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Tarifrunde Öffentlicher Dienst und Pflege

Drei Fachkräfte auf 37 Patienten

Tarifrunde Öffentlicher Dienst und Pflege: Drei Fachkräfte auf 37 Patienten
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Drei Feministinnen im typischen "Frauenberuf": Luna Monteiro Bailey, Jessica Geiß und Elena Saitta sind examinierte oder angehende Pflegefachkräfte im Klinikum Stuttgart. Ein Job, den sie großartig finden – wären da nicht die Arbeitsbedingungen. Die treiben sie gerade auf die Straße.

Sie wollen helfen – klar, sonst wären sie nicht in die Pflege gegangen. "Das macht ja niemand, um Millionär zu werden", sagt Luna Monteiro Bailey. Die 27-jährige Gesundheits- und Krankenpflegerin arbeitet am Klinikum Stuttgart und kommt an diesem Tag aus der Frühschicht, hat von 6 Uhr bis 14.15 Uhr Patient:innen auf der internistischen Intensivstation betreut. Nun ist sie erschöpft. Auch weil sie mehr als sonst um die Ohren hat. Zum einen absolviert sie die Fortbildung Intensivpflege und Anästhesie (eine Woche im Monat), zum anderen ist sie auf ihrer Station Teamdelegierte und damit zuständig für die Verbindung zwischen ihren Kolleg:innen und der Gewerkschaft Verdi. Seien es Fragen zur Rechtsberatung oder aktuell, wie das mit dem Streikgeld funktioniert. "Gerade Kollegen mit Migrationshintergrund wird offenbar öfters erzählt, sie dürften nicht streiken", berichtet Monteiro Bailey. "Klar, wenn du dich hier nicht auskennst und wenn vielleicht noch dein Aufenthaltsstatus nicht abgesichert ist – dann bist du verunsichert." Sie kläre die Kolleg:innen dann auf: "Streikrecht ist ein Grundrecht und das gilt für jede und jeden."

Dieses Recht nutzt Verdi derzeit in der Tarifrunde Öffentlicher Dienst, zu dem auch das kommunale Gesundheitswesen gehört. Die Gewerkschaft fordert für die 2,5 Millionen Beschäftigten in Bund und Kommunen acht Prozent, mindestens aber 350 Euro mehr monatlich und 200 Euro mehr für Azubis. Außerdem soll es drei zusätzliche freie Tage und ein "Meine-Zeit-Konto" für mehr Zeitsouveränität geben. Da zwei Verhandlungsrunden ohne Ergebnis rum sind, ruft Verdi nun zu weiteren Arbeitsniederlegungen auf – am kommenden Donnerstag, 6. März, sind bundesweit die Beschäftigten des Gesundheitswesens dran.

Als Teamdelegierte wird Luna Monteiro Bailey den Notdienstplan mit der Klinikleitung mitverhandeln. Streik im Krankenhaus ist deutlich komplizierter als bei der Müllabfuhr oder in einer Verwaltung, denn hier hängen Menschenleben dran. Ja, das sei schwer, räumt Monteiro Bailey ein. Aber notwendig. Wenn sie etwas erreichen wollten, müsse nun mal Druck aufgebaut werden. "Wir bekommen das auch immer irgendwie hin", sagt Monteiro Bailey. Letztlich müsste es eigentlich auch im Interesse der Arbeitgeber liegen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, damit mehr Menschen sich für die Arbeit im Krankenhaus entscheiden. Aber so sehen die das offenbar nicht.

Die Arbeitsbedingungen bei ihr auf der Intensivstation sind dabei verhältnismäßig gut, sagt Monteiro Bailey. "Wir haben 12 bis 14 Patienten und eine 2:1 Besetzung." Eine Pflegekraft für zwei Patienten also. "Auf Normalstation dagegen packen die immer noch mehr Patienten dazu." Dort könnten die Kolleginnen eigentlich nur noch von einem Zimmer zum anderen rennen.

Pflege bleibt weiblich und unterbezahlt

Zwei Drittel der Pflegefachkräfte sind Frauen. In der Altenpflege liegt ihr Anteil bei über 80 Prozent. Die Arbeitsbelastung im Gesundheitswesen ist spätestens seit Corona ein öffentliches Thema. Doch signifikant geringer geworden ist sie nicht. Zwar sind die Löhne gestiegen, doch die Personalnot bleibt. 391.506 Menschen arbeiteten bundesweit 2023 im Krankenhaus in der Pflege, immerhin 20.000 mehr als im Jahr davor. Benötigt werden deutlich mehr. Für Krankenhäuser berechnet das Statistische Bundesamt, man brauche in den kommenden 15 Jahren 100.000 zusätzliche Pflegekräfte. Bis dahin allerdings dürften eine ganze Reihe der jetzt Beschäftigten ihren Job aufgegeben haben – auch, weil sie den dauernden Stress nicht mehr aushalten.

So weit sind Jessica Geiß und Elena Saitta nicht. Die beiden sind an diesem Mittwochvormittag nach Esslingen zum Jugendstreiktag gefahren, zu dem Verdi aufgerufen hat. Saitta, 25, ist seit Oktober examinierte Pflegefachkraft am Klinikum Stuttgart, sie schafft in der Unfallchirurgie. Geiß, 39, ist bereits ausgebildete Pflegehelferin und jetzt im ersten Lehrjahr zur anästhesietechnischen Assistentin. "Und ich habe sechs Kinder", setzt sie strahlend hinzu. Die Kinder seien zwischen sechs und 20 Jahre alt und lebten seit anderthalb Jahren bei ihrem Ex-Mann. "Wir haben uns freundschaftlich getrennt." Sie findet es schade, dass sie nach 20 Jahren Kindererziehung und Haushalt vom Jobcenter nicht mehr unterstützt wird, sondern ganz normal vom Azubi-Lohn (1.300 Euro brutto im ersten Ausbildungsjahr) leben muss. Zum Glück verdiene der Ex gut, sagt sie. Besser wäre, wenn es finanziell unterstützt würde, wenn frau nach so langer Zeit für die Kinder sich noch für eine Ausbildung entscheidet. "Selbst wenn ich jetzt bis 67 oder 70, wie die CDU das will, arbeite, wird meine Rente gering sein. Für Kindererziehung gibt es ja nicht so viele Rentenpunkte."

Damit vereint sie typische Frauenprobleme: unbezahlte und bei der Rente kaum berücksichtigte Care-Arbeit plus einen Job, der eher mittelmäßig bezahlt wird. Würden in der Pflege fast nur Männer arbeiten, sähe das vielleicht anders aus. Aber sich um Menschen zu kümmern, wird weiterhin vor allem Frauen zugeordnet. "Dabei können Frauen genauso gut im Finanzwesen arbeiten", sagt Elena Saitta. Sie ärgert auch, dass einerseits Frauen die Pflege bewältigen, andererseits im Krankenhaus immer noch Bemerkungen fallen, wie "Ist hier ein starker Mann zum Helfen?" "Ich kann einen 100-Kilo-Patienten genauso gut bewegen", sagt sie und ihre Augen blitzen zornig. Die Geschlechterzuordnung weiblich gleich pflegend beobachten die beiden auch bei Krankenhausbesuchen. Zu den Patient:innen kämen vor allem die Töchter, Ehefrauen, Partnerinnen, erzählen Saitta und Geiß – und wundern sich über männliche Abwesenheit.

Sexismus und Rassismus im Krankenhaus

Luna Monteiro Bailey ist überzeugt, dass Erziehung und Gesellschaft dafür verantwortlich sind. "Männer können auch zugewandt, empathisch und menschlich sein", sagt sie und lächelt freundlich. "Das kann man lernen, das kann jeder." Schließlich gebe es, jedenfalls bei ihnen auf der Station, genauso viele Ärztinnen wie Ärzte. Da hat sich also schon einiges getan in den vergangenen Jahrzehnten, sagt Bailey. Deswegen: Auch in der Pflege sollten mehr Männer arbeiten.

Und zwar sensibilisierte. Denn ein anderes gesellschaftliches Problem gibt es ebenfalls im Klinikalltag: Sexismus. "Dass Patienten obszöne Bemerkungen machen, Kollegen dumme sexistische Sprüche raushauen – natürlich erlebe ich das." Auch körperliche Übergriffe gebe es. Da müsste es ihrer Ansicht nach mehr Schulungen geben, zumindest in ihrer Ausbildung sei das kein besonderes Thema gewesen. Genauso wenig wie Rassismus. Auch der begegne ihr nicht zu knapp. Sowohl in der Kollegenschaft untereinander, als auch von Patient:innen zu Pflegenden und umgekehrt. Die Medizin sei nun mal nicht per se antirassistisch. Bis heute werde das Vorurteil "Morbus Mediterraneus" gepflegt, der Mittelmeer-Krankheit. "Das heißt letztlich, Patienten aus dem Mittelmeerraum würden gerne übertreiben, da müsse man nicht so viel Schmerzmittel geben." Monteiro Bailey redet sich in Rage. Sie sei intersektionelle Feministin, sagt sie, will also jegliche Diskriminierung abschaffen, sei es die von Schwarzen, von Frauen, von Behinderten. Dass es Mehrfachdiskriminierung gebe, sei auch ihr erst mit der Zeit bewusst geworden, erzählt sie. "Aufgewachsen bin ich als Deutsche ja privilegiert." Doch irgendwann sei ihr klar geworden: "Ich muss den Mund aufmachen." Das tut sie, und ihre Erfahrung zeigt: So verschafft sie sich Respekt.

In Esslingen sind Jessica Geiß und Elena Saitta mit dem Demozug auf dem Weg durch die Stadt. Sie grüßen rechts und links, als Jugend- und Auszubildendenvertreterinnen, kurz Javis, kennen sie viele der jungen Kolleg:innen. Sie erzählen aus ihrem Klinikalltag. Saitta hat schon erlebt, wie sie nachts auf Station 18 Patient:innen zu versorgen hatte. "Wenn da zwei umkippen – was dann?" Klar, man rufe einen Arzt. "Aber auch die sind oft am Limit." Drei Fachkräfte für 37 Patient:innen seien keine Seltenheit. "Da hast du keine Zeit, mal mit den Menschen zu reden, ihnen zu zeigen, dass sie verstanden werden." Und mit elf Betten pro Pflegekraft "rennst du ständig nur von einem Zimmer zum anderen." Dabei sei es so schön, wenn doch mal Zeit bleibe. Geiß wirft ein: "Wenn du eine 90-Jährige da liegen hast, die aus ihrem Leben erzählt – das ist superinteressant." Sie liebe ihren Beruf: "Das Medizinische ist spannend und Menschen zu helfen, ist einfach sinnstiftend." Auf der Unfallchirurgie, erzählt Saitta, sei es faszinierend zu erleben, welche Fortschritte die Chirurgie macht. "Da denkst du bei einem Patienten, oh je, ob der wohl wieder wird? Und dann erlebst du, wie er wieder auf die Beine kommt – das ist schon großartig."

Streik als Selbstermächtigung

Beide sind sich einig: Die Arbeit ist toll. Eigentlich. Aber sie bräuchten dringend mehr Kolleg:innen. Woher die kommen, ist ihnen egal. "Bei uns am Klinikum arbeiten so 10.000 Menschen aus 94 Nationen", sagt Elena Saitta mit sichtbarem Stolz. Seit 2022 wird das Beschäftigungswachstum in der Pflege ausschließlich von ausländischen Beschäftigten getragen, die Zahl deutscher Pflegekräfte ist hingegen rückläufig, ergab jüngst eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Ohne diese Kolleg:innen geht nichts, sagt Saitta. Und wer wie die AfD erzähle, das Land könne auf Menschen mit Migrationsgeschichte verzichten, hätte einfach mal gar keine Ahnung von irgendwas.

Doch die zuletzt im Wahlkampf hochgekochte Debatte über Migrant:innen belastet. Luna Monteiro Bailey, die wegen ihrer Hautfarbe selbst Rassismus erlebt, berichtet: "In der Kollegenschaft reden wir seit einem Jahr darüber, wo wir hingehen könnten, wenn das hier mit der AfD immer schlimmer wird." Das sei doch extrem furchtbar. "Dabei will ich gar nicht weg. Ich mag Deutschland. Eigentlich."

In der Gewerkschaft sind die drei Frauen, weil sie dort gemeinsam aktiv werden können, egal wo sie herstammen, wo sie arbeiten. In ihrer ersten Tarifrunde vor zwei Jahren hat Elena Saitta zum ersten Mal gestreikt. "Das war so toll! Ein so gutes Gefühl von Gemeinschaft." Im Alltag sei man oft handlungsunfähig, "da muss man mitschwimmen, damit es läuft", ergänzt Jessica Geiß. "Beim Streik merken wir: Wir können mitgestalten, wir müssen kein Blatt vor den Mund nehmen." Neben mehr Geld und Zeit wollen die beiden auch Bewusstsein schärfen. "Das Gesundheitswesen gehört nicht unter den kapitalistischen Zwang, Geld zu verdienen", betont Elena. Schließlich geht es um Menschenleben.

Dass sich an diesen Strukturen in absehbarer Zeit etwas ändern wird, erwarten die beiden allerdings nicht. "Laut Merz sollen ja eher weniger Leute im öffentlichen Dienst arbeiten, um zu sparen", sagt Saitta. "Dabei sind wir so wichtig. Busfahrer, Erzieherinnen, Pflegekräfte, Verwaltungen – ich glaube, in der Politik wird unterschätzt, wie sehr wir die Wirtschaft mit am Laufen halten." Auch Luna Monteiro Bailey hat wenig Hoffnung auf Besserung. "Patienten brauchen Liebe und Zuwendung. Wenn wir das nicht geben können, weil wir unterbesetzt sind, geht es den Patienten schlecht und wir erkalten und stumpfen ab. Aber Menschlichkeit zählt in diesem System nicht." Nicht erst seit den 551 Fragen von CDU/CSU zu gemeinnützigen Organisationen fragt sie sich: "Was ist im Leben von Merz und Söder schiefgelaufen, dass sie so bösartig sind?"

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1 Kommentar verfügbar

  • Ursula Kretzer
    vor 3 Wochen
    Antworten
    Super Artikel.
    Ich arbeite selbst in einem Krankenhaus, als Ärztin. Ich bin jetzt kurz vor der Rente, aber ich würde jederzeit wieder in diesen Beruf gehen. Trotz all der negativen Seiten wie zu geringer Besetzungen.
    Erst seit ca. 15 Jahren haben wir im ärztlichen Bereich überhaupt eine…
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