaft einmischen. Für Kartmann steht das Engagement gegen Faschismus und Neofaschismus an erster Stelle, gefolgt vom Kampf gegen Umweltzerstörung und für Klimaschutz. Und zwar nicht nur mit Instagram-Posts, sondern mit konkreten, lokalen Handlungen. Bei Klima- und Umweltschutz etwa "dem Schutz der Bäume, wie wir es im Schlossgarten gemacht haben. Weil sie die Luft in der Stadt verbessern". Eine seiner täglichen Formen des Protests sei, "einfach Fahrrad zu fahren, so oft ich kann".

Überhaupt sei es bei Protest, bei gesellschaftlichem Engagement wichtig, sich mehr auf Gemeinsamkeiten zu besinnen, findet Kartmann. Er ist Berufsmusiker, seit 2008 freiberuflich, er gibt Schlagzeugunterricht und spielt selbst in zahlreichen Formationen: "An einem Morgen in einem klassischen Ensemble in der Kirche, am nächsten Abend spiele ich im Rotlichtviertel im Jazzclub", sagt er und erzählt, wie er dabei sehr viele unterschiedliche Menschen trifft. "Ich habe in meiner fast 30-jährigen Laufbahn gemerkt: Ich komme mit allen gut klar. Es ist möglich, trotz unterschiedlicher Meinungen miteinander in Diskurs zu treten."

Die Corona-Zeit sei in dieser Hinsicht nicht gerade günstig gewesen. Jetzt sei die Zeit, sich wieder zusammenzutun, meint Kartmann. "Sich auf die Dinge zu besinnen, die Gemeinsamkeit bedeuten, ist etwas, das ich beim Musikmachen gelernt habe. Diese Erfahrung möchte ich weitergeben. Sie ist ein großer Antrieb für mich. Und für mein weiteres Handeln."


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1 Kommentar verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 29.09.2023
    Antworten
    Brutal war der Polizeieinsatz, um der Bevölkerung in STUTTGART und BaWü, die Vorgaben der in den Parteien CDU, FDP und SPD "organisierten" aufzuzwingen – also derjenigen, die seit wenigen Monaten «zu anderen Gesellschafts-Themen» aufgeregt wiederholen:
    Es darf doch den Bürgerinnen und Bürgen nicht…
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