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Bürgerbeteiligung

Schippe drauflegen

Bürgerbeteiligung: Schippe drauflegen
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Gisela Erler ist weg. Nun will Barbara Bosch, die neue Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Winfried Kretschmanns "Politik des Gehörtwerdens" weiterentwickeln zu einer Politik des Mitwirkens.

Das geht runter wie Öl. Die alles andere als grün-verdächtige Konrad-Adenauer-Stiftung hat gut zehn Jahre nach dem Machtwechsel in Baden-Württemberg eine wesentliche Folge jenes neuen Stils unter die Lupe genommen, mit dem Ministerpräsident Winfried Kretschmann den Menschen im Land auf Augenhöhe begegnen will. Untersucht wurde die Wirkung der zufällig zusammengesetzten Gremien, die Gisela Erler, ehemalige Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Vorgängerin von Barbara Bosch, zwar nicht erfunden, aber für den Südwesten adaptiert hat. "Das Bahnprojekt Stuttgart 21 hat viele Gemüter erhitzt", schreibt das Autorenteam rund um den Freiburger Politikprofessor Ulrich Eith. Die Bilder vom "schwarzen Donnerstag", dem brutalen Polizeieinsatz vom September 2010 gegen Stuttgart-21-DemonstrantInnen, seien "rund um die Welt gegangen". Seither jedoch sei viel Positives passiert, um BürgerInnen früher in Entscheidungen miteinzubeziehen, stellt die Stiftung fest.

Wenn Barbara Bosch das Land auf einem guten Weg sieht, kann sie sich jedenfalls auf ihre Urteilskraft verlassen. Nur wenige Themen haben ihre 16 Jahre als Oberbürgermeisterin in Reutlingen ähnlich nachhaltig geprägt wie die Frage, wann und wie die Bürgerschaft einbezogen werden soll in für eine Stadt zentrale Entscheidungen. Ins Amt war sie 2003 auch deswegen gekommen, weil ihr Vorgänger, der CDU-OB Stefan Schultes, von Mitwirkung keine oder zumindest die falsche Vorstellung hatte. Das zeigte sich zugespitzt rund um die drei gläsernen Kuben, die das "Kultur- und Kongresszentrum Reutlingen" beherbergen sollten: Widerstand formierte sich, und das vom Gemeinderat noch mit großer Mehrheit beschlossene Projekt scheiterte 2002 im Bürgerentscheid.

Bosch hat Erfahrung mit Bürgerbeteiligung

Ein Jahr danach war OB Schultes Geschichte. Bosch, seine parteilose Nachfolgerin, die auf dem Gymnasium damit liebäugelte, Journalistin zu werden, erinnert sich noch gut an die damalige Entfremdung zwischen Rat und Bürgerschaft. An die Blessuren und die Verunsicherung, ob und wie die Planungen für das Kongresszentrum neu aufgenommen werden sollten. Denn dass Reutlingen einen Neubau brauchte, war schon seit Jahrzehnten unstrittig. Und sie erinnert sich, wieviel Aufwand notwendig wurde, um "Brücken neu zu bauen", vor allem aber, wie wichtig eine rechtzeitige Einbindung der Bevölkerung ist. Laufend und sehr transparent habe sie die ReutlingerInnen informiert, Meinungen angehört und aufgenommen. Der Start der Planungen wurde 2006 abermals zum Entscheid vorgelegt – und mehrheitlich bestätigt. "Statt zwei Drittel Ablehnung zwei Drittel Zustimmung", blickt die Ex-OB mit Stolz und Genugtuung zurück. "Das war eine harte Nuss."

Aber eine, die die gebürtige Stuttgarterin mit ihrem beherzten Auftreten knackte. Kein Wunder, dass Kretschmann sie schnell auf dem Schirm hatte, als klar wurde, dass die inzwischen 75-jährige Gisela Erler keine dritte Amtszeit mehr machen wollte. Bosch, die im Ehrenamt als Präsidentin dem hiesigen DRK-Landesverband vorsteht, soll nun ihre Erfahrungen nicht nur in die Landesregierung, sondern gerade in die Kommunen tragen. Sie habe als Oberbürgermeisterin mit dem Gefühl aufgehört, dass gerade die Bürgerschaft viel breiter mitgenommen werden müsse, "damit unsere Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriftet". Die frühere Fellbacher Beigeordnete weiß aber auch um die Skepsis in den Rathäusern gegenüber der Beteiligung der BürgerInnen. Sie könne als langjährige Kollegin aber "glaubhaft versichern, dass eine frühe Beteiligung Verfahren schneller voranbringt und nicht langsamer".

Die Kommunen sind noch immer skeptisch

Da wird noch jede Menge Überzeugungsarbeit nötig sein. Als die Landesregierung vor einem Jahr das Gesetz über die dialogische Beteiligung auf den Weg brachte, hätte die Reaktion des Gemeindetags knapper und harscher kaum ausfallen können: "Die Notwendigkeit einer solchen Regelung ist aus unserer Sicht nicht erkennbar." Sie blockieren mochten die BürgermeisterInnen allerdings auch nicht - immer unter der Voraussetzung, "dass sich keine neuen oder erweiterten Verpflichtungen für die Kommunen ergeben".

Schon Gisela Erler hatte ein Jahrzehnt lang gegen die Skepsis vor Ort anargumentiert, erst recht seit der Verabschiedung der Verwaltungsvorschrift Öffentlichkeitsbeteiligung (VvV), die Landesbehörden zur Einbindung der Bürgerschaft verpflichtet. So habe Erler, lobt Bosch, "mehr als nur den Grundstein für ein völlig neues Politikverständnis im Land gelegt". Jetzt werde "eine Schippe draufgelegt" und durch dialogische Beteiligung in zufällig ausgewählten Foren die Politik des Gehörtwerdens im Land "erlebbar", heißt es im grün-schwarzen Koalitionsvertrag vom Frühjahr 2021. Rückenwind für mehr Mitsprache des Publikums weht neuerdings auch aus Berlin. "Die Bundesregierung verstärkt ihre Kompetenz zur Unterstützung dialogischer Bürgerbeteiligungsverfahren", verheißt die Ampelkoalition kurz und bündig.

Über Melderegister oder die guten alten Telefonbücher werden Menschen angefragt, Interessierte sagen zu, informieren sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln über den Gegenstand der Beratungen, setzen sich mit Alternativen auseinander, diskutieren und formulieren Lösungsvorschläge. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung macht einen klaren Unterschied zwischen dialogischer Beteiligung mit kleinerem und mit großem Konfliktpotenzial. Wobei sich am großen Vorbild Irland zeigt, dass die Gesellschaft geradezu sprengende Konfliktthemen wie Homo-Ehe oder Abtreibung mittels Zufallsforen nicht nur entschärfen, sondern sogar befrieden und auflösen kann - zugunsten liberaler Positionen.

Bosch weiß, wie der angestrebte rasche Ausbau der Windkraft Bevölkerung und Politik in dieser Legislatur beschäftigt. Die 63-Jährige wird von früheren MitarbeiterInnen als "immens fleißig und belastbar" beschrieben. Als schnell eingearbeitet und immer bestens vorbereitet, auch in eigener Sache. Zum Abschied hat sie eine lange Liste der Errungenschaften aus ihrer Amtszeit zusammengestellt: bis hin zur Wiederbelebung der Altstadt und der Tradition des Schwörtags. Über 400 Jahre war Reutlingen freie Reichsstadt, also dem Habsburgischen Kaiser unmittelbar untertan, was de facto die Landesfürsten ausschaltete und zu einer Vorform der Demokratie führte. "Wir wollen", sagte sie in ihrer ersten Eröffnungsrede 2005, "an eine große Tradition unserer ehemaligen Reichsstadt Reutlingen anknüpfen und uns stolz auf die demokratischen Wurzeln unserer Stadt besinnen."

Die neue Staatsrätin ist vor allem durchsetzungsstark

In der neuen Funktion könnte Barbara Bosch eine von der Bundesregierung in Aussicht gestellte Gesetzesänderung in die Hand spielen. "Es gibt im Baugesetzbuch schon jetzt die Möglichkeit", erläutert sie, "bestimmte Vorhaben von nationaler Bedeutung, etwa die Unterbringung von Sicherheitsbehörden, für kommunale Entscheide auszuschließen und die Entscheidung auf Landesebene zu ziehen, per Gesetz und entsprechend vorgeschalteter Bürgerbeteiligung." In einem eigenen Gutachten hat die Regierungszentrale prüfen lassen, wie das beim Bau neuer Windkraftanlagen zu handhaben ist. Es kam heraus, dass grundlegende Prinzipien der Standortwahl und des Naturschutzes nicht mehr vor Ort und immer neu, sondern auf Landesebene und ein für alle Mal geklärt werden sollen. Die vielgerühmte Durchsetzungsfähigkeit der neuen Staatsrätin, die sich nie einer Partei nah genug fühlte für eine Mitgliedschaft, muss bei heiklen Vorhaben ohne Zweifel zum Einsatz kommen.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung nennt jedenfalls als Gelingensfaktor der Beteiligung in Baden-Württemberg, dass gerade in den zufällig ausgewählten Gremien, etwa zur Sanierung der Stuttgarter Oper, zur Corona-Politik in nicht weniger als zwölf Runden mit unterschiedlichsten Schwerpunkten - zuletzt zum Druck auf Ungeimpfte oder zum grenzüberschreitenden Zusammenleben am Oberrhein, "nicht nur Stakeholder an den Beteiligungsprozessen teilnehmen, sondern in der Regel ein größerer Spielraum für ergebnisoffene Diskussionen und die Erarbeitung konsensualer Problemlösungen oder Handlungsempfehlungen eröffnet wird". Zudem werde das in der Bürgerschaft vorhandene Knowhow besser genutzt. "Bedauerlicherweise", resümiert Professor Eith, "bedurfte es dazu wohl erst der Ereignisse im Stuttgarter Schlossgarten."

Die neue Staatsrätin will sich, wie sie in einem ihrer ersten Interviews bekannte, auch auf ihren Instinkt verlassen und – nach Corona – auf "die Nähe zu den Leuten". Sie sei immer nah dran gewesen an ihren ReutlingerInnen. Und was sie mache, sagt sie mit diesem ihr eigenen energischen Lächeln nach der Ernennung im Landtag, mache sie mit Herzblut. Eine Herangehensweise, die die Politik des Mitwirkens gut gebrauchen kann.


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