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Shantychor Marinekameradschaft Tsingtau

Roll the cotton down

Shantychor Marinekameradschaft Tsingtau: Roll the cotton down
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 Fotos: Jens Volle 

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Shantys und Gegenwartskunst: Diese unwahrscheinliche Kombination gibt es wohl nur in Esslingen. Die dortige Marinekameradschaft hat sich der Pflege des maritimen Liedguts verschrieben. Ihr Vorstand ist ein gestandener Gewerkschafter.

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"Marinekameradschaft Tsingtau" steht am Abgang zu einem Kellergewölbe der Esslinger Altstadt. Kein Verein von Kolonialrevisionisten, sondern ein Shanty-Chor. Ausgerechnet in Esslingen, 700 Kilometer weit weg vom Meer? Marinekameradschaften gibt es viele in der Republik. Einzigartig aber ist, dass der Chor am vergangenen Samstag mit jüngeren Künstler:innen gemeinsame Sache gemacht hat. Und dass der Vorstandsvorsitzende über Jahrzehnte hinweg ein auf seinem Gebiet führender Gewerkschafter war.

"Endlose Sehnsucht – endliche See", war der Abend im Tsingtau-Keller in der Landolinsgasse überschrieben. Seemannslieder wechselten mit Darbietungen junger und nicht mehr ganz so junger Künstlerinnen und Künstler. Am Vortag hat der Vereinsvorsitzende Dieter Benze, Jahrgang 1940, Kontext aus seinem bewegten Leben erzählt. Und erklärt, was es mit der Marinekameradschaft auf sich hat.

Auf die Frage, ob er ein Veteran sei, winkt Benze nur ab: "Man muss unterscheiden zwischen Kriegsmarine und Handelsmarine." Zehn Jahre lang ist er zur See gefahren, aber nicht als Soldat. Er stammt aus Rüsselsheim und hat zuerst eine Lehre bei Opel gemacht, nachdem die Familie, die sich bei Kriegsende in Thüringen befand, dorthin zurückgekehrt war.

"Im zweiten Lehrjahr wollte ich eigentlich schon das Handtuch hinschmeißen", bekennt Benze. Den Rest seines Lebens vormittags auf die Mittagspause warten, nachmittags auf den Feierabend und die ganze Woche aufs Wochenende: Das war seine Sache nicht. Nur die Werksberufsschule, wo er den späteren CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm kennenlernte, war gut. Er hielt durch bis zum Ende der Lehrzeit. Aber eigentlich wusste er schon: "Ich wollte zur See fahren."

Nach drei Monaten Ausbildung auf der Schiffsjungenschule Falkenstein in Hamburg-Blankenese stach er zum ersten Mal in See. Der Postdampfer umrundete Schottland auf der Nordseite und nahm Kurs auf die Großen Seen – und Benze war die ganze Zeit speiübel. Nach einer Woche hatte er seine Seekrankheit im Griff. Er fuhr nach Indonesien, Westafrika, aber auch durch die Ostsee nach Finnland, stieg in weiteren Ausbildungsschritten vom Leichtmatrosen zum Matrosen und schließlich zum Steuermann auf.

Flagge sticht Arbeitsrecht

"Das hat unwahrscheinlich Spaß gemacht", schwärmt er von der Zeit, als er für die Reederei Rickmers auf den Weltmeeren unterwegs war. Am Kap Hoorn an der Südspitze Südamerikas tauchte einmal ein Schwarm Delfine auf, "als ob das eine Zirkusvorstellung wäre – wunderschön". Unter dem unvergleichlichen Sternenzelt des Indischen Ozeans übte er sich im "Sterneschießen" – so nannten die Seeleute das Navigieren mit dem Sextanten.

Benze erwarb das Kapitänspatent als Klassenbester, hatte jedoch feststellen müssen, dass es um die Arbeitsbedingungen auf See nicht gut bestellt war. "Die Ausbeutung der Seeleute fand in ungeheurem Ausmaß statt", empört er sich. Das 1952 verabschiedete Betriebsverfassungsgesetz galt für sie nicht. Auf Rat Norbert Blüms schrieb er an die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), heute Verdi, und kam dann nach einer einjährigen Fortbildung an der Akademie der Arbeit in Frankfurt zum ÖTV-Vorstand nach Stuttgart, zuständig für die Seeschifffahrt.

Er hatte Erfolg. Im 1972 reformierten Betriebsverfassungsgesetz waren See-Betriebsräte vorgesehen, der gewerkschaftliche Organisierungsgrad nahm zu. Die Reeder begannen daher, unter anderen Flaggen zu fahren: Unter der Flagge Antiguas oder Liberias gelten die deutschen Bestimmungen zum Arbeitsrecht nicht. Zwar gelang es, über die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) in London mit Streiks und Boykotten einiges zu verbessern. Doch die Reeder sind gut organisiert – und arbeiten praktisch steuerfrei, wie Benze moniert: Die Tonnage-Steuer, die sie entrichten, betrage nur ein Prozent der in anderen Bereichen anfallenden Körperschaftssteuer. Gegen die Freiheit des grenzüberschreitenden Kapitals war die Gewerkschaft machtlos.

Dennoch blieb Benze bis zu seinem 71. Lebensjahr in der Gewerkschaft aktiv. Dann erst kam er zur Marinekameradschaft Tsingtau. Am liebsten mag er Shantys: Arbeitslieder wie "Roll the cotton down". Im Rhythmus des Gesangs zogen die Seemänner an den Tauen, um Segel zu setzen. Ein Großteil des Repertoires besteht aber aus Liebesliedern wie "Aloha Oe", ursprünglich geschrieben von der letzten hawaiianischen Herrscherin. In der deutschen Version lässt der Seemann eine indigene Schönheit am Strand zurück: endlose Sehnsucht.

Das Liedgut gehört zur historischen Überlieferung, und so nimmt es nicht Wunder, dass sich der Esslinger Stadtarchivar Joachim Halbekann dafür interessiert. Er hat die Unterlagen der Marinekameradschaft an sich genommen und trägt an dem Abend die Geschichte eines der bedeutendsten Seefahrer aus Esslingen vor: des Geologen Ferdinand Hochstetter, der 1857 an der österreichischen Novara-Expedition teilnahm und Neuseeland erkundete, wo er heute eine Berühmtheit ist.

Kunst in Flaschen, Leben in Flaschen

Neben der Musik der Marinekameradschaft gibt es künstlerische Einlagen. Nur ein Viertausendstel des Süßwassers der Erde fließt in den Flüssen, rechnet Matthias Gronemeyer in seiner "Philosophie der Flüsse" vor. Doch in 25 Millionen Jahren werden sie die Kontinente ins Meer gespült haben. "Es ist nicht die Zeit, die fließt, sondern das Fließen ist die Zeit", hält der Philosoph fest. Während Nana Hülsewig Wasser ins Publikum und in ihr Gesicht sprüht, zieht sie eine Bilanz von Evian, dem meistverkauften stillen Mineralwasser der Welt: 7.000 Paletten frisches Quellwasser werden täglich aus den französischen Alpen abtransportiert, ohne je das Licht des Tages gesehen zu haben.

Stefanie Oberhoffs "Gräfin" krächzt mit herrischer Stimme das Publikum an: Stegreif-Puppentheater vom Feinsten. Nur der Versuch, ein Buddelschiff in die Flasche zu bringen, glückt nicht ganz. Aber Armin Subke und Hans Pfrommer haben Flaschenpost mitgebracht: "handgemalte Aquarelle und handgedruckte Linolschnitte in mundgeleerten Flaschen", zu haben für 50 Euro, um ein armes Künstlerduo zu unterstützen. Stephan Köperl liest eine aus China mitgebrachte Erzählung auf Chinesisch, Sylvia Winkler übersetzt.

Gleich zu Beginn haben die jüngsten Beteiligten, die Figurenspielerin Adeline Rüss und Anniek Vetter vom Schauspiel Stuttgart, mit blau geschuppten Kopfbedeckungen die Zuschauer:innen in eine imaginierte Unterwasserwelt eingeladen. Nach Ende des offiziellen Programms stehen sie zwischen den überwiegend älteren Herren der Marinekameradschaft, dürfen sich Seemannslieder wünschen und singen amüsiert und beschwingt mit.

Doch warum nennt sich der Chor nun "Marinekameradschaft Tsingtau"? Die Esslinger Kameradschaft gründete sich 1911. Damals hatte das Deutsche Reich Großmachtallüren und rekrutierte Marinesoldaten aus dem ganzen Land. Gerade die, die fern vom Meer lebten, schlossen sich zu solchen Vereinen zusammen.

Aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und danach hat Benze in den Vereinsunterlagen außer Bleistifteinträgen zu Todesfällen nur wenig gefunden. Erst die Nationalsozialisten wollten wieder die Weltmeere beherrschen. Der Marinebund wurde allerdings gleichgeschaltet und die in ihm zusammengeschlossenen Marinekameradschaften nach dem Zweiten Weltkrieg verboten. Erst 1957 gründete sich die "Marinekameradschaft Esslingen" neu, kehrte dann jedoch zu ihrem Traditionsnamen zurück.

Der Freundschaftsbaum lebt wieder

Tsingtau, heutige Transkription Qingdao, war der deutsche Stützpunkt in China, gepachtet unter erheblichem Druck vom chinesischen Kaiserreich und dem Reichsmarineamt unterstellt. Die Deutschen brauchten Kohle für ihre Dampfschiffe, erklärt Benze, sie wollten nicht bei den Engländern betteln gehen: "Aber natürlich war das purer Imperialismus." Die Deutschen wollten Hongkong Konkurrenz machen. Doch gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs mussten sie vor der japanischen Übermacht kapitulieren.

100 Jahre später organisierte der Arzt Georg Müller aus Wetzlar, Enkel eines in Tsingtau stationierten Marinesoldaten und engagiert in der Hilfsorganisation Humedica, eine Reise ins heutige Qingdao. Er hätte am liebsten die Bigband der Bundeswehr mitgenommen, doch dann kam er auf die Esslinger Marinekameradschaft, die auf diese Weise die Stadt besuchte, die ihr den Namen gab. Benze schwärmt von den Jugendstilgebäuden der heutigen Achtmillionenstadt. Mit ihren Gastgeber:innen pflanzten sie zwei Bäume: einen für Frieden, einen für Freundschaft.

Als Benze vor Kurzem erfuhr, dass der Baum, der für Freundschaft stand, eingegangen ist und dann eine Delegation aus Qingdao 2024 in Stuttgart weilte, um Kontakte zur hiesigen Wirtschaft zu knüpfen, nutze er die Gelegenheit, den Bürgermeister Zhao Haozhi auf den Baum anzusprechen. Inzwischen wurde ein neuer gepflanzt: kein dünner Setzling, sondern so groß wie der überlebende Friedens-Baum.

Die Marinekameradschaft Tsingtau blickt keinesfalls nur in die Vergangenheit zurück. Sie hat neue, begeisterte Mitglieder gewonnen, darunter auch eine Frau, die Architektin und CDU-Regionalrätin Karin Pflüger. Und der Chor engagiert sich mit einem Programm zum "Kippen der Weltmeere" gegen den Plastikmüll in den Ozeanen.

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