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Skandal um vergessene Lehrerstellen

Ausmisten statt Sprüche klopfen

Skandal um vergessene Lehrerstellen: Ausmisten statt Sprüche klopfen
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Wegen einer IT-Panne blieben in Baden-Württemberg 1.440 vorhandene Lehrkräftestellen unbesetzt. Ausgerechnet das Kultusministerium verbarrikadiert sich, die FDP fordert einen Untersuchungsausschuss. Es zeigt sich, dass die Landesregierung sich mit ihrer Digitalisierungsstrategie übernommen hat.

Allein die FDP ist auf der vergleichsweise sicheren Seite: Sie hat zwar mitregiert in Baden-Württemberg zwischen 1996 und 2011, aber nie das Kultusministerium geführt. Und so ist es kein Wunder, dass Landes- und Landtagsfraktionschef Hans-Ulrich Rülke mit einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss droht, um aufzudecken, wie es dazu kommen konnte, dass mutmaßlich über Jahre immer mehr Lehrkräftestellen unbesetzt blieben, obwohl sie finanziert waren. 

Die gegenwärtige Debatte dreht sich um 1,5 Prozent des Personalbestands an Lehrkräften, 1.440 Stellen, so ist jedenfalls der aktuelle Stand. Mitte Juli wurde bekannt, dass die Stellen zwar finanziert, wegen einer IT-Panne aber als besetzt verbucht wurden, obwohl sie gar nicht besetzt waren. Bei 4.500 Schulen im ganzen Land hätte rein rechnerisch also jede dritte Schule im Südwesten genau eine Lehrkraft mehr gehabt.

Insgesamt aber geht es um deutlich Grundsätzlicheres, weil der über viele Jahre unentdeckt gebliebene Software-Fehler – Stand heute vermutlich seit 2005 – noch ganz andere Mängel offenbart: Es hakt bei der Zusammenarbeit der unterschiedlichen Verwaltungsebenen, im Landesamt für Besoldung, nicht zuletzt im Haushaltscontrolling. In den ersten Tagen, nachdem die Panne bekannt geworden war, war nicht einmal klar, wo eigentlich das Geld ist, mit dem die Lehrkräfte hätten bezahlt werden müssen, aber nicht bezahlt worden sind, weil sie gar nicht eingesetzt waren. Inzwischen ist immerhin klar, was mit den zusätzlichen Lehrkräften, wenn sie denn mal besetzt sind, passieren soll: Der größte Teil soll an die dramatisch unterbesetzten früheren Förderschulen gehen, die heute Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) heißen.

Immer wieder Digitalisierungsversprechen

Seit Jahren wälzen alle Parteien viele gute Vorsätze und Ideen, Baden-Württemberg mehr oder weniger rundum zu digitalisieren, zum Nutzen von Bürgerschaft und Unternehmen. Im Koalitionsvertrag der ersten der letzten drei grüngeführten Landesregierungen, 2011 mit der SPD geschlossen, spielt das Thema noch keine große Rolle. Der zweite Vertrag 2016 mit der CDU strotzt dagegen vor einschlägigen Versprechen: "Im Zeitalter der Digitalisierung werden wir eine moderne Verwaltung 4.0 einrichten, in der Mitarbeiter und Bürger gleichermaßen von den Möglichkeiten der Digitalisierung profitieren." Oder: "Für das Innovationsland Baden-Württemberg ist es von zentraler Bedeutung, die Chance der Digitalisierung zu nutzen. Alle Branchen sollen von der Digitalisierung profitieren." Oder: "Wir werden die Potenziale der Digitalisierung dazu nutzen, die ökologische Modernisierung der Wirtschaft voranzutreiben."

180-Mal kam der Begriff "digital" auf den 140 Seiten der grün-schwarzen Koalitionsvereinbarung von 2016 vor. Digitalisierung wurde ausdrücklich in den Namen des Innenministeriums aufgenommen, das seitdem "Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen" heißt. Die Zahl der unbesetzten Lehrkräftestellen dürfte zu diesen Zeitpunkt nach den aktuellen Schätzungen schon auf etwa 770 angewachsen gewesen sein. Der damals neue Innenminister Thomas Strobl (CDU) versprach, dass Baden-Württemberg zur  "digitalen Leitregion in Europa" werde, weil "nirgendwo so viel Innovationskraft steckt". Nicht einmal in der Erarbeitungsphase der 2017 präsentierten ersten Digitalisierungsstrategie des Landes kamen die Verantwortlichen auf die Idee, alle bisherige Prozesse auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Und 2022, als die Fortschreibung vorgelegt wurde, erst recht nicht.

Hinweise des Rechnungshofs bewirkten nichts

Dem Landesrechnungshof schwante mehrfach, dass mit Blick auf die komplizierte Verwaltung der Lehrkräftestellen irgendwas nicht stimmen kann. Rund um die Bruchlandung, die 2018 die landesweite Bildungsplattform "ella" hinlegte (Kontext berichtete), wurde auf Antrag der FDP vom Landtag eine umfangreiche Mitteilung auch zur Software "Allgemeine Schulverwaltung" (ASVBW) in Auftrag gegeben. Die Karlsruher Behörde formulierte 2019 verschiedene Empfehlungen, die die Komplexität belegen. Konkret auf die Spur der fehlenden Stellen kam jedenfalls niemand. Wie schon ihre Amtvorgänger:innen, nahm auch die damalige Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) die Hinweise des Rechnungshofs nicht zum Anlass einer grundsätzlichen Analyse der damals schon fast 15 Jahre eingesetzten Software. Noch ein Hinweis dafür, wie Digitalisierung sicher nicht gelingt.

Heute arbeiten auf 95.000 Stellen rund 130.000 Lehrkräfte in unterschiedlichsten Konstellationen: Teilzeit, Vollzeit, mit angerechneten Stunden für besondere Aufgaben, und in ihren jeweiligen Lebenssituation, krank, schwanger, in Elternzeit oder Pflegekarenz. Würde die Großaufgabe gelingen, dies alles digital zu erfassen und zu verwalten, wären viele andere Digitalisierungsschritte eine sehr viel leichtere Übung.

Weil in der vergangenen Woche ohnehin die Vorlage der alljährlichen Denkschrift des Rechnungshofs anstand, hat sich dessen Präsidentin Cornelia Ruppert noch einmal der Personalverwaltung im Schulbereich angenommen. Mit der Erklärung, eine Computerpanne habe zur Nicht-Besetzung geführt, will sich die oberste Rechnungsprüferin jedenfalls nicht abfinden. Sie kritisiert die fehlende Relation zwischen dem Personalbestand und den Personalkosten. Auch als Verwaltung müsse man aber "wie in einer Bilanz wissen, was rechts und was links in den Büchern steht".

Das Finanzministerium wiederum kontert damit, dass in großen Teilen der Verwaltung stellenscharf besetzt wird, nicht aber bei den personalintensiven Ressorts Polizei, Hochschule und Schule. In diesen Fällen seien die tatsächlichen Personalausgaben des jeweils letzten Jahres die Grundlage für das Budget des jeweils nächsten. Das Beispiel zeigt: Gerade hier, wo Kontrolle also besonders wichtig ist, wird der Aufwand nicht betrieben – die Katze beißt sich in den Schwanz. Dabei wäre – ganz offensichtlich – Ausmisten dringend geboten.

Albrecht Schütte, praktischerweise Bildungs-, Finanz- und Digitalisierungsexperte in der CDU-Landtagsfraktion, ruft nach einem Neuanfang im Controlling und versucht es mit Logik: Weil die 1.440 Lehrkräfte nicht bezahlt worden seien, müsse irgendeines der vorhandenen IT-Systeme wissen, "dass sie nicht da waren, wo sie hätten sein sollen". Diesem Fehler sei auf den Grund zu gehen, ebenso dem Umstand, "dass wir eine IT-Landschaft haben, die ein wenig divers ist und gerade nicht reibungslos und effizient".

Kultusministerium: Erstmal Arbeitskreis gründen

Wie dem Fehler nun konkret auf dem Grund gegangen werden soll, nährt bislang allerdings höchstens verhaltene Hoffnung. Kurz nach Bekanntwerden der IT-Panne zeigte sich Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) zwar gegenüber dem SWR "schockiert und wirklich erschrocken" und kündigte eine schnelle Aufarbeitung an. Doch mittlerweile entsteht eher der Eindruck, das hauptbetroffene Ministerium verbarrikadiere sich. Von Schoppers Haus eingesetzt ist jetzt erst einmal eine Arbeitsgruppe, vertreten sind darin laut der Ministerin alle Behörden, die mit den Stellenbesetzungen zu tun haben. Und die darf sich bis Weihnachten Zeit lassen, um Ergebnisse zu erarbeiten.

Nicht nur die alte Weisheit "Wenn du nicht mehr weiter weißt, dann gründe einen Arbeitskreis" feiert damit wenig fröhliche Urständ'. Es soll auch Spitzenbeamte im Ministerium geben, die Zeit schinden, auf das Ende der Legislaturperiode schielen und Angst haben, sie könnten zum falschen Zeitpunkt das Falsche sagen und damit erst recht die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses auslösen. FDP-Landes- und Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke will von dieser Idee aber so oder so nicht lassen. 

"Da kein Aufklärungswille bei der Regierung erkennbar ist, scheint nur noch ein Untersuchungsausschuss zu helfen", sagt der Liberale auf Kontext-Anfrage. Die kurze Zeit bis zur nächsten Landtagswahl im März 2026 dürfe kein Alibi für Untätigkeit sein, denn "beim Schlossgarten-Untersuchungsausschuss war noch weniger Zeit". Rülke bezieht sich auf den Untersuchungsausschuss, der 2010 nach dem Schwarzen Donnerstag im Stuttgarter Schlossgarten eingerichtet wurde. Nur knapp sechs Monate waren es damals von dem aus dem Ruder gelaufenen Polizeieinsatz am 30. September 2010 bis zur nächsten Landtagswahl. Bereits am 28. Oktober konstituierte sich der Ausschuss und trat bis Ende Januar 2011 dreizehnmal zusammen – das reichte schon, um erschreckende Ergebnisse zu Hergang und Verantwortung zutage zu fördern.

Wenn sie selbst mehr Engagement als bisher an den Tag legen würden, könnten Grüne und CDU Rülkes Plan durchkreuzen. "Gemeinsam erfinden wir uns täglich neu", heißt es auf dem stylischen Landesportal digital.LÄND. Und: "Alle sollen etwas von der Digitalisierung haben." Jetzt wäre keine schlechte Gelegenheit, das Klopfen solcher Sprüche einzustellen, die Sonntagsreden von der anspruchsvollen Fehlerkultur mit Leben zu füllen und aufzuarbeiten, was schiefläuft. Damit aus den Pannen nicht doch noch ein Skandal wird.  

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1 Kommentar verfügbar

  • Andrea K.
    vor 1 Tag
    Antworten
    Es wäre gut, würde man aus dieser Panne eine Lektion für die Digitalisierungsanbeter ableiten: Nicht alles, was eine Software ausspuckt, ist richtig oder gut. Es ist der Mensch, der die Kontrolle behalten muss. Und wenn er die Struktur nicht mehr überblicken kann, dann muss diese geändert werden.…
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