Ob Kranken- und Altenpflege oder Lebensmitteleinzelhandel (und bestimmt noch ein paar mehr) – hier werden die Beschäftigten gerade benötigt wie noch nie. Jetzt müssten auch die letzten Kassiererinnen und Krankenpfleger feststellen, dass die Schere zwischen Bezahlung plus Arbeitsbedingungen einerseits und ihrer gesellschaftlichen Notwendigkeit andererseits extrem auseinanderklafft. Sie sind plötzlich systemrelevant, bekommen aber weiterhin wenig Geld und arbeiten bis zu zwölf Stunden am Tag. Das müsste doch die Zeit der Gewerkschaften sein. Zum Beispiel von Verdi. Die Dienstleistungsgewerkschaft ist sowohl für die Gesundheitsberufe als auch für den Einzelhandel zuständig.
In der nicht-gewerkschaftlichen Öffentlichkeit ist vor Ort nicht viel von Verdi zu sehen. "Wir haben nicht gerade große gewerkschaftliche Handlungsmöglichkeiten", findet Bernhard Franke, Verdi-Landesleiter für den Bereich Handel in Baden-Württemberg. Franke war schon vor der Verdi-Gründung 2001 hauptamtlich für den Handel zuständig, damals noch in der HBV. Er setzt auf Pressemitteilungen. "Wir haben uns zum Beispiel zu Wort gemeldet zu den freiwilligen Prämienzahlungen im Lebensmitteleinzelhandel. Aber das sind halt unverbindliche Meinungsäußerungen." Neues gäbe es auch. "Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine Tarifkonferenz als Telefonkonferenz gemacht. Das geht, ist halt alles noch ungewohnt." Und sonst? "Ja, was würden Sie denn machen?", fragt Franke zurück.
Im Einzelhandel ist die Lage kompliziert. Bis 2000 war der Flächentarifvertrag hier allgemeinverbindlich, galt also für jeden Laden, egal ob tarifgebunden oder nicht. Seit die Allgemeinverbindlichkeit damals auf Druck der rot-grünen Bundesregierung gekappt wurde, hat sich die Lage drastisch verschlechtert. Gerade im Lebensmitteleinzelhandel regieren die Konzerne, und die sind nur zum Teil tarifgebunden. Zum Beispiel Rewe und Edeka: Steht hinter dem Edeka-Schild am Laden kein Name, gehört der Laden zur Edeka Group und ist tarifgebunden; steht da aber noch beispielsweise "e.K. Max Meier" (eingetragener Kaufmann), ist der Laden in der Regel nicht tarifgebunden. Genauso ist es bei Rewe. Laut Tarifvertrag verdient eine Verkäuferin in Vollzeit nach sechs Jahren 16 Euro pro Stunde. Höher kommt sie dann nicht mehr. Es darf vermutet werden, dass viele nicht-tarifgebundenen Betriebe sich durch niedrigere Löhne Wettbewerbsvorteile verschaffen.
Im Lebensmittelhandel geht der Punk ab
Dass die Strukturen im Einzelhandel es nicht gerade einfacher machen, an die Beschäftigten ranzukommen, weiß auch Benjamin Stein, Geschäftsführer des Verdi-Bezirks Fils-Neckar-Alb, also in den Landkreisen Esslingen, Göppingen und Reutlingen. "Im Moment geht im Lebensmittelbereich der Punk ab", sagt er. "Erst dauerte es zum Teil drei Wochen, bis die Hygieneschutzmaßnahmen da waren, und dann arbeiten die Leute da jetzt teilweise Doppel- und Dreifachschichten." Die meisten Beschäftigten in den Supermärkten und Discountern hätten Teilzeitverträge. Stein: "Jetzt werden nicht die Arbeitsverträge geändert, sondern die Leute machen Überstunden. Das geht erstmal gut. Aber wenn sie krank werden, fallen sie ja mit allen Leistungen wieder ins Teilzeitgehalt. Würde mich nicht wundern, wenn da mancher auch krank zur Arbeit geht."
6 Kommentare verfügbar
Olaf
am 24.04.2020Geärgert? Ja des öfteren. Oft wurde taktiert was für viele nicht nachvollziehbar ist.
Aber Bereut? Nie! Ohne Organisation der Arbeiter*innen gegenüber den Eigentümern ist…