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Auf den Spuren von Edzard Reuter

Menschen sind keine Flut

Auf den Spuren von Edzard Reuter: Menschen sind keine Flut
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Zum ersten Mal ohne ihre Gründer verleiht die Helga-und-Edzard-Reuter-Stiftung ihre Preise. Den Part, für ein friedliches Miteinander zu werben, übernimmt eine ehemalige CDU-Ministerin. Grund genug, nach Berlin zu reisen. Friedhofsbesuch inbegriffen.

Ein Sack voller Erinnerungen im Gepäck. Die letzte aus der Notaufnahme im Stuttgarter Marienhospital. Edzard Reuter hat einen Treppensturz hinter sich, ist in eine Blumenvase gefallen, nichts gebrochen. So erzählt es der Arzt, der ihn behandelt. Sein Patient sagt, schön, dass ihr da seid, aber jetzt müsst ihr gehen, Kontext hat doch Redaktionsschluss. Immer pflichtbewusst, auch mit 96 Jahren. Eine Woche später, am 27. Oktober 2024, ist Reuter tot. Ein Virus, wo auch immer eingefangen, hat seinem Leben ein Ende gesetzt. Drei Wochen später stirbt seine Frau Helga.

Es ist Februar, der 26ste, 2025, Berlin, Waldfriedhof Zehlendorf. Das Fleckchen Erde ist prominent besetzt und an Schlichtheit kaum zu überbieten. Zwei Kiefern, winterharte Rhododendren, grauer Stein. Ich setze mich auf die Bank gegenüber und stelle mir vor, worüber die Spitzengenossen gerade reden. Sie haben es ja nicht weit zueinander. Migrationspolitik wahrscheinlich.

Unter einem unbehauenen Grabstein liegt Willy Brandt, SPD-Bundeskanzler von 1969 bis 1974, einen Meter dahinter Ernst Reuter, auch SPD-Mitglied und Regierender Bürgermeister von Berlin von 1948 bis 1953, beide ohne Titel, ohne Daten. Neben Ernst Reuter liegen sein Sohn Edzard und dessen Frau Helga. Sie sind Ende vergangenen Jahres dazugekommen und haben bisher nur jeweils eine Holztafel. Zwei kleine Rosensträuße stecken im frisch aufgehäuften Boden.

Zu erwähnen ist noch, dass zehn Meter weiter Hildegard Knef ihren weißen Stein hat, mit Engelchen drauf. Sie ist auch Ehrenbürgerin der Stadt und Idol des jungen Edzards. Sie sei ein "Vorbild an Kraft und Unverzagtheit" sagte Berlins Regierungschef Klaus Wowereit (ebenfalls SPD) bei ihrer Beerdigung 2002. Insoweit hat es gepasst.

Auf dem Fleckchen Erde haben sie ihre letzte Ruhe gefunden. Der Kanzler, der ins Exil nach Norwegen geflüchtet war, der Regierende Bürgermeister, dem die Türkei Schutz vor den Nazis geboten hat, der Daimler-Chef, den der Despot Erdoğan sofort verhaftet hätte, wäre er denn eingereist. Alles Migranten, und ich frage mich aus aktuellem Anlass, was die Ikonen der Partei zum "Zustrombegrenzungsgesetz" gesagt hätten. So heißt jenes Vorhaben der CDU, das den "illegalen Zustrom von Drittstaatsangehörigen" zusammen mit der AfD beschränken wollte.

Die Barbarisierung der Sprache ist Wegbereiter

Einen Beitrag zu diesem Begriff trage ich mit mir herum, weil er auf den Friedhof passt, auf dem gut Sinnieren ist. Geschrieben haben ihn deutsche Autor:innen und Buchverleger:innen in der "Süddeutschen Zeitung" unter der Überschrift: "Menschen sind keine Naturkatastrophe". Der realen Barbarei gehe die Barbarisierung der Sprache voraus, erklären sie und verorten die Metapher des Stroms im Repertoire des Faschismus. Aus Strömen würden entfesselte Naturgewalten gemacht, die liebliche Bäche der Heimat in reißende Monster verwandelten, heißt es in dem Text weiter, der aus den Häusern Luchterhand, Kiepenheuer & Witsch und Ullstein kommt. Am Ende gehe es um die "Sicherung vor dem Zuströmen artfremden Blutes" – wie bei den Nazis 1935.

Was Willy Brandt und Ernst Reuter dazu sagen würden, kann man ahnen. Von Edzard Reuter weiß ich es. In unseren Gesprächen hat er immer wieder daran erinnert, dass wir nur in einer "Gemeinschaft von Menschen" existieren können, im friedlichen Zusammenleben, unabhängig von Religion, Ethnie und Kultur. Und deshalb hat er schärfere Asylgesetze stets abgelehnt, den Anteil seiner SPD nie geleugnet und seine Helga-und-Edzard-Reuter-Stiftung gegründet. Ihr ausschließlicher Zweck: Integration und Völkerverständigung.

Nach dem Friedhofsbesuch will ich zur diesjährigen Preisverleihung ihrer Stiftung ins Max-Liebermann-Haus, direkt neben dem Brandenburger Tor. Dort empfängt Susanne Eisenmann, 60, die das Ehepaar Reuter gefragt hatte, ob sie den Vorsitz im Kuratorium ihrer Stiftung übernehmen wolle. Das war 2021, direkt nach der Landtagswahl, als Eisenmann mit ihrer Absicht, Ministerpräsidentin zu werden, krachend gescheitert war. Es war der Augenblick, in dem sie – nach langer Zeit in der CDU – erkannte, dass sich in der Politik "alles nur ums Ich" dreht. Um das Ego eines eingebildeten Fixsterns, der Macht hat über die Satelliten um sich herum.

Vorbei war's mit der "Eisennanny", die sich ihren Ruf hart erarbeitet hatte. Heute lacht sie lauthals, wenn man ihr sagt, viel schöner sei's gewiss, die Heilige Susanne zu sein, die mit dem Füllhorn der Reuter-Stiftung durch die Gegend fliege. Gerade wird eine Auktion der Reuterschen Bilder geplant, am 28. Mai soll's so weit sein, in Paris bei Christie's. Zwischen drei und fünf Millionen Euro könnten erlöst werden. "Wir werden", sagt sie, "eine große Privatstiftung sein."

Der Rollenwechsel, mit dem auch ein neues Image verbunden ist, macht entsprechend Laune, befreit von der täglichen Angst, hinter jeder Hecke einen Schützen vermuten zu müssen. Es sei "ausgesprochen wohltuend", bestätigt die frühere baden-württembergische Kultusministerin, sich in diesen Kreisen zu bewegen, in denen Tonart und Umgang anders seien als in der Politik. Aber zur Heiligsprechung sei es noch zu früh.

Diese Aufgabe übernimmt Martin Brudermüller, der Aufsichtsratschef der Mercedes-Benz Group – in seiner Würdigung von Edzard Reuter. Ein "Kämpfer für Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit" sei er gewesen, ein "Mensch von außergewöhnlicher Tiefe, Weitsicht und Integrität", eine der "prägendsten Persönlichkeiten unserer Unternehmensgeschichte". Zu Lebzeiten hätte der "engagierte Philanthrop" Reuter gefragt, ob's vielleicht auch ein paar Nummern kleiner ginge. Zumal das Verhältnis Daimler–Reuter eine Hochzeit im Himmel wohl nicht zugelassen hätte. Brudermüller ist dann auch schnell wieder weg.

Mutig in Eberswalde

Susanne Eisenmann bleibt am Boden. Sie ehrt die Initiative "meet2respect", die Imame und Rabbiner in Schulen schickt, und einen Bäcker aus Eberswalde: Björn Wiese, 52, ein Kerl wie ein Baum, bildet Syrer, Afghanen und Pakistani aus, hilft ihnen bei der Wohnungssuche und beim Kampf mit der Bürokratie. 20 Prozent seiner 40-köpfigen Belegschaft haben migrantischen Hintergrund.

Das ist mutig, zumal in einer Stadt, die ihre eigene Geschichte mit rechtsextremer Gewalt hat. In der Nacht des 24. November 1990 war es, als 50 Skinheads den 28-jährigen Angolaner Amadeu Antonio zu Tode trampelten. Sie nannten es "Neger klatschen". Der erste politisch motivierte Mord nach der Wiedervereinigung geschah vor den Augen der Polizei, die nicht eingriff. Heute ist die AfD die stärkste Fraktion im Rathaus, bei den Bundestagswahlen stimmten 33 Prozent für die rassistische Truppe um Alice Weidel und Björn Höcke.

Bäckermeister Wiese kann noch Orte aufzählen, die über der 40er-Marke liegen, und dennoch oder gerade deshalb macht er weiter. Er habe als Kind der DDR auf Rügen gesehen, wie die Schiffe nach Schweden abgelegt haben, sagt er, und sich jedesmal "nach Freiheit gesehnt". Und die sei nun mal unteilbar.

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