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Radschnellwege

Eile mit Weile

Radschnellwege: Eile mit Weile
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Berufspendler:innen sollen im Autoland Baden-Württemberg künftig auch auf Radschnellwegen klimafreundlich zur Arbeit kommen. Vom 350 Kilometer langen Streckennetz ist bislang aber nur ein Bruchteil fertig. Das liegt weniger am politischen Willen, sondern mehr an den komplexen Planungen.

Alle sind ausnahmslos begeistert. "Zeitgemäß, klimafreundlich, für alle nutzbar", "wichtiger Beitrag", "hervorragendes Beispiel", loben drei Oberbürgermeister, zwei Landräte, eine Regierungspräsidentin und der Landesverkehrsminister unisono den neuen Radschnellweg (RS), der die Städte Ludwigsburg, Remseck am Neckar und Waiblingen verbindet. Einziger Schönheitsfehler: Der derart gepriesene "RS 8" existiert bislang nur auf dem Papier – die Lobeshymnen nehmen vorweg, was noch einige Jahre auf sich warten lässt. Und das, obwohl die ersten Ideen für einen durchgängigen Radweg nordöstlich von Stuttgart bis ins Jahr 2017 zurückreichen.

Wie kann es sein, dass per Rad Pendelnde fast acht Jahre später im Stuttgarter Speckgürtel immer noch vielbefahrene Straßen mit Autos teilen und dabei ihr Leben riskieren müssen? Kein Trost ist es, dass vergleichbare "Unwegbarkeiten" in ganz Baden-Württemberg gang und gäbe sind. Schlafen Ämter und Rathäuser in Sachen Verkehrswende, insbesondere wenn es um klima- und ressourcenschonenden Radverkehr geht?

"Für einen Radschnellweg braucht es ähnliche Planungs- und Genehmigungsverfahren wie beim Straßenbau", dämpft Matthias Zimmermann vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) die Erwartungen. So muss die Trasse eines neuen Velo-Schnellweges mit Möglichkeiten für Gegenverkehr und Überholen mindestens vier Meter Breite messen, bei nennenswertem Fußverkehrsaufkommen zusätzlich noch zwei Meter Gehweg – vergleichbar mit dem Bau einer schmalen Landstraße. Dafür werden Grundstücke benötig und meist Flächen versiegelt. In beiden Fällen gibt es gesetzliche Hürden sowie Vorgaben. "Diese müssen im Rahmen des Planungsprozesses bewertet und abgewogen werden, so dass am Ende Baurecht besteht", führt der ADFC-Landesvorsitzende aus, der als Abteilungsleiter für Straßenentwurf und -betrieb am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) bestens weiß, wie es läuft.

Über Trassenverläufe müssen sich nicht nur Kommunen und Landkreise einig sein, auch direkt betroffene Landwirte und Gewerbetreibende gilt es mit ins Boot zu holen. Nicht zuletzt müssen Umwelt- und Interessenverbände angehört werden. "Diese komplexen Abstimmungen brauchen ihre Zeit. In der Öffentlichkeit herrscht aber oft die Erwartung, dass es für eine gegenüber großen Straßenprojekten viel kleinere Baumaßnahme doch viel schneller gehen müsste – was der ADFC natürlich auch begrüßen würde", betont Zimmermann.

Gerade Wege führen zum Ziel

Da ein Radschnellweg für Alltagspendler:innen attraktiv sein soll, muss er möglichst direkt, schnell und sicher ans Ziel führen. Während sich alte Radwege oft durch die Landschaft geschlängelt hätten, sei das bei der Trassenplanung "daher keine echte Option" mehr, erklärt der ADFC-Landesvorsitzende. Nur der Ausbau geradliniger bestehender Wege, der Umbau bestehender Straßen und punktuelle Neubauten führen daher zum Ziel. Ebenso sollten möglichst wenige Zwangspunkte Radfahrende ausbremsen, beispielsweise verkehrsreiche Straßen, die überquert werden müssen. Im Idealfall verlaufen Schnellwege deshalb kreuzungsfrei, was manchmal nur mit dem aufwendigen Bau einer Brücke umsetzbar ist. "In der Regel sind neue Schnellwege nur auf kurzen Teilstücken auf bestehenden Wegen oder bei leicht verfügbaren Grundstücken schnell umsetzbar", sagt Zimmermann. Ansonsten dauere das Prozedere so lange wie bei einer Straße für Autos.

Dies zeigt sich beispielhaft am Radschnellweg RS 8, der ein Gemeinschaftsprojekt von zwei Landkreisen und drei Kommunen ist. Die Baulast – und somit die Zuständigkeit für Planung, Bau und künftige Unterhaltung – liegt beim Landkreis Ludwigsburg und dem Rems-Murr-Kreis sowie bei den Städten Ludwigsburg und Waiblingen. Als im Jahr 2017 die Idee für eine durchgängige Radverkehrsverbindung zwischen den beiden Städten aufkam, gab es allerdings noch keine Richtlinien zur Dimensionierung von Radschnellwegen. So wurde zunächst eine Trasse ermittelt, die heute geltenden Standards nicht mehr entspricht.

Erst im Zuge einer 2019 abgeschlossenen Machbarkeitsstudie wurden mögliche Trassenverläufe untersucht, die den damals neu formulierten Qualitätsstandards einer Radschnellverbindung entsprechen. Der Planungsstart für die beteiligten Kommunen erfolgte mit Zusage der Bundesförderung unter Federführung des Rems-Murr-Kreises im Jahr 2020. Zunächst warteten die Projektpartner die Ergebnisse der Öffentlichkeitsbeteiligung im Jahr 2023 ab, bevor sie in die konkreten Planungen einstiegen. Während der Bürgerbeteiligung gingen rund 500 Verbesserungsvorschläge für die ganze Trasse ein. Derzeit befindet sich das Projekt in der Vorplanung, das heißt in Abstimmungen zur Festlegung der späteren Trasse.

Radwege "im Wortsinne erfahrbar" machen

Die grün-schwarze Landesregierung hat im Koalitionsvertrag vereinbart, mindestens 20 Radschnellverbindungen bis zum Jahr 2030 zu realisieren. Aufbauend auf Machbarkeitsstudien für 63 Strecken sind inzwischen 23 Projekte mit einem Umfang von rund 350 Kilometern in konkreter Planung. Elf dieser Projekte plant das Land, weitere sechs Projekte bearbeiten Land und Kommunen gemeinsam, sechs Projekte treiben Kommunen in Eigenverantwortung voran.

Bike Highway zur IBA'27

Aufgeständerte Radwege aus modularen Holzbauteilen made in Switzerland: Mit den hölzernen Bike Highways lassen sich Straßen und Schienen relativ einfach überqueren – was den baden-württembergischen Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) während einer Delegationsreise in die Schweiz im Jahr 2023 begeisterte. "Im Rahmen der Vorplanung von ausgewählten Radschnellverbindungsprojekten im Land wird der Einsatz von Radwegen in dieser Bauweise derzeit auf Anwendbarkeit und Eignung untersucht", teilt Hermanns Ministerium auf Kontext-Anfrage mit. Man sei bestrebt, über Pilotprojekte Erfahrungen und Erkenntnisse zu dieser Bauweise und ihres möglichen Einsatzes zu gewinnen. "Ziel ist es, bis zur IBA 2027 ein Pilotprojekt in der Region Stuttgart verwirklicht zu haben."  (jl)

"Um trotz komplexer Planungsvorläufe zügig in der Umsetzung voranzukommen und so Radschnellwege möglichst früh im Wortsinne erfahrbar zu machen, ist die abschnittsweise Umsetzung inzwischen eine bewährte und erfolgreiche Praxis in Baden-Württemberg", heißt es aus dem Landesverkehrsministerium. Die bereits fertiggestellten Abschnitte einzelner Radschnellwege summieren sich auf 19 Kilometer. Weitere Teilstrecken mit einer Gesamtlänge von rund 15 Kilometern befinden sich gerade im Bau oder sind kurz davor (siehe Kasten).

Für Planung und Bau von kommunalen und landeseigenen Radschnellwegprojekten wurden bislang rund 18 Millionen Euro ausgegeben, davon 11 Millionen Finanzhilfe vom Bund. Weitere rund 6 Millionen Euro stammen aus dem Landeshaushalt. Rund eine Million Euro haben die Kommunen als Eigenanteil beigesteuert. Für den Bau der noch in Planung befindlichen Abschnitte der Radschnellverbindungen werden mehr als 400 Millionen Euro benötigt – verteilt auf mehrere Jahre.

Geld, das offenbar gut investiert ist, wie sich am Teilstück des RS 1 zwischen Stuttgart Rohr und Böblingen/Sindelfingen zeigt. Mit acht Kilometern Länge ist es der bislang längste zusammenhängend fertiggestellte Abschnitt eines Radschnellwegs im Südwesten. "Mit mehr als 1,3 Millionen Radfahrenden seit seiner Inbetriebnahme 2019 zeigt dieser Abschnitt, was möglich ist, wenn die Radinfrastruktur sicher, direkt geführt und attraktiv ist", freut sich Winfried Hermann. Wenn noch mehr zusammenhängende Abschnitte fertiggestellt sind, werde sich diese positive Wirkung weiter entfalten, erwartet der grüne Landesverkehrsminister.

Stand Radschnellwege in der Metropolregion Stuttgart

Bereits fertig:
Radschnellweg (RS) 1, Stuttgart–Herrenberg: zwischen Stuttgart-Rohr und Böblingen sowie zwischen Böblingen und Ehningen.
RS 4, Stuttgart–Ebersbach: Demostück zwischen Reichenbach und Ebersbach, ein weiteres soll 2025 in Betrieb gehen.
RS 11, Tübingen–Rottenburg: auf dem Abschnitt parallel zur B 28.
RS 15, Mannheim–Weinheim: Teilstrecken innerhalb der Stadt Mannheim.

In Planung:
RS Backnang–Waiblingen: Die Machbarkeitsstudie ist abgeschlossen. Die Ergebnisse werden im März im Umwelt- und Verkehrsausschuss des Rems-Murr-Kreises vorgestellt.
RS 3, Bad Wimpfen–Heilbronn: Die Radschnellverbindung besteht aus zwei Abschnitten. Im ersten Abschnitt von Heilbronn nach Bad Wimpfen wird gerade ein Demoabschnitt gebaut. Die restliche Strecke ist in der Entwurfsplanung (Ausplanung der Trassenführung). Der zweite Abschnitt durch Heilbronn entlang des Neckars befindet sich in der Vorplanung (Trassenfestlegung).
RS 5, Schorndorf–Fellbach: Der RS 5 soll ans Radwegenetz der Landeshauptstadt anschließen. Derzeit laufen die Planungen und Naturschutzuntersuchungen für den ersten Bauabschnitt zwischen Fellbach und Weinstadt. 2026 ist der Spatenstich geplant.
RS 8, Ludwigsburg–Waiblingen: derzeit Naturschutzuntersuchungen. Die Ausführungsplanung für Abschnitt Remseck–Hegnach wird noch ca. neun Monate beanspruchen. 2026 soll der Startschuss für den Bau des ersten größeren Abschnitts (ca. zwei Kilometer) fallen. Für den Restabschnitt (Remseck Stadtbahnhalt bis Ludwigsburg-Oßweil) muss der Rems-Murr-Kreis erst noch Grund erwerben, der Baubeginn ist daher unklar.
RS 14, Filsquerung Ebersbach: Diesen Radschnellweg plant das Straßenbauamt des Landkreises Esslingen/Göppingen für das Land.
RS 21, Bietigheim-Bissingen–Stuttgart: in der Vorplanung/Trassenfindung.
Radschnellweg auf den Fildern: Planungen haben begonnen, eine Machbarkeitsstudie ist erstellt.

Eine Übersichtskarte über die RS-Projekte gibt's hier(jl)

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2 Kommentare verfügbar

  • Jupp
    am 16.01.2025
    Antworten
    Auch von meiner Seite vielen Dank für den tollen Status zum Dilemma um die Radschnellwege in Baden-Württemberg.

    Vorab:
    Ich bin begeisterter Radfahrer. Ich fahre im Städtle fast ausschließlich Rad. Und nutze es als Verkehrsmittel im gesamten Ballungsraum. Darüberhinaus
    verbringe ich auch meine…
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