Claudia Fernández Fernández wischt über die graue Grabplatte, so, als könnte sie damit den Schmerz wegwischen. So, als könnte sie für einen kurzen Moment alles vergessen, was passiert ist. Über dem riesigen Friedhof El Retiro in Ecatepec liegt eine abgeklärte Ruhe. Die Mittagssonne drückt dort stärker als in den Häuserschluchten der Hauptstadt. Geredet wird wenig, nur die bunten Windrädchen flattern aufgeregt. Böse Geister sollen sie vertreiben. Fernández lehnt sich an die weißen Metallstäbe des kleinen Grab-Häuschens. Nach einer Weile sagt sie: „Ich habe keine Hoffnung, keine Träume mehr. Wer so etwas tut, tötet nicht nur ein Kind, er tötet damit auch uns, die Angehörigen.“ Ihre Tochter war 17, als sie auf offener Straße ausgezogen, vergewaltigt und verprügelt wurde. Fernanda starb noch auf dem Weg zum Krankenhaus. „Fer“, wie sie oft genannt wurde, war das jüngste von Claudias drei Kindern. Die Zeit heile keine Wunden, meint Fernández: „Ich lebe nur noch, weil ich es muss. Ich weiß nicht mehr, wie ich leben soll.“ Lautlos schießen ihr die Tränen aus den Augen, als sie anfängt, von der Nacht zu erzählen, in der es passiert ist.
Fernanda besucht ihren Vater in Mexiko-Stadt, Bezirk Gustavo A. Madero. Seit vielen Jahren leben ihre Eltern getrennt. Ein Nachbar, der im Viertel der Vaters wohnt, wird auf sie aufmerksam. Sie haben gemeinsame Bekannte. Mario Alberto Islas Campuzano, ihr späterer Mörder, schreibt sie auf Facebook an – davor haben sich die beiden noch nie gesehen. Eine Feier mit Freunden steht an, er lädt Fernanda ein. Ihre große Schwester Monse ist auch bei ihrem Vater an jenem Abend. „Sie sagte, dass sie kurz zum Laden um die Ecke gehe“, erzählt Monse und senkt den Blick Richtung Boden. Das sei die letzte Unterhaltung mit ihrer Schwester gewesen. Als sie nach einiger Zeit nicht zurückkehrt, macht Monse sich Sorgen, ruft Fernanda an. Sie verabschiedet sich von der Feier, Mario bietet noch an, sie nach draußen zu begleiten. Mutter Claudia erhält später den Anruf, ihre jüngste Tochter sei im Hospital La Villa. Als später die ganze Familie im Krankenhaus nach Fernanda fragt, weiß niemand Bescheid. Erst durch das Abgleichen der Kleidung kann sie identifiziert werden – denn ihr Körper wurde fast bis zur Unkenntlichkeit zugerichtet. „Wenn so etwas auch noch meiner anderen Tochter passieren würde - das würde ich vermutlich nicht aushalten. Ich würde sterben“, sagt die 46-jährige Mutte
Die Seele brennt, die Straßen auch
Der Frauenmord an Fernanda Cervantes Fernández ist nur einer von etwa zehn Fällen in Mexiko – täglich. Laut offiziellen Angaben werden jeden Tag zehn Frauen in dem lateinamerikanischen Staat ermordet. Einfach nur, weil sie Frauen sind. Seit 2012 sind Femizide im Código Penal (Strafgesetzbuch) zwar ein eigenständiges Delikt, die extrem korrupten und inkompetenten Behörden Mexikos erfassen aber viele Frauenmorde weiterhin als „homicidio doloso“ – also vorsätzliche Tötung ohne Gender-Aspekt. 3.825 Fälle wurden vergangenes Jahr so erfasst, 976 davon wurden als Femizid registriert. Wie viele Frauenmorde es also gibt, lässt sich nicht sicher sagen.
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