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"Gute Pflege spart Geld"

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Zeitdruck, Überstunden, Unterbezahlung: Eine menschenwürdige Pflege ist unter diesen Bedingungen kaum möglich. Monika Kneer, die stellvertretende Pflegeschulleiterin an der Stuttgarter Filderklinik, weiß, wie das ist.

"Ich bin in den 1970er Jahren in Deggingen, einem Dorf im oberen Filstal, groß geworden. Meine Mutter war damals dort als Gemeindeschwester in der ambulanten Pflege der katholischen Sozialstation tätig. Sie hat mich oft mitgenommen, vor allem abends, auf ihrer Spätrunde. Als Gemeindeschwester spielte sie eine wichtige Rolle in den Familien. Damals konnten sich die Kranken auf eine Rundum-Pflege verlassen. Meine Mutter übernahm auch hauswirtschaftliche Aufgaben, machte PatientInnen auch mal das Essen warm. Es ging bei der Betreuung nicht nur um alte, schwerkranke, bettlägerige Menschen. Sie war auch Ansprechpartnerin, wenn ein Kind geboren wurde. Es gab viel zu tun und die Touren waren oft lang, aber man musste nicht auf die Uhr gucken. Man hatte immer genügend Zeit, sich den Menschen zuzuwenden. Meine Mutter hat das lange gemacht und bei mir die Freude an diesem Beruf geweckt: Menschen in Extremsituationen ein Stück weit zu begleiten, sie zu versorgen, zu unterstützen und zu beraten, bis sie wieder gesund sind.

Es hat sich sehr viel verändert seitdem. Mit Einführung der Pflegeversicherung 1995 wurden Menschen eingruppiert in Stufen der Pflegebedürftigkeit. Es zählte der in Minuten gemessene Pflegebedarf. Seit 2017 ist der Grad der Selbstständigkeit entscheidend. Im Vordergrund steht, was die Betroffenen noch alleine tun können und wobei sie unterstützt werden müssen. Beim Erstbesuch des Pflegepersonals wählen Pflegebedürftige aber nach wie vor aus einem Leistungskatalog aus, wie viele Pflegeleistungen genau sie einkaufen wollen. Die PatientInnen sind zu Kunden geworden. Das hat dazu geführt, dass die Pflegenden Leistungen darüber hinaus nicht bezahlt bekommen. Mal ein Gespräch, mal dafür sorgen, dass mittags das Essen bereitsteht – das ist nun nicht mehr drin. Dazu ist der Zeitdruck in der ambulanten Pflege viel zu hoch.

Das Gesundheitswesen ist kein Wesen mehr, sondern ein Markt

2003 wurde der Druck noch einmal erhöht durch die Einführung der Fallpauschale: die Einordnung der PatientInnen in sogenannte DRGs, diagnosebezogene Fallgruppen. Jeder Krankheit wird ein fixer Preis zugeordnet. Wer mit möglichst geringen Personal-, Sach- und Organisationskosten die Kranken schnell abfertigt, macht Gewinn, und wer sich Zeit für sie nimmt, macht Verlust. Die Verweildauer der PatientInnen wurde verkürzt, viele Klinikbetten wurden abgebaut, Krankenhäuser geschlossen, es gab einen massiven Abbau des Pflegepersonals. Die Arbeitsverdichtung in den verbleibenden Häusern ist enorm.

Für den Pflegeberuf hat das fatale Folgen. Früher hat man versucht, Menschen möglichst gesund aus der Klinik zu entlassen, sie nach der OP so lange zu betreuen, bis sie zuhause wieder selbstständig leben können. Das findet heute oft nicht mehr statt. PatientInnen werden mitunter viel zu früh entlassen, um Kosten zu sparen. Ihr Heilungs- und Gesundungsprozess wird dadurch nur noch bedingt unterstützt.

Nehmen wir zum Beispiel eine Patientin mit Schlaganfall, die von einem auf den anderen Tag sehr viele Fähigkeiten verloren hat: etwa die Sprache und etliche Körperfunktionen. Die akuten Symptome des Schlaganfalls werden behandelt. Aber sie braucht danach eigentlich viel Zeit für die Rehabilitation. Wenn dann keine direkte Anschluss-Reha erfolgen kann, muss die Frau als Pflegefall nach Hause, wo weder sie noch etwaige Angehörige auf die Situation vorbereitet sind. Auch die sogenannten "blutigen" Entlassungen sind ein Problem: wenn Menschen entlassen werden, bevor die Wunde richtig verheilt ist. Es kann dann zu Folgeerkrankungen kommen, und schnell sind sie wieder zurück im Krankenhaus. Man nennt das auch "Drehtüreffekt": freitags entlassen, montags wieder da. Das ist auch bei KrebspatientInnen oft so.

Es ist bekannt, dass die Nebenwirkungen einer Chemotherapie erst nach ein bis drei Tagen massiv spürbar werden und dass die Kranken in dieser kritischen Zeit unterstützt werden müssten. Trotzdem werden sie direkt nach der Chemo nach Hause geschickt. Kurze Zeit später kommen sie als Notfall zurück in die Klinik. Wir wissen auch, dass alte Menschen häufig durch einen Sturz in eine Abwärtsspirale geraten: Wenn die Pflege sie nicht angemessen begleitet, können sie schnell bettlägerig werden. Aber die Rekonvaleszenz wird eben nicht mehr finanziert. Das ist der große Fehler im System.

Meine These ist: Gute Pflege würde Geld sparen. Die Folgen von schlechter Pflege sollten viel mehr in den öffentlichen Diskurs. Der Zeitdruck muss raus aus der Pflege. Sie kann über die DRGs nicht berechnet werden. Es geht für die Pflegenden erst einmal darum, mit den Menschen, die sie betreuen, ins Gespräch zu kommen. Die Kranken sind in Extremsituationen und oft mit ihrem Schicksal allein. Ich muss ihr Vertrauen gewinnen, um dann gemeinsam über die weitere Versorgung und Therapie zu sprechen, offene Fragen zu klären. Dinge, für die ÄrztInnen oft keine Zeit haben. Aber eine solch behutsame, einfühlsame und professionelle Pflege ist heute kaum mehr möglich.

Die Zustände schaden dem Image unseres Berufsstandes enorm. Bei langjährigen Pflegekräften beobachte ich Verbitterung, Resignation, Verzweiflung, eine große Frustration. Sie haben keine Freude mehr an der Arbeit, die sie einmal wirklich gerne gemacht haben. Sie haben die Hoffnung verloren, dass sich irgendwann mal wieder etwas zum Positiven wendet, dass sie wieder Zeit haben für die Menschen und ihr Wissen wieder anwenden können. Kaum jemand arbeitet in der Pflege heute noch Vollzeit. Fast alle sind auf Teilzeit. Man macht dann lieber noch einen anderen Job nebenher.

Das macht mir Sorgen. Schließlich bilden wir im Pflege-Bildungszentrum junge Menschen aus, die mit Idealen antreten, die soziale Aufgaben suchen, wohlwissend, dass es anstrengend wird. Ich möchte eigentlich ein positives Bild von diesem Beruf vermitteln und Menschen dafür gewinnen. Es ist einer der schönsten Berufe der Welt. Man kann so viel Gutes bewirken. Aber sie werden schon bald zerrieben, erleben frustrierte KollegInnen, die ihnen sagen: 'Warum hast du dir das denn ausgesucht? Ich würde es niemals mehr machen.' Die Fluktuation ist sehr hoch. Dass man so lange in dem Beruf bleibt wie meine Mutter, gibt es heute nicht mehr oft. Um die Situation zu verbessern, bräuchten wir 100 000 Pflegekräfte mehr, und nicht 13 000, wie es Gesundheitsminister Jens Spahn verspricht: 50 000 für die stationäre Altenpflege und ambulante Pflege und 50 000 für die Krankenhäuser. Außerdem eine deutlich bessere Bezahlung vor allem in der Altenpflege, in der man nach wie vor schlechter verdient als in der Krankenpflege.

Das Gesundheitswesen ist heute kein Wesen mehr, sondern ein Markt. Einerseits gibt es die Unterversorgung, andererseits aber eine unnötige Überversorgung: Behandlungen finden statt, die gar nicht erforderlich wären, aber sie bringen eben Geld in die Kasse. Vor Einführung der DRGs war im Krankenhausfinanzierungsgesetz verankert, dass keine Gewinne gemacht werden dürfen. Das hat sich geändert, was eine Einladung war an private Krankenhausträger, die ihren Aktionären Gewinne versprechen und verschaffen. Seither geht es in den Krankenhäusern vorrangig um Wirtschaftlichkeit. Dabei ist heute ziemlich klar, dass die damals behauptete Kostenexplosion im Gesundheitswesen, die zu den Reformen führte, ein Märchen ist. Prozentual zum Bruttoinlandsprodukt haben wir immer ungefähr gleichviel ausgegeben für Gesundheit. Mich ärgert, dass man die Ökonomisierung vor die Menschlichkeit stellt."


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2 Kommentare verfügbar

  • Stefan Weidle
    am 05.12.2018
    Antworten
    Ich hoffe, dass diese Zustände noch mindestens 20 Jahre bestehen bleiben und sich in dieser Zeit nochmals dramatisch verschärfen. Dann kann ich mir sicher sein, dass der brave, christlich konservative Stammwähler, endlich in den vollen Genuss seiner Wahlentscheidungen kommt und nicht nur die…
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