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Rastatter Prozesse gegen NS-Verbrecher

Keine Siegerjustiz

Rastatter Prozesse gegen NS-Verbrecher: Keine Siegerjustiz
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Vor 75 Jahren begannen die Rastatter Prozesse, in denen vor allem über NS-Verbrechen auf dem Gebiet der französischen Besatzungszone verhandelt wurde. Trotz einer Vielzahl von Anklagen und Verurteilungen sind sie heute nur wenig im öffentlichen Bewusstsein verankert.

Die Schlussbilanz der Besatzungsbehörden zeigt auf, welche aufwendige Arbeit im Schloss Rastatt geleistet wurde: Zwischen 1946 und 1954 wurden insgesamt 2.130 Personen angeklagt. 1.639 von ihnen wurden verurteilt, 491 freigesprochen. 105 Personen wurden zum Tode verurteilt, 62 von ihnen tatsächlich hingerichtet. Das sind die nackten Zahlen der Rastatter Prozesse – des von den Franzosen eingerichteten "Tribunal Général" als eine Art Sondergerichtshof, mit dem Gräuel des NS-Systems aufgearbeitet wurden. Ort des Geschehens: der Ahnensaal im Barockschloss Rastatt.

Die im Frühjahr 1946 – vor nunmehr 75 Jahren – gestarteten Prozesse sind heute wenig im öffentlichen Bewusstsein verankert. Feierlich eröffnet wurde das Generaltribunal von Richter Jean Ausset, der als Gerichtspräsident in erhöhter Sitzposition an der Stirnseite des zum Gerichtssaal umfunktionierten Ahnensaals saß, direkt unterhalb großformatiger Porträts aus der Ahnengalerie badischer Markgrafen. Ausset war in seiner Heimat Frankreich der Kammerpräsident und Generalsekretär des Berufungsgerichtes von Paris. Nur wenige Monate nach Ende des zweiten Weltkrieges brachten damit nicht nur die amerikanischen und englischen, sondern auch die französischen Besatzer die NS-Verbrechen vor Gericht.

Mit Dekret vom 2. März 1946 hatte das Oberkommando der französischen Besatzungsbehörden – das seinen Sitz seit Ende Juli 1945 in Baden-Baden hatte – die Einrichtung des Sondergerichts auf den 17. April festgesetzt. Der Start der ersten Verhandlungen – und damit der Beginn der Prozesse – war auf den 15. Mai terminiert. Vor die Anklagebank kamen insbesondere Täter, "die Blut an den Händen hatten". Das Gericht in Rastatt arbeitete zeitgleich zu den "Nürnberger Prozessen", in denen – gegen Hermann Göring und andere Nazi-Größen – insbesondere neu definierte Straftatbestände "Verbrechen gegen den Frieden" sowie "Verbrechen gegen die Menschheit" verhandelt wurden.

Die Akten sollten 100 Jahre unter Verschluss sein

Es gibt wenig Literatur zu dem Prozessgeschehen in Rastatt zwischen 1946 und 1954 und kaum wissenschaftliche Aufarbeitung; das hängt auch damit zusammen, dass nach dem lange geltenden französischen Archivgesetz die Prozessakten 100 Jahre unter Verschluss bleiben sollten. Erst mit einer Ende 2015 erfolgten Gesetzesänderung unter Präsident François Hollande wurden diese zugänglich gemacht. Vermutlich die erste Deutsche überhaupt, die französische Prozessakten zum Generaltribunal – im Jahr 1999 noch mit einer Sondergenehmigung – einsehen konnte, ist die Historikerin Elisabeth Thalhofer. Sie ist seit 2010 die Leiterin der Erinnerungsstätte und der Außenstelle des Bundesarchivs im Schloss Rastatt.

Mit den Rastatter Prozessen habe Frankreich "völkerstrafrechtliches Neuland" betreten, sagt sie. Bei den Verfahren sollten die Richter des Generaltribunals nach Vorgaben des Allierten Kontrollrats Recht sprechen, konkret auf Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 vom 20. Dezember 1945, das sich an der amerikanischen Rechtsordnung orientierte. Die Richter übernahmen die Vorstellung, dass die in den Lagern begangenen Verbrechen als "gemeinschaftliche Handlung" begangenen worden seien. Juristen sprechen dabei von der "entreprise collective" (common sense), dem gemeinschaftlichen Vorhaben. Ein Vorgehen, das sich im deutschen Justizsystem – bezogen auf NS-Verbrechen – erst 2011, mehr als 60 Jahre später, durchsetzte: mit der Verurteilung des 91-jährigen John Demjanjuk, KZ-Aufseher in den Vernichtungslagern Sobibor und Flossenbürg. Elisabeth Thalhofer konnte ab 1999 mit ihren Recherchen zum Gestapo-Lager "Neue Bremm" (bei Saarbrücken) – als Gegenstand des ersten Rastatter Prozesses überhaupt – mehr erfahren über die Prozessabläufe im Ahnensaal des Schlosses.

Neue Einblicke zum Prozessgeschehen in Rastatt ermöglichte auch der Nachlass der 2011 verstorbenen Juristin Helga Stödter (geborene Kloninger), die zwischen 1946 und 1950 in 295 Einzelfällen als Pflichtverteidigerin am Tribunal Général eingesetzt war. Sie begann ihre Arbeit mit gerade mal 24 Jahren und das als einzige Frau überhaupt. Kurz nach ihrem Tod ging der Nachlass an das Kreisarchiv Rastatt. Der Nachlass Stödter lockte vergangenes Jahr auch die Kölner Filmemacherin Judith Voelker im Zuge ihrer Recherchen zu einem Doku-Drama in die einstige Garnisonsstadt, zudem war er Anstoß für das 2018 erschiene Buch "Tribunal Général" von Eva-Maria Eberle, ehemals Mitarbeiterin des Kreisarchivs.

Bezug auf die Revolution 1848/49

Mit der Einrichtung des Sondergerichts am 17. April 1946 war neben Gerichtspräsident Jean Ausset auch der Leiter der Besatzungsverwaltung, Général Emile Laffon, im Ahnensaal zugegen, außerdem die Militärgouverneure der Länder Baden und Saarland sowie der Bürgermeister und der Landrat von Rastatt. Ausset nahm bei der Eröffnungsrede bewusst Bezug auf die deutsche Freiheitsbewegung der Jahre 1848/49, die im Schloss Rastatt bis heute eine wichtige Symbolstätte besitzt.

Als Verhandlungsort war der Prunksaal des Schlosses gewählt worden: Links von den Richtern saßen die Mitglieder der Staatsanwaltschaft, zur rechten Seite war die Anklagebank aufgebaut, in der untersten Reihe hatten die Hauptbeschuldigten Platz genommen. Im Zuhörerbereich des Ahnensaals im Rastatter Schloss waren für Zuhörer bis zu 150 Plätze ausgewiesen – für die man Eintrittskarten beantragen musste. Das Interesse der Bevölkerung an den Prozessen war enorm, auch die Presse berichtete ausführlich. Man hatte im Schloss eigens 20 Telefonverbindungen installiert, die auch den Journalisten zur Verfügung standen.

Beim eigentlichen Prozessbeginn am 15. Mai 1946 – mit dem ersten von insgesamt zwölf Prozessen – wurde zunächst gegen den Leiter des Gestapo-Lagers "Neue Bremm" (Saarbrücken) und seinen Adjutanten verhandelt. Die ersten Urteile fielen am 5. Juni. Die ersten vier Folgeprozesse vom 9. Dezember 1946 bis zum 21. November 1947 behandelten Vorgänge und Verbrechen in den Außenlagern des KZ Natzweiler-Struthof und des Sicherungslagers Schirmeck-Vorbruck (beides im Elsass) sowie Vulkan/Haslach im Kinzigtal, in Rastatt-Niederbühl, Gaggenau-Rotenfels, Vaihingen und in Hessental.

Und sie sind ein Beleg dafür, dass tatsächlich eine Vielzahl von NS-Verbrechern verurteilt wurden – eine generelle Milde lässt sich zumindest für die ersten Jahre nach dem Krieg nicht feststellen. Die Alliierten der westlichen Besatzungszonen die Amerikaner, Engländer und Franzosen, so Elisabeth Thalhofer, hätten bereits unmittelbar nach Kriegsende die Verfolgung deutscher Kriegs- und NS-Verbrechen aufgenommen. Die Franzosen etwa richteten bereits im Herbst 1944 den "Service de recherche des crimes de guerre" als zentrale Ermittlungsbehörde ein – im Juli 1945 tagten erstmals Kriegsgerichte.

Die Prozesse erregten damals großes Aufsehen

Beim Generaltribunal in Rastatt hatten die ersten Prozesse im Falle des berüchtigten Gestapo-Lagers "Neue Bremm" besonderes Aufsehen erregt. Aber auch einzelne Angeklagte traten in die öffentliche Wahrnehmung: etwa Nikolaus Drokur, einst Lageraufseher der "Neue Bremm", der als Wachmann seinen Sadismus besonders stark ausgelebt hatte. Er wurde am 5. Juni 1946 zum Tode verurteilt und sechs Wochen später in Stollhofen bei Rheinmünster (Kreis Rastatt) in einem Waldstück durch Erschießen hingerichtet.

Die Figur Drokur hat Filmemacherin Judith Voelker in ihrer filmischen Aufarbeitung in eine zentrale Rolle gepackt – ebenso wie auch Robert Wünsch, ehemals Aufseher im Sicherungslager Schirmeck (Elsass), der zuletzt als Lagerleiter in Rotenfels fungierte. Dieser hatte 1945 eine Art 180-Grad-Wendung vollzogen und kurz vor Kriegsende im heutigen Gaggenauer Teilort 1.500 Häftlinge freigelassen – offenbar um "seine Haut zu retten". Wünsch wurde zum Tode verurteilt, entging aber seiner Hinrichtung.

Für Aufsehen sorgte auch der Industrielle Hermann Röchling (1872–1955), einst Chef der Völklinger Hütte und zu Beginn des Zweiten Weltkrieges Generalbevollmächtigter für die Eisen- und Stahlindustrie in Lothringen sowie der Region Meurthe-et-Moselle. Er war angeklagt im zehnten Rastatter Prozess, der vom 30. Juni 1948 bis zum 25. Januar 1949 stattfand. Röchling wurde 1949 in zweiter Instanz als Kriegsprofiteur für den Einsatz von Zwangsarbeitern verurteilt, aber im Nachkriegsdeutschland bald wieder "entlastet". Eine Besonderheit war zudem die Verhandlung von Verbrechen im KZ Ravensbrück. Die Kleinstadt in Brandenburg, 100 Kilometer nördlich von Berlin gelegen, war Standort für ein Frauenlager, in dem auch viele weibliche französische Gefangene einsaßen und das deshalb für die französische Justiz von Interesse war.

Abgesehen davon verhandelte das Generaltribunal Rastatt vorwiegend Verbrechen, die in Konzentrationslagern, Nebenlagern und Außenkommandos auf dem Gebiet der französischen Besatzungszone begangen worden waren. Das Gericht war damit zuständig für alle die Lager und Kommandos, die räumlich zwischen dem Saarland, der Gemarkung des heutigen Rheinland-Pfalz und dem Bereich zwischen Rastatt/Baden-Baden bis nach Südbaden und Südwürttemberg-Hohenzollern eingerichtet waren. Karlsruhe und Nordbaden zählten zur amerikanischen Zone.

Vorbild: Die Dachauer Prozesse in der US-Zone

Die Historikerin Thalhofer zieht Vergleiche mit den Dachauer Prozessen und verfasste dazu schon 2007 einen eigenen Aufsatz. Die Prozesse im KZ Dachau – in der amerikanischen Zone – fanden zwischen 1945 und 1948 statt, verhandelt wurden dort zudem auch Verbrechen aus Konzentrationslagern wie Mauthausen, Buchenwald und anderen. In der englischen Zone gab es zudem die Bergen-Belsen-Prozesse – als Einzel-Verfahren, gestartet am 17. September 1945.

Insbesondere für den ersten Rastatter Prozess hatten die Dachauer Prozesse eine Vorbildfunktion – mit dem dort eingeführten Rechtskonstrukt der "gemeinschaftlich begangenen Verbrechen". Für Elisabeth Thalhofer hat das Vorgehen der französischen Staatsanwälte und Richter nichts mit Siegerjustiz zu tun. Im Vordergrund habe das Bemühen gestanden, "mit rechtsstaatlichen Mitteln Gerechtigkeit wieder herzustellen", sagt sie. So gab es auch deutsche und englische Beisitzer auf der Richterbank. Die Angeklagten hatten zudem das Recht, einen Anwalt zu wählen – oder es wurde ihnen alternativ ein Pflichtverteidiger zugewiesen. Es bestand die Möglichkeit zur Revision und Gnadengesuche einzureichen. Todesurteile gab es nach dem Krieg auch vor deutschen Gerichten – bis zu dem Verbot im Grundgesetz 1949.

Vertiefte Einblicke in das Prozessgeschehen und die Zusammenhänge wird auch der Film von Judith Voelker vermitteln, für den im August und Oktober 2020 Dreharbeiten im Schloss Rastatt und in örtlichen Archiven stattfanden. "Die Rastatter Prozesse – Kriegsverbrecher vor Gericht" ist der Titel des im Auftrag des SWR entstandenen Doku-Dramas, das Voelker als Autorin und Regisseurin umsetzte. "Die Kriegsverbrecherprozesse waren der einzige Weg, den Opfern zumindest ein bisschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen", sagt die Filmemacherin.


Info:

Judith Voelkers Doku-Drama "Die Rastatter Prozesse – Kriegsverbrecher vor Gericht" läuft am 4. Mai auf Arte (in einer 90-Minuten-Fassung) und am 17. Mai im ARD Hauptprogramm (als 45-Minuten-Fassung).

Zum Weiterlesen empfiehlt sich Eva-Maria Eberles "Tribunal Général", Buch Klöpfer, Ottersweiler 2018, 59,50 Euro.


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2 Kommentare verfügbar

  • Gerald Wissler
    am 03.05.2021
    Antworten
    Natürlich waren alle Prozeße, die die Sieger des Krieges nach dem Krieg gegen die Verlierer des Krieges geführt haben, eine Siegerjustiz.
    Eine unparteiische Justiz hätte sich ja auch mit Verbrechen auf Seiten der Gewinner befassen müssen. Und das ist meines Wissens niemals vorgekommen.
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