"Ich bin in den 1970er Jahren in Deggingen, einem Dorf im oberen Filstal, groß geworden. Meine Mutter war damals dort als Gemeindeschwester in der ambulanten Pflege der katholischen Sozialstation tätig. Sie hat mich oft mitgenommen, vor allem abends, auf ihrer Spätrunde. Als Gemeindeschwester spielte sie eine wichtige Rolle in den Familien. Damals konnten sich die Kranken auf eine Rundum-Pflege verlassen. Meine Mutter übernahm auch hauswirtschaftliche Aufgaben, machte PatientInnen auch mal das Essen warm. Es ging bei der Betreuung nicht nur um alte, schwerkranke, bettlägerige Menschen. Sie war auch Ansprechpartnerin, wenn ein Kind geboren wurde. Es gab viel zu tun und die Touren waren oft lang, aber man musste nicht auf die Uhr gucken. Man hatte immer genügend Zeit, sich den Menschen zuzuwenden. Meine Mutter hat das lange gemacht und bei mir die Freude an diesem Beruf geweckt: Menschen in Extremsituationen ein Stück weit zu begleiten, sie zu versorgen, zu unterstützen und zu beraten, bis sie wieder gesund sind.
Es hat sich sehr viel verändert seitdem. Mit Einführung der Pflegeversicherung 1995 wurden Menschen eingruppiert in Stufen der Pflegebedürftigkeit. Es zählte der in Minuten gemessene Pflegebedarf. Seit 2017 ist der Grad der Selbstständigkeit entscheidend. Im Vordergrund steht, was die Betroffenen noch alleine tun können und wobei sie unterstützt werden müssen. Beim Erstbesuch des Pflegepersonals wählen Pflegebedürftige aber nach wie vor aus einem Leistungskatalog aus, wie viele Pflegeleistungen genau sie einkaufen wollen. Die PatientInnen sind zu Kunden geworden. Das hat dazu geführt, dass die Pflegenden Leistungen darüber hinaus nicht bezahlt bekommen. Mal ein Gespräch, mal dafür sorgen, dass mittags das Essen bereitsteht – das ist nun nicht mehr drin. Dazu ist der Zeitdruck in der ambulanten Pflege viel zu hoch.
Das Gesundheitswesen ist kein Wesen mehr, sondern ein Markt
2003 wurde der Druck noch einmal erhöht durch die Einführung der Fallpauschale: die Einordnung der PatientInnen in sogenannte DRGs, diagnosebezogene Fallgruppen. Jeder Krankheit wird ein fixer Preis zugeordnet. Wer mit möglichst geringen Personal-, Sach- und Organisationskosten die Kranken schnell abfertigt, macht Gewinn, und wer sich Zeit für sie nimmt, macht Verlust. Die Verweildauer der PatientInnen wurde verkürzt, viele Klinikbetten wurden abgebaut, Krankenhäuser geschlossen, es gab einen massiven Abbau des Pflegepersonals. Die Arbeitsverdichtung in den verbleibenden Häusern ist enorm.
Für den Pflegeberuf hat das fatale Folgen. Früher hat man versucht, Menschen möglichst gesund aus der Klinik zu entlassen, sie nach der OP so lange zu betreuen, bis sie zuhause wieder selbstständig leben können. Das findet heute oft nicht mehr statt. PatientInnen werden mitunter viel zu früh entlassen, um Kosten zu sparen. Ihr Heilungs- und Gesundungsprozess wird dadurch nur noch bedingt unterstützt.
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Stefan Weidle
am 05.12.2018