Nach Norbert Frei und Johannes Schmitz lässt sich Wirsing trotz seiner schnellen Karriere nach 1933 und seiner Mitgliedschaft in SS und SD nicht zu der Gruppe der überzeugten Nationalsozialisten zählen. Vielmehr hätte Wirsing eine so weitgehende Anpassungsbereitschaft gezeigt, um an der Macht des Regimes teilzuhaben und seinem Selbstbild als politischem Berater gerecht werden zu können. Die großen Schnittmengen zwischen Wirsings Weltbild und der nationalsozialistischen Ideologie erlaubten es ihm, auch ohne "Freiraum zwischen den Zeilen" schreiben zu können, "was er meinte". Wirsings Zielvorstellung war ein unter deutscher Herrschaft erneuertes Mitteleuropa. In seiner Publizistik kämpfte er gegen den "Westen", gegen die britischen und amerikanischen "Plutokratien", die für die Zerstörung einer kulturellen Identität verantwortlich seien. (…) Bewusst ambivalent gehaltene Publikationen wie sein Bosch-Aufsatz (…) sollten es ihm ermöglichen, sich im Fall einer Niederlage Deutschlands mit den Siegern arrangieren zu können. Auch schuf er sich ein Beziehungsnetz, das ihm nach 1945 half, seine Karriere weiterzuführen, z.B. mit Hilfe des guten Leumunds Klaus Mehnerts.
Internierung und Spruchkammerverfahren
Am 1. Juni 1945 um elf Uhr wurde Giselher Wirsing in Bad Tölz durch das Counter Intelligence Corps (CIC) verhaftet. Aufgrund seiner SS-Mitgliedschaft fiel er in den "automatischen Arrest". Es sollte beinahe drei Jahre dauern, bis er Mitte April 1948 wieder aus der Internierungshaft durch Amerikaner und Briten entlassen wurde. (…) Wirsing pflegte auch während der Internierungszeit sein Selbstverständnis als Ratgeber der Mächtigen und konnte keine persönliche Belastung erkennen. Entrüstet schrieb er seinem Freund Mehnert im Sommer 1947: "Es ist ja so abgeschmackt und grotesk mich durch das obwaltende automatische System zum ‚Nazi’ stempeln zu wollen, nachdem jeder weiss, dass ich es nicht war und auch nicht mit den Wölfen heulte. Dass die Leute mich bis zu einem gewissen Grad respektierten und mir bis in den Krieg hinein einen gewissen Spielraum ließen, war ja wohl gerade die Folge davon, dass man in mir so etwas wie eine Autorität sah, die man gewähren ließ." (…)
Aufschlussreich für Wirsings Sicht der Dinge ist bereits sein Meldebogen vom August 1947. Hinter der Frage, in welche Gruppe des Befreiungsgesetzes er sich selbst eingliedere, vermerkte er zunächst "IV" (Mitläufer), strich dies aber später und korrigierte es nach "V" (entlastet). Eine Belastung durch seine Tätigkeit während der Zeit des "Dritten Reiches" konnte er nicht erkennen. Um seine formale Belastung zu relativieren, bemerkte er am Ende des Formulars: "Ich habe in der SS nachweislich keinerlei Tätigkeit ausgeübt, nie Dienst getan und erhielt den SS-Rang als reinen Titel". Der öffentliche Kläger führte hingegen in seinem Plädoyer aus, dass Wirsing als leitender Schriftsteller und Journalist in die Gruppe der Aktivisten falle. Eine Widerlegung der präsumtiven Belastung nach Gruppe II sei ihm trotz der vorgelegten Erklärungen und Zeugenaussagen nicht gelungen. Sarkastisch resümierte er, dass Wirsing, der habe beweisen wollen, ein Gegner des Regimes gewesen zu sein, "viel geschwommen sei und wo er gegen den Strom geschwommen sei, habe er getaucht."
Dennoch reihte ihn die Spruchkammer Wirsing am 27. April 1948 aufgrund seines "Eintreten[s] für Verfolgte des Hitlerregimes" in die Gruppe IV der "Mitläufer" ein. Der öffentliche Kläger legte gegen diesen "absolut widersinnigen Spruch", einen "Mann vom Format des Giselher Wirsing" als "Mitläufer" einzustufen, entrüstet Berufung ein. Wirsing müsse in die Kategorie der "Hauptschuldigen" eingereiht werden. Auch der Journalist Ernst Müller-Meiningen jr. (1908-2006) griff das Urteil scharf an: "Wirsing und tausend andere sind nun eben einmal nicht mitgelaufen". Im Zuge der laufenden Spruchkammerverfahren finde mittlerweile eine "Verniedlichung der gesamten NS-Elite zu ‚Mitläufern‘" statt. (…) 1950 (stufte ihn die Berufungskammer, Anm. d. Red.) endgültig als "Mitläufer" ein und belegte ihn mit 500 DM "Sühne". (…) Die Berufungskammer sah es u.a. als entlastend an, dass Wirsing, der "wohl zu keiner Zeit ein überzeugter Nationalsozialist" gewesen sei, die Rassenlehre der Nazis abgelehnt habe. Auch habe er Verfolgten wie etwa dem jüdischen Mitarbeiter Dr. Jaffe geholfen.
Wirsings Spruchkammerverfahren stellt ein Musterbeispiel für die Fragwürdigkeit der "Entnazifizierung" jener späten Phase dar. Belastete konnten auf gesellschaftliche Solidarität gegen die als Abrechnung und Bestrafung denunzierten alliierten Maßnahmen zählen und zudem ab Sommer 1947 auf das neue globalpolitische Klima des aufkommenden "Kalten Krieges".
"Schritt aus dem Nichts" – Neuanfang in der Bundesrepublik
(…) 1954 wurde Wirsing auf Vermittlung und in der Nachfolge Klaus Mehnerts Chefredakteur der Wochenzeitung "Christ und Welt", an deren Gründung 1948 er bereits beteiligt gewesen war und in der er zunächst anonym publiziert hatte. Prägende Figur bei der Gründung war Oberkirchenrat Eugen Gerstenmaier (1906-1986), damals Leiter des Evangelischen Hilfswerks und später Bundestagspräsident. Unter Wirsings Führung wurde "Christ und Welt" die auflagenstärkste westdeutsche Wochenzeitung. Es erscheint aus heutiger Sicht nur schwer nachzuvollziehen, dass ein derart belasteter Journalist Chefredakteur einer christlichen Zeitung werden konnte. Der Journalist Klaus Harpprecht (1927-2016) erklärte später lakonisch die Notwendigkeit einer zweiten Chance auch für durch ihre Vergangenheit belastete Journalisten: "Wirsing war ein Mann mit schlimmer Vergangenheit, ja, aber er war auch hochintelligent – und diese Eigenschaft ist damals wie heute selten. Und so stand es ja um die Publizistik der frühen Bundesrepublik: Hätte man in jenen Jahren eine Zeitung machen wollen mit Redakteuren, die alle eine weiße Weste hatten, wären die Seiten wohl ziemlich leer gewesen."
Personelle Enthüllungen blieben in den 1950er und 1960er Jahren überwiegend folgenlos. So konnte auch Wirsing, obwohl seine Belastung als SS- und SD-Mitglied immer wieder diskutiert wurde, bis 1970 Chefredakteur von "Christ und Welt" bleiben. Norbert Frei und Johannes Schmitz fassen die dahinter stehende Mentalität treffend zusammen: "Die inzwischen weitverbreitete Überzeugung, die demokratische Zuverlässigkeit bereits genügend unter Beweis gestellt zu haben, untermischt auch mit zunehmender moralischer Dickfelligkeit, machte das Feld frei für einen alles einebnenden Pragmatismus." (…)
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Philippe Ressing
am 28.07.2019