Das Grauen im Gäu
Nur drei Monate existierte das KZ Hailfingen-Tailfingen. Gelegen "auf einer nebelfreien Hochfläche" zwischen Herrenberg und Rottenburg, errichteten die Nationalsozialisten 1938 einen Nachtjägerflugplatz, 1944 wurde der Ausbau befohlen – die Kriegsniederlage war damals bereits absehbar, der Luftkrieg praktisch aussichtslos. Erweitert wurde dennoch. Im November kamen 600 Juden aus Auschwitz in Hailfingen-Tailfingen an. Der Komplex wurde zu einem Außenlager der Konzentrationslagers Natzweiler im Elsass. Von den insgesamt etwa 2.000 Gefangenen – unter ihnen auch 80 bis 100 sowjetische Kriegsgefangene sowie knapp 300 indische Soldaten der British Army – starben nachweislich 189 in Gefangenschaft. Die meisten von ihnen Juden aus West-, Mittel-, und Südosteuropa.
Der Häftling Ioannis Goutas beschreibt die Zustände im KZ in seinem Tagebuch als verbrecherisch menschenunwürdig: "Man hat uns in die Hölle gebracht." Seine Tagebücher aus der Haftzeit veröffentlichte er im Rentenalter als Buch. Und auch bei Chandrinos und dem neuen Buch der Gedenkstätte sind seine Einträge zu finden.
Goutas machte sich nach Kriegsende als Rechtsanwalt einen Namen. Zuvor führte ihn sein Weg von Hailfingen-Tailfingen durch 14 verschiedene Lager, quer über den europäischen Kontinent. Von Deutschland über Frankreich und Italien, schließlich kam er über Neapel zurück nach Athen.
"Zurückkatapultiert in die Steinzeit"
Verstörend sind Goutas' Eindrücke aus Hailfingen-Tailfingen, als er im September 1944 ins Lager kam: "Jetzt endlich ist unser Problem gelöst. Man musste durch ganz Deutschland fahren, um den perfekten Ort zum Sterben zu finden. Man brachte uns in eine der perfektesten Unternehmungen der Zivilisation des Dritten Reiches, in ein supermodernes Zwangsarbeitslager. […] Wir sind zurückkatapultiert in die Steinzeit. In jeder Hinsicht miserable Zustände. […] 382 Personen hat man in diese Flugzeughalle eingepfercht wie Sardinen. Der Platz darin war ohne jede Einrichtung, ohne Möbel, kein Wasser, keine Toiletten, keine Betten, keine Matratzen, keine Heizung, gar nichts."
Wie Schlachtvieh seien die Häftlinge behandelt worden: "Auf dem Boden war lediglich ein wenig Stroh, und darauf schliefen wir wie eine Horde von Tieren mit lediglich einer Decke, die fast immer durchnässt war. […] In dieses Lager wirst du gebracht, damit du stirbst. Du stirbst aber erst, nachdem du dich durch die Arbeit völlig verausgabt hast. Alle Tyrannen hier sind hart und unmenschlich, spezialisiert, um zu quälen. Man quält uns."
Die Nazis brachen die Bauarbeiten am Flugplatz im Februar 1945 ab, französische Truppen erreichten das Lager noch im selben Monat. Die verbliebenden Häftlinge kamen nach der Räumung in umliegende Arbeitslager, die gehfähigen schickte man auf sogenannte Todesmärsche. Zahllose starben in den Wochen nach Auflösung der Hailfinger Hölle.
Die Toten des Lagers kamen anfangs nach Reutlingen und Esslingen ins Krematorium. Später sparte man sich den Leichentransport und verscharrte die Toten in Massengräbern vor Ort. Französische Truppen endeckten die unwürdigen Ruhestätten im Juni 1945 und zwangen Anwohner der Gemeinden, die vielen Toten zu exhumieren. 75 bettete man auf den Tailfinger Friedhof um. Für sie errichteten die Franzosen ein Holzkreuz. Mittlerweile gibt es hier eine Gedenktafel, außerdem ein Dokumentationszentrum – doch bis dahin war es ein langer und beschwerlicher Weg.
Lückenloses Erinnern
1979, mit 39 Jahren, kam Volker Mall nach Herrenberg. Von der Pädagogischen Hochschule in Esslingen, an der er damals lehrte, wurde er als Linker, wie er sagt, strafversetzt – in die Provinz, weit hinter seine Stuttgarter Heimat. 1981 kam er das erste Mal mit dem KZ im Herrenberger Umland in Berührung. Hermann Wolf, der damalige Bürgermeister von Gäufelden, zu dem die Gemeinde Tailfingen gehört, veranstaltete seinerseits eine Ausstellung zum Nachtjägerflugplatz. Mall ging hin. Vier Jahrzehnte später erinnert er sich:
"Er hatte sich damals Dokumente aus dem Staatsarchiv in Ludwigsburg besorgt, die waren ausgestellt. Soweit alles in Ordnung." Mit der Ausstellung wollte man die Bürger:innen über die lokale Vergangenheit aufklären. Ein guter Plan, doch die Umsetzung sei scheinheilig und dogmatisch geblieben, erinnert sich Alt-Achtundsechziger Mall: Gezeigt wurden amerikanische Luftaufnahmen des Geländes. Der damals 41-jährige Mall störte sich am verunglimpfenden Unterton, in dem die Ausstellungsstücke beschrieben waren: "Nie wurde der Lagerkomplex als KZ bezeichnet, nie die grausige Vergangenheit des Ortes erwähnt." Der Leitsatz der Veranstaltung: "Es habe ja viele Lager dieser Art gegeben, aber ein KZ war das nicht."
2 Kommentare verfügbar
Philipp Horn
am 10.08.2022Vielen Dank für die geleistete Arbeit , trotz aller Wiederstände.