Gesundheitskrise, Pandemie, Kontaktverbot? Fremdwörter in Mexiko, wo die aktuelle Lage von vielen Menschen nicht als drastisch angesehen wird. In der Mega-Metropole Mexiko-Stadt etwa sind die Metro-Züge noch recht gut besucht. Das bedeutet: kollektives Kontaminations-Kuscheln. Menschen flanieren in den Parks. Bars, Discos, Kinos, Museen und Kirchen wurden am Montag in der Hauptstadt geschlossen. Nach und nach gehen weniger Menschen nach draußen. Landesweite Maßnahmen hingegen: Fehlanzeige. Vier Tote und 367 bestätigte Infizierte hat das Land nach Regierungsangaben zu beklagen (Stand 24.3.). Nicht auszumalen ist jedoch, was passieren würde, sollte sich das Coronavirus dort ausbreiten wie etwa in Italien oder Deutschland.
Ehrlichkeit und ein Amulett
Das wäre ein Desaster für Mexiko. Zwei Gründe spielen dabei eine zentrale Rolle: das unzureichende Gesundheitssystem sowie die Abhängigkeit der Menschen vom informellen Sektor. Mit Letzterem sind die fürs mexikanische Straßenbild typischen Verkäuferinnen und Verkäufer gemeint. Ob fetttriefende Tacos, Socken oder Kunsthandwerk: Alles wird verscherbelt, und zwar jeden Tag. Kleine Stände, manchmal nur eine notdürftige Decke auf dem Boden, Steuern werden nicht gezahlt. Wenn diese Menschen das nicht mehr tun dürfen, werden sie auch nicht essen können. Es wird geschätzt, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung im informellen Sektor arbeitet.
Das weiß auch Präsident Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO. Seine Strategie im Umgang mit dem Coronavirus: Er trägt stets ein Amulett mit sich herum, das ihm Schutz gewährt. Dieses zeigte er Journalistinnen und Journalisten in seiner täglichen Pressekonferenz vergangenen Mittwoch. Was das Volk beschütze, sei Ehrlichkeit, so AMLO. Zudem zeigte er grinsend einen Zwei-Dollar-Schein, den ihm ein Migrant schenkte – ein weiterer Talisman gegen Corona. Aber sein Land sei natürlich vorbereitet, man habe eine Strategie.
Tatiana Cruz ist sauer und voller Angst. Denn sie glaubt nicht, dass ihr Land auf eine Krise dieses Ausmaßes vorbereitet ist. "Die Regierung nimmt das nicht ernst. Es gibt kein Sicherheitsprotokoll, es wurden kaum Maßnahmen ergriffen", meint Cruz. Viele Freunde oder Bekannte nähmen die Lage aber ebenfalls nicht ernst. Sie regt sich auf, wenn sie im TV sieht, dass ihr Präsident bei einer Veranstaltung vergangene Woche im Bundesstaat Guerrero seine Anhänger umarmt und abknutscht. "Das sendet die falschen Signale an die Bevölkerung. Natürlich wird so eine Krise nicht ernst genommen, wenn es selbst dem Präsidenten egal scheint", wettert sie.
Cruz ist 30 Jahre alt, derzeit arbeitslos und hat keine Kranken- oder Sozialversicherung. Damit ist sie eine der 69 Millionen von 130 Millionen Mexikanerinnen und Mexikanern, denen es genauso geht. Sie ist bestürzt, dass es Menschen in ihrem Land gebe, die Corona für eine Erfindung oder eine Verschwörung hielten.
"Mexiko sollte sich Sorgen machen"
"Ich habe Angst, denn ich habe von Geburt an eine schwache Lunge", so die 30-Jährige. Cruz sieht einen großen Teil ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger in einer Risikogruppe: "Diabetes, Übergewicht, Herz oder Lunge: Mexiko sollte sich Sorgen machen, denn wir haben hier viele Menschen mit Vorerkrankungen." Cruz stammt ursprünglich aus dem südlichen Bundesstaat Oaxaca. Jetzt überlegt sie, in ihre Heimatregion zurückzukehren und so das Risiko einer Ansteckung zu minimieren. Immerhin leben 22 Millionen Menschen in Mexiko-Stadt – auf engstem Raum.
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