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OB-Wahl in Stuttgart

Scherbenhaufen Stuttgart

OB-Wahl in Stuttgart: Scherbenhaufen Stuttgart
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Sie hatten alle Chancen und werden doch verlieren: Leichtfertig geben Grüne, Sozialdemokraten und Linke in der Landeshauptstadt die Nachfolge von Fritz Kuhn aus der Hand. Der Monte Scherbelino ist gewaltig, für die Aufräumarbeiten fühlt sich niemand zuständig. Und das vier Monate vor einer Landtagswahl.

"Der Sündenbock ist kein Herdentier", sagt Marian Schreier, weil der oder die gesucht-und-gefundenen Schuldigen in der Regel sehr allein sind. Stuttgart ist anders, da müssen jetzt viele – ganz egal, ob zu Recht oder zu Unrecht – rumrennen mit dem Makel, mitverantwortlich fürs öko-soziale Desaster von G2R zu sein: Grüne und Rote und Linke, angeblich schlechte Verhandler- und VerliererInnen, tatsächlich schwache ParteifreundInnen und erst recht alle, die kraftvoll nachtreten. Zu groß ist die Enttäuschung über die versemmelte Chance, zu schwach ausgeprägt die Solidarität, um auf den eigenen Senf doch zu verzichten.

Plakatives unübersehbares Beispiel ist Rezzo Schlauch, der so gern erzählt, wie das war 1996, als er selbst fast OB geworden wäre. Die SPD hätte sich eben anders verhalten müssen, meint er und lässt immer weg, dass er ein paar Jahre zuvor durch das Aufrechterhalten seiner Kandidatur trotz eines dritten Platzes im ersten Wahlgang einem CDU-Mann in den Chefsessel des Rathauses von Crailsheim verhalf. Jetzt, aus der sicheren Betrachterdistanz und weit weg von Landes- und Kommunalpolitik, weiß er ganz genau, dass seine Grünen "durch die Erfolgsspur der letzten Jahre und hinter dem erfolgreichen breiten Rücken von Ministerpräsident Winfried Kretschmann satt und selbstzufrieden geworden" sind. Sein Gratistipp für die arrivierten ParteifreundInnen: "Aus den bequemen Parlamentssesseln doch mal ins Risiko zu gehen und sich einer der vornehmsten Herausforderungen zu stellen, die es in der Politik gibt."

Unpräzise und unfaire Vorwürfe

Ross und Reiter nennt der inzwischen 73-Jährige natürlich nicht. Dabei hätte er, wenn er sich schon aus dem Ruhestand zur Wortmeldung aufgerufen fühlt, aufräumen können mit der Mär, die Kandidatin Veronika Kienzle sei dritte Wahl gewesen. Sein Langzeit-Kumpel Cem Özdemir war nämlich gar nicht bereit, sich einer der vornehmsten Herausforderungen zu stellen – vermutlich weil er mehr darauf setzt, demnächst noch einmal auf Bundesebene durchzustarten. Und Muhterem Aras hatte sich allein handeln lassen, um am Ende doch nicht herabzusteigen vom Stuhl der Landtagspräsidentin.

Unpräzise und unfaire Vorwürfe heizen die Suche nach Schuldigen aber erst recht an. Schlauch habe sich schon vor dem ersten Wahlgang "in unerträglicher Weise stark gemacht" für Schreier, gemeinsam mit Grünen-Gemeinderatsfraktionschef Andreas Winter übrigens, heißt es in dem seit Kuhns Rückzug latent überforderten Kreisverband. Sie wisse gar nicht, sagt eine Grüne, welche Instinkte der 30-jährige Bürgermeister aus Tengen in grünen Männern da auslöse.

Offenkundig ist dagegen, dass bei Schreiers Fans Fakten wenig zählen, wenn es um den Ursprung seiner Kandidatur geht. Es stimmt, dass seine als allererste angemeldet wurde. Die Chance, die offizielle Unterstützung durch den Stuttgarter SPD-Kreisverband zu bekommen, ließ er aber verstreichen, weil er sie gar nicht wollte. Das Attribut "parteilos" schien zu verlockend, ist aber ein Etikettenschwindel, was wiederum niemandem eine Fußnote wert zu sein scheint. Auch nicht der STZN, die den gebürtigen Stuttgarter unverhohlen promotet. Schreier gehört nach wie vor der SPD an, hat seine Mitgliedschaft aber ruhend gestellt. Das war der vorläufige Kompromiss im Streit mit dem SPD-Kreisverband, der wegen "unsolidarischen Verhaltens" ein Ordnungsverfahren gegen ihn angestrengt hatte.

Unerträgliche One-Man-Show

Ohnehin haben nicht wenige, die sich gegenseitig die Schuld dafür zuschieben, dass Frank Nopper (CDU) mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit in die Beletage des Rathauses einzieht, das SPD-Parteibuch in der Schublade. Die einen wollten schon zu einem Zeitpunkt mit der Zweitplatzierten, "mit Kienzle und ihrer Clique" endgültig abschließen, als noch über den Text "Für ein zukunftsfähiges Stuttgart/Gemeinsam verändern wir die Stadt" verhandelt wurde. Bereits am Dienstag hatte der Bosch-Ingenieur Michael Jantzer (SPD) einen JournalistInnen-Block gesucht, um seine Einschätzung zu diktieren.

Am Mittwoch stand dementsprechend in der STZN seine Forderung nach einem "freiwilligen Rückzug von Veronika Kienzle", weil die am Wahlabend "sehr zum Ärger der Mitbewerber den Eindruck vermittelte, es sei ein Naturgesetz, dass diese zu ihren Gunsten zurückstecken müssten, damit sie sich deren Klientel für die Neuwahl einverleiben könne". Dabei waren Schreier und der offizielle SPD-Bewerber Martin Körner doch gemeinsam auf 24,8 Prozent gekommen. Offiziell übrigens waren sich letztere zu diesem Zeitpunkt noch spinnefeind. Im Frühjahr jedenfalls hatte Körners Weggefährte Sascha Binder, Generalsekretär des SPD-Landesverbands, den Alleingang des Landesvorstandsmitglieds Schreier noch als unerträgliche "One-Man-Show" scharf kritisiert.

Dass in so verzwickter Lage so manchem Normalsterblichen der Überblick verloren geht, muss nicht verwundern, dass etablierte Polit-PR-Größen versagen, überrascht aber doch. Aus der Opposition heraus sei einfach leichter Wahlkampf zu machen, gab Rudi Hoogvliet, seit demnächst zehn Jahren Winfried Kretschmanns Regierungssprecher und graue Eminenz im Staatsministerium, einst zu Protokoll. Jetzt lieferte er selber einen Beleg für diese These. Ausgerechnet auf dem Reitzenstein fehlt es an Einsicht. Die Grünen haben selbst nach zwei Legislaturperioden an der Macht nicht realisiert, welche Folgen es hat, wenn das größte Pfund losgelöst vom Landesverband agiert. Die vom Ministerpräsidenten erwünschte Beinfreiheit steht für ihn auf der Haben-, Blindflug und Desinteresse fürs Parteiganze auf der Sollseite.

Botschaft aus der grünen Vorhölle

In der CDU waren all die Jahre Regierungschefs zugleich Vorsitzende. In Personalunion konnten strategische Entscheidungen getroffen werden. Und selbstverständlich hätten sich in der Union sämtliche Parteigranden hinter dem/der KandidatIn mit dem ernüchternden Ergebnis versammelt und für den zweiten Wahlgang gepowert nach allen Regeln der Politkunst. Kretschmann hingegen sollte und wollte mit Kienzles dünnem Abschneiden nichts zu tun haben. Wie eine Botschaft aus der grünen Vorhölle nimmt sich im Rückblick der arg handgestrickte Dialog Kretschmann/Kienzle zehn Tage vor der Wahl aus. SiegerInnen, auch die vorerst nur erhofften, werden anders präsentiert.

In den Schatten stellt das alles jedoch ein prinzipielles öko-soziales Versagen, das zumindest ein stark belastbares Indiz für die These abgibt, ein solches Debakel ist schnell und handgestrickt in drei Tagen per Vereinbarung nicht abzuwenden. Vor gut einem Jahr, nach den Gemeinderatswahlen, hätten sich kluge Köpfe über die Ergebnisse beugen können und parallel dazu über einen Kalender mit anstehenden OB-Wahlen. Das hätte für die Grünen den unbestreitbaren Vorteil gehabt, früh zu erkennen, wie wenig der OB zum Sündenbock dient. Denn mit Fritz Kuhn und nicht gegen ihn wurde das beste Ergebnis ever in der Landeshauptstadt eingefahren.

Vor allem aber wäre rechtzeitig aufgefallen, dass Stuttgart zur gefährlichen Stimmungsdelle vor dem erwarteten dritten Erfolg bei Landtagswahlen werden kann. Es soll schon Polit-Superstars gegeben haben, deren langsames Verglühen von überraschenden Niederlagen eingeleitet wurde – wie zuletzt 2017 das des Beinahe-Bundeskanzlers Martin Schulz in Schleswig-Holstein. Zudem wäre Karlsruhe unweigerlich in den Blick geraten. In der Fächerstadt haben die Grünen schon vor acht Jahren erfolgreich gemeinsame Sache mit der SPD zugunsten von Frank Mentrup gemacht. Diesmal wird der rote OB sogar mit Plakaten unterstützt, die beide Parteilogos zieren, damit der rot-grüne Schulterschluss ganz bestimmt niemandem entgeht.

Es gibt zu viele Schuldige

Und schließlich hätte die OB-Wahl in Konstanz Interesse geradezu wecken müssen. Aufmunternde Aussichten auf ein Dreier-Paket hätten sich da aufgetan, vielleicht hätte Hannes Rockenbauch sogar ganz und gar auf seine Stuttgarter Kandidatur verzichtet. Statt aber drei Erfolge einzufahren, darf das Lager der Grünen und Roten allein Mentrups Wiederwahl für sich verbuchen. In Konstanz hat’s der ungeliebte CDU-OB knapp geschafft gegen Luigi Pantisano, und in Stuttgart werden grüne und rote Wunden geleckt.

Auch deshalb, weil es nicht nur in der Landeshauptstadt seit Langem nicht so weit her ist mit dem Lager jenseits der Mitte, mit seiner Eintracht und seiner Durchschlagskraft. Weil Zahlen allein, die eine andere Sprache sprechen – LandtagswahlkämpferInnen aufgepasst! –, nicht ausreichen für eine verlässliche Partnerschaft. Wie ein Treppenwitz der Geschichte nimmt sich aus, dass Frank Nopper jetzt, wo er mit den beiden anderen verbliebenen Kandidaten über Stuttgarts Zukunft diskutiert, noch gestriger daherkommt als vor der ersten Runde. In der Neuwahl wäre ein Erfolg der Öko-Sozialen drin gewesen. Stattdessen wird am Abend des 29. November die Suche nach den Sündenböcken in eine neue Runde gehen. Es gibt einfach zu viele Schuldige.


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6 Kommentare verfügbar

  • Hannah Bunz
    am 22.11.2020
    Antworten
    Kuhn wählen versprach damals Turner zu verhindern. Mehr war kaum zu erwarten. Ergebnis: Heute reichts nicht mal mehr dazu.
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 10 Stunden
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