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Kinder und Jugendliche aus der Ukraine

"Sie spielen sehr oft Krieg"

Kinder und Jugendliche aus der Ukraine: "Sie spielen sehr oft Krieg"
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Fast 30.000 Kinder und Jugendliche, die aus der Ukraine geflohen sind, gehen in Baden-Württemberg zur Schule. Die meisten besuchen Vorbereitungsklassen, weil ihre Deutschkenntnisse noch nicht ausreichen. Sprachbarrieren sind aber nur eine von vielen Herausforderungen.

Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine zeigen sich in Baden-Württemberg Versäumnisse im Bildungsbereich wie unter einem Brennglas – weil durch die große Menge der geflüchteten Kinder und Jugendlichen Probleme überdeutlich werden, die es schon lange gibt. Etwa die Überlastung der Kitas. Weil erste Kommunen ihre Kita-Öffnungszeiten einschränken wollen – in Tübingen gibt es bereits einen entsprechenden Gemeinderatsbeschluss – wurde jüngst der Vorschlag laut, zur Entlastung könnten Flüchtlingskinder in eigene Spielgruppen wechseln. So geht jeder Integrationsanspruch unter im Sog multipler Probleme, von denen das wohl größte ist: Es fehlt Personal. Das aber nicht erst seit heute.

Prognosen belegten immer und immer wieder, wie viele Fachkräfte in Kitas und Grundschulen fehlen und künftig erst recht fehlen werden. Wenn in Tarifrunden die Gewerkschaften Verdi oder die GEW deutlich mehr Geld für Erzieher:innen verlangten, war selbiges über zu viele Jahre in den Stadtsäckel nicht vorhanden. Auch gegenwärtig versuchen die Arbeitgeber:innen mit Einmalzahlungen ein mickriges Angebot schönzurechnen. Es drohen Streiks, die alle belasten. Unstrittig werden diese Berufe aber nur attraktiv und das ganze System damit zukunftsfähig, wenn sich das riesige Delta zwischen Entlohnung und gesellschaftlicher Bedeutung der Aufgabe endlich zu schließen beginnt.

Angesichts der durch die vielen Geflüchteten noch angespannteren Lage ist aktuell guter Rat besonders notwendig. Aber ausgerechnet Kinder mit Kriegs- und Fluchterfahrungen von Gleichaltrigen zu separieren, ist sicher keine Alternative. Zumal ab der ersten Klasse Trennung ohnehin Programm ist für die, die erst noch ausreichend Deutsch lernen müssen, um dem regulären Unterricht zu folgen. In der Grundschule sind in den rund tausend Vorbereitungsklassen im Land 18 Stunden pro Woche vorgesehen, ab der Sekundarstufe eins 25 Stunden. Neun davon sind zur freien Verfügung der Lehrkräfte eingeplant, vier Stunden für Demokratie und zwölf Stunden für den Sprachunterricht. "Das reicht oft schon allein deshalb nicht aus, weil nicht nur Kinder und Jugendliche aus der Ukraine in den Klassen sitzen, sondern Flüchtlinge aus vielen anderen Ländern", sagt Katrin Steinhülb-Joos, die Bildungsexpertin der SPD-Fraktion im Südwest-Landtag, die selber Schulleiterin war. Manche hätten noch nie in ihrem Leben eine Schule von innen gesehen, "die wissen gar nicht, wie ein Bleistift zu halten ist", andere seien dagegen in ihrer Heimat sehr gute Schülerinnen und Schüler gewesen.

Bei den Geflüchteten aus der Ukraine ist vieles anders

Zahlen, Daten und Fakten belegen die Herausforderungen. Etwa, dass in den allgemeinbildenden Schulen nur 37 Prozent der Kinder und Jugendlichen ausschließlich eine Vorbereitungsklasse besuchen. 44 Prozent switchen zwischen Vorbereitungs- und Regelunterricht. Die restlichen 19 Prozent brauchen, jedenfalls was die Sprache der neuen oder vorübergehenden Heimat anbelangt, keine besondere Unterstützung. An beruflichen Schulen besuchen 96 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine eine Vorbereitungsklasse (mehr Infos auf dem Fachportal "Integration-Bildung-Migration").

Vor allem aber zeichnen Geschichten, Erlebnisse und Erfahrungen ein Bild der Herausforderungen: Einerseits haben viele Lehrkräfte Kompetenzen im Umgang mit Flüchtlingskindern und -familien, mit kulturellen Unterschieden und Sprachdefiziten spätestens seit 2016 entwickelt; andererseits ist diesmal vieles anders, weil Schüler:innen aus der Ukraine im Gegensatz beispielsweise zu vielen Kinder aus afrikanischen Ländern an das Phänomen Unterricht nicht erst herangeführt werden müssen. Die allermeisten haben klare Vorstellungen und sind gewohnt, diese selbstbewusst durchzusetzen. "In Mathe sind sie gleichaltrigen Jugendlichen gut ein Jahr voraus", berichtet eine Gymnasiallehrerin von der Schwäbischen Alb.

Gerade in der Vorbereitung auf die Berufsausbildung könnte es zudem helfen, die guten Englischkenntnisse vieler geflohener Jugendlicher gezielter zu nutzen. Einen Anknüpfungspunkt bietet Baden-Württembergs Anwerbekampagne "The Länd", in der Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) für Fachkräfte etwa rund um den IT-Bereich ausdrücklich keine Deutschkenntnisse als Voraussetzung verlangt.

Viele wollen mittel- oder langfristig im Land bleiben

Verändert haben sich seit Schuljahresbeginn, wie Lehrkräfte erzählen, die Perspektiven von Kindern. Zumal wenn sie mit der ganzen Familie ausreisen konnten, oder wenn Mütter hoffen, dass Väter irgendwann nachkommen. Viele sehen inzwischen ihre Zukunft mittel- oder sogar langfristig in Baden-Württemberg.

Auch dazu gibt es Erfahrungswerte. Rund ein Viertel der Kriegsflüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien hat in den 1990ern die neue zur dauerhaften Heimat gemacht. 2023 sind Sprachkurse sehr gefragt. So bietet die Volkshochschule Stuttgart neben über 170 Integrationskursen, neben berufsbezogenem Deutschunterricht und Kursen für Geflüchtete elf Kurse für Fortgeschrittene. Die rasche Rückkehr sei nicht mehr das einzige Ziel, berichtet eine Lehrerin, "vor allem für Mütter mit kleineren Kindern, die immer zufriedener aus der Kita oder der Schule kommen, weil sie schnell Deutsch lernen".

Oft geht es um einzelne oder einige wenige markante Erlebnisse aus dem Kita- oder Schulalltag. Eine Erzieherin erzählt vom so wichtigen regelmäßigen Austausch mit Kolleginnen, der klarmacht, was Kinder umtreibt: "Sie spielen sehr oft Krieg, und sie verlangen nach viel mehr Aufmerksamkeit als Gleichaltrige." Eine andere berichtet von den "erschütternden Bilder, die Kinder auf ihrem Handy mit sich herumtragen wie andere Ferienerinnerungen".

Unterricht real in der neuen, online in der alten Heimat

Ukrainische Geflüchtete müssen nicht in eine Erstaufnahmeeinrichtung des Landes. Für die Unterbringung sind grundsätzlich Stadt- und Landkreise zuständig. Viele Großmütter, Mütter und ihre Kinder sind bei Verwandten oder auf Zeit bei deutschen Helfer:innen untergekommen. Die Hoffnungen auf eine eigene Wohnung sind groß und Umzüge keine Seltenheit. Von großem Heimweh erzählt eine Cannstatter Erzieherin, aber auch von der großen Bereitschaft, "neue Freundschaften zu knüpfen". Und dann sei "für uns alle fast nicht erträglich", wenn Kinder aus dem Weg ins neue Leben herausgerissen werden, weil Familien in eine andere Unterkunft umziehen.

Jugendliche im letzten Drittel oder am Ende ihrer Schulzeit plagen noch ganz andere Sorgen, die das Kultusministerium aber mildern kann. Die meisten gehen doppelt zum Unterricht: real in der neuen und digital in der alten Heimat, um weiter nach ihren früheren Lehrplänen zu lernen. Bisher hat die Kultusverwaltung befördert, dass Abschlussprüfungen nach dem ukrainischen System abgelegt werden können, und Versetzungen hierzulande vergleichsweise großzügig ermöglicht. Selbst dann, wenn die Deutschkenntnisse dem eigentlich verlangten Niveau nicht entsprachen.

Dabei soll es 2023 bleiben. "Bei dem erstmaligen Besuch der Regelklasse einer allgemeinbildenden Schule wird in der Leistungsbeurteilung auf die sprachlich bedingten Erschwernisse des Lernens mit geringen Deutschkenntnissen Rücksicht genommen", sagt eine Ministeriums-Sprecherin auf Kontext-Anfrage. Noten können durch eine Verbalbeurteilung ersetzt werden, um eine detailliertere Aussage über die Lernentwicklung zu machen. Für die zweite Versetzung gelten noch einmal ähnliche Regeln.

Mehr Stellen, Ausbildungsplätze, Schulpsycholog:innen

Neuesten Zahlen zufolge sind seit Kriegsbeginn 152.400 Personen aus der Ukraine in Baden-Württemberg angekommen. In selben Zeitraum stellten aber auch 30.000 Flüchtlinge aus anderen Ländern Asylanträge. Ehrenamtliche Helfer:innen oder der Flüchtlingsrat, die GEW und beteiligte Lehrkräfte erinnern daran, dass in Vorbereitungsklassen nicht nur Ukrainisch gesprochen wird, sondern etwa auch Paschtu, Arabisch oder Farsi. Insgesamt gibt es gegenwärtig gut tausend dieser Klassen zur Vorbereitung in den unterschiedlichen Schulstufen.

Um den Herausforderungen zu begegnen, will die Südwest-SPD klotzen statt kleckern und fordert für den Bildungsbereich die Umwidmung von nicht abgerufenen Corona-Mitteln. "Damit nicht noch mehr Kitas im Land ihre Öffnungszeiten einschränken müssen", heißt es in einem Forderungskatalog, "muss die Landesregierung Verwaltungs- und Hauswirtschaftskräfte zur Entlastung des pädagogischen Personals an unseren Kitas einstellen". Zudem brauche es Ausbildungsplätze und sogenannte Aufstockungs- und Rückkehrboni, um ausgeschiedene Mitarbeiter:innen zurückzugewinnen. Andreas Stoch, SPD-Landes- und Landtagsfraktionsvorsitzender und früher selber mal Kultusminister, ruft nicht nur, aber auch mit Blick auf die ukrainischen Kinder und Jugendlichen nach mehr Schulsozialarbeit und mehr Schulpsycholog:innen. Ebenso Parteigenossin Steinhülb-Joos: "Viele haben sehr gravierende Erlebnisse hinter sich", betont sie. Solche Traumatisierungen könnten aber nicht von Lehrkräften "irgendwie nebenher" mit aufgearbeitet werden.

Doch egal, woher und mit welchen Erlebnissen im Gepäck die Geflüchteten kommen: Alle Integrationsprojekte, die Bildungspolitiker:innen der baden-württembergischen Landtagsfraktionen seit Jahren besuchten, von Südfrankreich bis Kanada, von London bis Hamburg, haben gezeigt, wie wichtig die ersten Jahre in Kita und Grundschule sind. "Das ist der Hauptansatzpunkt", bekräftigt Matthias Schneider, der Geschäftsführer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im Land. Da müsse genau hingeguckt werden, um "Mangel und Not zu lindern".

Worin sich Fachleute sicher sind: Spätestens dann, wenn die von Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) angestoßene und inzwischen von der Bundesregierung beschlossene erleichterte Visa-Ausstellung für Menschen aus dem türkischen Erdbebengebiet anläuft, werden die Angebote auf gar keinen Fall mehr ausreichen. Es ist daher fahrlässig, wenn die Landesregierung weiter auf die Ausbeutungsbereitschaft von haupt- und ehrenamtlichen Helfer:innen setzt. Und darauf, dass die nie zur Neige geht.


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