Unterdeufstetten ist ein Teilort der 4.500-Einwohner-Gemeinde Fichtenau im Landkreis Schwäbisch Hall. Jahrhundertelang war der Ort Winterquartier des fahrenden Volkes. Im 17. Jahrhundert begann in und um Unterdeufstetten der Landadel mit der Ansiedlung von Landfahrern und Flüchtlingen des Dreißigjährigen Krieges, viele davon Jenische. Ländereien, die sie hätten bewirtschaften können, erhielten die neuen Anwohner aber keine und blieben somit ihrer Arbeit im fahrenden Gewerbe treu. Auf Märkte in sämtlichen deutschen Kleinstaaten, nach Ostpreußen, Südtirol und ins Elsass zogen die nomadischen Händler. Sie arbeiteten als Messerschleifer oder Kesselflicker, boten selbst hergestellte Bettwäsche, Bürsten oder Geschirr an. Heute verbringen die meisten Jenischen den Großteil ihres Lebens an einem festen Wohnsitz, so wie Kronenwetter, als "Beton-Jenische". Und trotzdem, Grenzen überschreiten jene unter ihnen, die dem fahrenden Handel treu geblieben sind, nach wie vor – kulturelle, aber auch ideologische.
"Man hat Menschen kennengelernt, Mentalitäten", erklärt Kronenwetter zurückblickend auf sein langes Händlerleben. Damals zum Beispiel, kurz nach dem Mauerfall, als er und seine Frau als zwei der ersten westlichen Verkäufer auf Märkten in der DDR auftischten. Vielleicht war es eben jene Grenzenlosigkeit, der Einfluss verschiedenster mitteleuropäischer Kulturen auf das eigene Leben, deretwegen die Jenischen seit jeher auf Ablehnung unter der sesshaften Bevölkerung stießen. Als "Zigeuner" galten sie, nicht fähig zur Anpassung, und erlebten jahrhundertelange Ausgrenzung, auch durch die Bauern in Unterdeufstetten.
In diesem Graubereich zwischen Zusammenarbeit mit den "Gadschos", den Nicht-Jenischen, und dem gesellschaftlichen Rand, den diese Volksgruppe besiedelte, entwickelte sich die jenische Sprache. Aus Mädchen wird "Tschei", aus Apfel "Bommerling" und aus Katze "Schmaling". Die Sprache war Identifikationsmittel, Fach- und Geheimsprache, die von ihren Sprechenden jahrhundertelang im Verborgenen gehalten wurde. "Je besser man über uns und unsere Kultur Bescheid weiß, umso besser kann man sie gegen uns verwenden", sagte etwa der österreichisch-jenische Schriftsteller Romed Mungenast (1953 bis 2006). Die Angst war nicht grundlos. Als unter den Nationalsozialisten Andersartigkeit zum Todesurteil wurde, erlebte auch die Verfolgung der Jenischen ihren grausamen Höhepunkt.
Wie viele von ihnen in Sachsenhausen, Dachau oder Auschwitz umgebracht wurden, dazu gibt es keine offiziellen Zahlen. "Sie sind als Asoziale eingeliefert worden", erklärt Kronenwetter, oder als "Zigeuner-Mischlinge". Viele seien sterilisiert worden, andere in Konzentrationslager verschleppt und ermordet, sämtliche Verbrechen an ihnen wurden in den darauffolgenden Jahren totgeschwiegen.
Es gibt keinen offiziellen Ort des Andenkens
In der Erinnerung an die Jenischen sieht Renaldo Schwarzenberger, Vorsitzender des Zentralrats der Jenischen in Deutschland, bis heute Mängel. "In Berlin müsste längst schon ein Ort zum Andenken existieren, wie es ihn für die Sinti und Roma gibt", sagt er, und in Schulbüchern zum Holocaust fänden die Jenischen keine Erwähnung.
Kronenwetter erinnert sich an die Gespräche der Unterdeufstettener Kriegsgeneration in seiner Jugend, über Bomben hatten sie geredet und über den Hunger, aber über die ermordeten Nachbarn niemals. Doch später, es war vielleicht 1990, nannte ihm ein Bekannter Namen: die Namen von fünf jenischen Einwohnern Unterdeufstettens, die damals mitgenommen wurden und nie zurückkehrten. Kronenwetter begann nachzuforschen, arbeitete sich durch Berge von Akten, stieß auf weitere Opfer aus dem Dorf: sechs im KZ ermordet, einer verschollen, einer von der SS erhängt. Kronenwetter wollte es nicht dabei belassen. Auf seine Initiative hin wurde 2014 ein Gedenkstein auf dem örtlichen Friedhof installiert, den er im Jahr 2019 um eine Tafel mit den Namen der Opfer ergänzte.
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