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Gefallene russische Soldaten

Sammlung des Todes

Gefallene russische Soldaten: Sammlung des Todes
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Russland veröffentlicht keine Zahlen, wie viele Soldaten im Krieg gegen die Ukraine sterben. Die aus Deutschland betriebene Seite "Oskar Maria" hat über 72.000 Namen gesammelt, von Menschen, die teils Kriegsgegner waren – und verheizt wurden.

Es hat ganz klein angefangen. Nach der Annexion der Krim 2014 begannen Günter Berger und ein Kollege zu recherchieren, was dort passiert, und bloggten darüber. Als Russland 2022 die Ukraine angriff, begannen die beiden zu dokumentieren, wie in Russland über den Krieg berichtet wird. Vor allem über dessen Opfer. "Wir hatten nicht damit gerechnet, dass das solche Dimensionen annimmt", sagt Berger am Telefon, gebürtiger Reutlinger, Zivi in Tübingen, später Geschäftsführer von Öko-Test und schließlich Herausgeber des "Worldwatch"-Magazins.

Mittlerweile lebt er in Frankfurt. Seine Recherchen haben sich auf die Gefallenen verlegt, die der russischen Seite, weil über die so wenig berichtet wird. Bergers Blog "Oskar Maria" ist zu einer Art Anthologie des Todes angewachsen: mit kleinen Steckbriefen, Fotos, Listen und Berichten. Pietätvoll, aber nie haltungslos, gewissenhaft und mit Quellen belegt, an manchen Stellen unerträglich, an anderen zu Tränen rührend.

In Russland werden keine offiziellen Zahlen zu toten Soldaten veröffentlicht. Wer sie dennoch herausfinden will, tut das über Open-Source-Recherchen oder leitet die Zahlen von offiziellen Sterblichkeitsdaten ab. Die weibliche Durchschnittssterblichkeit hilft bei Berechnungen der Übersterblichkeit junger Männer. Das russische Exil-Medium "Meduza" beispielsweise berichtet, dass sich die Sterberate junger Männer in Russland 2023 im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt habe. Die BBC schätzt die Gesamtzahl der Getöteten auf russischer Seite auf etwa 100.000 bis 200.000 Menschen, etwa 70.000 davon sind tatsächlich belegte Tode. "Oskar Maria" hat Anfang Oktober 72.737 Schicksale dokumentiert.

Der Name des Blogs sei "eine kleine Verbeugung vor dem beinahe vergessenen Schriftsteller Oskar Maria Graf", heißt es auf der Homepage. "In Zeiten der Bücherverbrennungen wurden seine Werke von den Nazis verschont, ja sogar teilweise empfohlen. 'Verbrennt mich!', schrieb er 1933 in der Wiener Arbeiterzeitung, 'nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbanden gelangen!'"

Keine Straßen, aber Werbung fürs Militär

Berger und sein Kollege wollen den Toten, die von offizieller Seite verschwiegen und versteckt werden, ein Gesicht geben. Sie sammeln Artikel in Lokalzeitungen, Todesanzeigen, Berichte über Beerdigungen, Meldungen auf dem russischen Facebook VK, Berichte über Gedenkfeiern in Schulen, Anzeigen, mit denen Verwandte ihre Angehörigen suchen. Sie rekonstruieren, soweit es möglich ist, die Lebensläufe der Männer und wenigen Frauen, die im Krieg gefallen sind. Sie recherchieren, wie sie zum Militär kamen, ob aus Gefängnissen rekrutiert oder aus Waisenhäusern, ob sie sich freiwillig gemeldet haben, vielleicht weil sie die mittlerweile bis zu 20.000 Euro Prämie lockte, oder oft auch, weil sie gezwungen wurden. Berger und Kollege vergleichen Videos und Fotomaterial, gehen Namen nach, die sie auf Gefallenen-Denkmälern finden, die neu errichtet oder deren Gedenktafeln vergrößert werden, um all die Toten einzuschreiben, die in Russlands Krieg gegen die Ukraine sterben. Zerfetzt, zerstückelt, zerschlagen. In Kamensk-Uralski, einer Stadt mit 160.000 Einwohner:innen und vielen metallverarbeitenden Betrieben, wurden am 30. August vier neue Tafeln am Soldatendenkmal der Stadt angebracht.

Zuerst gab es vor allem Todesmeldungen aus dem Berufsheer, erzählt Berger. Dann aus Großstädten, in denen Soldaten stationiert sind. Im Laufe der Zeit aus ganz Russland. "Immer wieder berichten wir über kleine Ethnien, die in den abgelegensten und unwirtlichsten Gegenden Russlands leben, fernab unserer Zivilisation, die gezielt für den russischen Angriffskrieg geworben werden", ist bei "Oskar Maria" zu lesen. "Die Unwissenheit dieser Menschen über das aktuelle politische Geschehen weit weg von ihrer eigenen Lebensrealität und die vielen ausgelobten Rubel verführen immer wieder Menschen aus diesen Regionen, in einem Krieg mitzumachen, der definitiv nicht ihrer ist." Tuwa, die "ärmste und sozial am stärksten vernachlässigte Region Russlands", verzeichnet laut Berger gemessen an der Bevölkerung die höchste Zahl an Toten.

"In diesen Gebieten leben Menschen, die eigentlich als Rentierzüchter arbeiten", sagt Berger. "Da gibt es keine Straßen, aber Werbung für den Militärdienst." Sie würden vielleicht rekrutiert, weil der Militärapparat meint, sie würden die Witterungsbedingungen an der Front besser ertragen als Leute aus der Stadt, mutmaßt Berger.

Aiwas Karamow wollte ein schickes Auto

Alexey Memlyragtyn etwa kam aus dem kleinen Dorf Ryrkaipij ganz im Nordosten Russlands. Er "besuchte dort eine örtliche Schule. Dann zog er nach Egwekinot, arbeitete im Iultinsky-Wohn- und Kommunalwesen", schreiben Berger und sein Kollege. "Er ging im Oktober 2023 als Freiwilliger an die Front." "Oskar-Maria" dokumentiert den Nachruf der dortigen Verwaltung des Zivilschutzes Egwekinot: "Er starb am 9. Juni 2024 bei der Ausführung von Aufgaben während einer speziellen Militäroperation auf dem Territorium der Volksrepubliken Lugansk und der Volksrepublik Donezk." Seine Frau und seine Kinder, heißt es, hätten zu Hause auf ihn gewartet.

Wichtig sei ihm, sagt Berger, "dass man mal den Blick auf die Menschen richtet. Dass so viele junge Leute auf beiden Seiten krepieren." Auf russischer auch der Armenier Dmitrij Anasowitsch Aleksanjan: "Er wäre ein mutiger und kluger Mann, ein fürsorglicher Sohn, ein liebevoller und guter Bruder, ein hilfsbereiter, treuer Freund gewesen, heißt es in seinem Nachruf. Denn Dmitrij meldete sich am 22. April 24 zum Kriegsdienst, am 7. Mai 24 war er tot."

Oder Vitaly Demakov, er stammt aus Tawda im Oblast Swerdlowsk. Im Januar 2023 schrieb "Oskar Maria": "Vitaly wurde zum Krieg einberufen, er umarmt seine zwei Kinder bevor er in den Bus steigt. Er wird sie nie wieder sehen, kurz nach Weihnachten ist er in seinem Heimatort begraben worden."

Oder: "Maxim Andrejewitsch Tschernow, geboren am 21. Juli 2006, hatte einen weiten Weg an die Front. Der junge Soldat kam aus der Kleinstadt Dolinsk auf der Insel Sachalin mit etwa 12.000 Einwohnern ganz im fernen Osten Russlands. (...) Sein Freund Artem Osadtschy, Rufzeichen 'Schlumpf', der beim Angriff ebenfalls dabei war, wurde verletzt, konnte sich aber wegrollen und berichtete später aus dem Krankenhaus heraus von dem Einsatz. Maxim blieb schwer verwundet auf einem Feld liegen und wurde von ukrainischen Soldaten geborgen. Ukrainische Quellen bestätigten später seinen Tod."

Oder Aiwas Karamow, am 18. April 2002 geboren, verheiratet und muslimischen Glaubens. "Sein Status auf VK zeigt wenig Affinität zu militärischen Dingen, sondern Aiwas war ein Autonarr, der gerne schnelle Schlitten gefahren hätte, aber sich nur einen etwas angegammelten Wagen leisten konnte. Ende Juli 2023 schrieb der Mann auf VK: 'Ich träume davon, bei Sonnenuntergang im Auto zu fahren, egal wo, einfach nur fahren, meine Lieblingsmusik hören und an nichts denken.' (...) Im  Juli 2024 war Aiwas dann mitten im Krieg, er galt für eine bestimmte Zeit als vermisst und wurde am 10. September 24 beigesetzt."

"Nicht für den Krieg geboren"

Berger geht es nicht nur darum, die Toten zu dokumentieren, sondern auch darum zu zeigen, wie das russische Militär mit seinen Soldaten umgeht. Inzwischen hätten russische Soldaten Schutzkleidung am Körper, sagt Berger. Allerdings nicht an Armen und Beinen. "Wer getroffen ist, verblutet einfach."

Gennadi Kiskorow wurde gefoltert, um seinen Willen zu brechen. "Die beiden Brüder Gennadi und Semjon Kiskorow wurden im Herbst 2022 in der Region Kemerowo mobilisiert. Sie gehören zur Ethnie der Schoren und lehnen den Kriegsdienst aus religiösen Gründen ab. Sie forderten, dass sie stattdessen zu einem Zivildienst abgestellt werden. Gennadi wurde von den Kommandanten ihrer Einheit gefoltert. Gennadi wurde an einen Baum gefesselt und musste so die Nacht überstehen. 'Eine weitere Nacht ertrage ich nicht. Sie haben mir angedroht – eine weitere Nacht gefesselt an einen Baum, als Sturmtruppler nach vorne geschickt zu werden oder Gefängnis wegen Missachtung eines Befehls', berichtete er seinem Bruder Semjon. Jetzt ist Semjon tot, über Gennadi liegen keine weiteren Informationen vor."

Raschid Ramasanowitsch Taisajew "stammte aus einer Nogai-Familie aus Karatschai-Tscherkessien und wurde im Herbst 2022 mobilisiert. Er wurde wohl nicht direkt an der Front eingesetzt, sondern in einer Unterstützungskompanie. Ein Bekannter bezeichnete ihn so: 'Wer diesen Jungen kennt, weiß, dass er nicht für den Krieg geboren wurde. Er war ein sehr gebildeter, wohlerzogener und respektvoller Mensch.' Raschid weigerte sich, einen Vertrag mit seiner Einheit zu unterschreiben, wurde deshalb in eine Sturm-V-Einheit versetzt und musste bei einem sogenannten 'Fleischangriff' mitmachen, bei dem er getötet wurde. Diese Selbstmordangriffe (...) sind eine bewährte Taktik des russischen Militärs. Entbehrliche Soldaten werden in Richtung der gegnerischen Linien geschickt und werden von den Verteidigern beschossen. So identifizieren die Angreifer die gegnerischen Stellungen und nehmen sie unter Artilleriebeschuss. Dass die meisten angreifenden Soldaten dabei sterben, ist dieser menschenverachtenden Strategie geschuldet." Posthum bekam der junge Mann per Dekret von Putin einen Orden verliehen, den Orden des Mutes für Hingabe, Mut und Tapferkeit bei der Ausübung seiner Amtspflicht.

Über Jahre hat "Oskar Maria" viele Zugriffe aus Russland verzeichnet, die Leserinnen und Leser konnten über Links auf die russischen Originalquellen lesen, wie viele Menschen in diesem sinnlosen Krieg ihr Leben lassen. Offenbar war das Interesse an diesen Informationen zu groß: Ende August 2024 erhielten Berger und sein Kollege eine Sperrverfügung der russischen Regulierungsbehörde. Ihre Website verstoße gegen die Rechte der Bürger auf Privatsphäre, Persönlichkeits- und das Familiengeheimnis. Seitdem ist "Oskar Maria" in Russland nicht mehr aufrufbar.

Auf der Website heißt es nun, die Reaktion zeige, dass "wir mit unseren Veröffentlichungen nicht ganz falsch liegen." Und dann zitieren sie Kurt Tucholsky: "Es wird von den Schrecknissen des Krieges gesprochen. Darauf sagt ein Diplomat vom Quai d'Orsay: 'Der Krieg? Ich kann das nicht so schrecklich finden! Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!'"

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3 Kommentare verfügbar

  • Bascha Stichling
    am 14.10.2024
    Antworten
    Danke Frau Hunger für diesen empathischen Bericht . Und danke an Herrn Berger und seine Kollegen. Krieg ist so sinnlos ! So sinnlos wie auch die Waffenlieferungen.
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