Unbeachtet von der Öffentlichkeit läuft er schon fast ein Jahr: der große Pillenaustausch. Knapp 190 Millionen Jodtabletten hat das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) im Auftrag des Bundesumweltministeriums im vergangenen Sommer bestellt. In Blistern à vier Tabletten, der Packungsgröße für Einzelpersonen. Die neu georderten Medikamente sollen die in Bund und Ländern bestehende Notfallreserve von rund 137 Millionen Jodtabletten ersetzen. Um in einem radiologischen oder nuklearen Notfall einen "noch besseren Schutz der Bevölkerung durch eine weiträumigere Verteilung von Jodtabletten zu gewährleisten", so das BfS.
Anfang Juli hat das Regierungspräsidium Karlsruhe rund neun Millionen neue Jodtabletten bekommen – obwohl das rund 25 Kilometer nördlich der Stadt stehende Kernkraftwerk Philippsburg seit dem Jahreswechsel nicht mehr am Netz ist. Die Gefahr ist nicht gebannt, glauben Atomkraftgegner. Vielmehr könnten die Jodtabletten bald zum Einsatz kommen – wegen Neckarwestheim II, dem letzten noch "unter Strom stehenden" Atommeiler im Südwesten.
Dort war bei den zurückliegenden Jahresrevisionen überraschend Rostfraß an den Heizrohren der vier Dampferzeuger (DE) des Kraftwerks entdeckt worden. Vor zwei Jahren zunächst an 191 der insgesamt 16.472 Leitungen. Im Sommer 2019 wurden bei intensiver Suche weitere 101 korrodierte Rohre aufgespürt. Im Extremfall hatte der Oxidationsprozess bereits fast 90 Prozent der nur 1,2 Millimeter dicken Rohrwand weggefressen.
Das Risiko sei beherrschbar, sagt die EnBW
Unstrittig zwischen Atomkraftgegnern, der Kraftwerksbetreiberin EnBW und dem Umweltministerium als Aufsichtsbehörde ist, was passieren würde, wenn eines der Rohre durch einen kleinen Riss leckschlagen würde: Radioaktives Kühlmittel vom Primärkreislauf würde unter hohem Druck in den Sekundärkreislauf, sprich in den Turbinendampfkreislauf, und damit in die Umwelt austreten. Uneinigkeit herrscht jedoch darüber, wie wahrscheinlich dieses Szenario ist. EnBW und Atomaufsicht verweisen darauf, dass sensible Sonden selbst geringste Radioaktivität aus Minilecks registrieren würden und der Reaktor sofort heruntergefahren würde. Das Risiko sei, salopp gesagt, gut beherrschbar.
Ganz anders sehen dies Atomkraftgegner. Sie befürchten, dass ein durch Rost geschwächtes Rohr komplett abreißen könnte. Das mit Schallgeschwindigkeit austretende Kühlwasser würde aufgrund seiner großen mechanischen Energie andere Rohre beschädigen und letztlich den Dampferzeuger zerstören. In der Folge würde, vereinfacht ausgedrückt, das komplette Kühlsystem des Reaktors leerlaufen. Der Reaktor wäre dann unkontrollierbar. Wie zuletzt im japanischen Fukushima käme es zum größten anzunehmenden Unfall, nämlich zur Kernschmelze. Dieses Worst-Case-Szenario hatte Helmut Mayer, ehemaliger Sachverständiger der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), im Oktober 2019 im Kontext-Beitrag "Reaktor Rostiges Rohr" detailliert beschrieben.
Die Folge einer Kernschmelze im dicht besiedelten Baden-Württemberg wäre katastrophal. Millionen Menschen wären hoher radioaktiver Strahlung ausgesetzt, der gesamte Großraum Stuttgart müsste auf Jahrzehnte hin evakuiert werden. Fast schon grotesk erscheint deshalb, wie das Restrostrisiko in Neckarwestheim bis heute vom Energieversorger EnBW bekämpft wird: Entdeckte Rostrohre werden einfach zugepfropft. Daneben musste die EnBW auf Weisung der Atomaufsicht die Dampferzeuger gründlich reinigen und den rostfördernden Eisenoxideintrag in den Anlagen reduzieren. Damit stand aus Sicht der Atomaufsicht dem Wiederhochfahren des Reaktors nach Revision in 2019 nichts mehr im Wege.
"Das bloße Verstopfen einzelner Rohre, das die EnBW bisher praktiziert, ist Flickschusterei. Es missachtet sowohl die deutschen Sicherheitsanforderungen als auch weltweit anerkannte kerntechnische Sicherheitsstandards", sagt Armin Simon von ".ausgestrahlt". Zu Beginn der diesjährigen Revision Mitte Juni hat die Anti-Atom-Organisation gemeinsam mit dem BUND Baden-Württemberg, dem Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar e.V. (BBMN) sowie vier Anrainern den Antrag bei der Atomaufsicht gestellt, Block II in Neckarwestheim grundlegend zu sanieren: Alle Dampferzeuger seien durch neue Anlagen zu ersetzen. Ein teures Vorhaben, das sich für die Betreiberin EnBW angesichts der Restlaufzeit des Kraftwerks wirtschaftlich kaum lohnen dürfte. Der Atommeiler soll Ende 2022 als letztes deutsches Kernkraftwerk vom Netz gehen.
Neckarwestheim erzeugt illegal Strom
Alternativen zum kompletten Tausch der Dampferzeuger gebe es nicht, untermauern die Initiativen mit einer Studie ihre Forderung. In ihr fällt der Reaktorsicherheitsexperte Professor Manfred Mertins ein vernichtendes Urteil, gerichtet an die Adresse von Umweltminister Franz Untersteller (Grüne). Demnach habe seine Behörde den Reaktorbetrieb unrechtmäßig zugelassen, sprich: Block II produzierte die letzten Jahre illegal Strom. Laut Mertins sind die Schäden an den DE-Heizrohren "als Betriebsstörung einzustufen und stellen somit einen Zustand dar, der der Sicherheitsebene 2 zuzuordnen ist." Ein dauerhafter Anlagenbetrieb unter diesen Bedingungen sei nach den Sicherheitsanforderungen ausgeschlossen. "Ein Betrieb des Reaktors mit vorgeschädigten oder potenziell geschädigten DE-Heizrohren sowie korrosivem Milieu ist nicht zulässig", schlussfolgert Mertins.
1 Kommentar verfügbar
Ernest Petek
am 27.07.2020Wie die Welt aufgebaut sein könnte, darüber hat sich der Naturphilosoph Thales von Milet (etwa 600 v.Chr.) bereits im Altertum seine Gedanken Gemacht. Im gefolgt ist Leukipp (5. Jahrhundert…