Es ist nicht bekannt, ob in der Nacht vom 22. auf den 23. September rund 30 Kilometer nördlich von Stuttgart die Korken knallten und die Reaktorfahrer im Leitstand des Kernkraftwerks Neckarwestheim (GKN) sich in die Arme fielen. Eher nüchtern klingt die Pressemitteilung, die das Wiederanfahren des Atommeilers verkündete: "Block II des GKN ist nach Abschluss der Revision wieder am Netz - Anlage leistet wieder einen wichtigen Beitrag zur zuverlässigen und klimafreundlichen Stromversorgung in Baden-Württemberg", überschrieb der Energieversorger EnBW seine Meldung. In 435 Worten erläutert der Konzern die Jahresrevision im GKN II, die rund 2800 Arbeitspunkte umfasste und 800 zusätzliche Fachkräfte von Hersteller- und Spezialfirmen beschäftigt hat. Beruhigend verweist die PR-Abteilung auf die "erfolgreiche Erledigung aller Arbeiten", bevor der Reaktor wieder hochgefahren wurde. "Wie üblich nach Zustimmung des Stuttgarter Umweltministeriums", so der abschließende Hinweis.
Dabei dürfte die diesjährige Revision mit nervöser Spannung in der Karlsruher Konzernzentrale verfolgt worden sein. Denn ein "wesentlicher Schwerpunkt" der Generalüberholung, so die EnBW, waren "umfassende Prüf- und Wartungsarbeiten" an allen 16 472 Heizrohren der vier Dampferzeuger (DE). An den Rohren waren während der beiden zurückliegenden Jahresrevisionen Dutzende "Schadensbefunde" festgestellt worden. Tatsächlich kamen jetzt 191 Befunde hinzu. Dennoch gab das Umweltministerium Baden-Württemberg als Aufsichtsbehörde nach siebenwöchiger Überholpause grünes Licht, den Reaktor wieder hochzufahren. Es bestehe keine Gefahr – schließlich wurden alle besonders geschädigten Rohre zugestopft.
Befunde – was harmlos klingt, entpuppt sich bei Lektüre der amtlichen Berichte zu den "meldepflichtigen Ereignissen" als potenzielle Super-GAU-Auslöser: An den Heizrohren hatten die Ingenieure unerwartet "Wanddickenschwächungen" (WDS) entdeckt. Auf Deutsch: In dem 1989 in Betrieb gegangenen Meiler rosten Heizrohre still und leise vor sich hin – obwohl ihre Speziallegierung aus Eisen, Nickel und Chrom als besonders korrosionsbeständig gilt. In Einzelfällen hatte sich der Rost bereits durch 90 Prozent der Rohrwand gefressen.
Nur 1,2 Millimeter zwischen Atomtod und Überleben
Ein bisschen Rost, was kann das schaden? In Druckwasserreaktoren, von denen neben GKN II fünf weitere Anlagen in Deutschland am Netz sind, katastrophal viel! Dies lässt sich verstehen, wenn man das Bauprinzip dieses Reaktortyps kennt: So erhitzen die Brennelemente während der Kernspaltung das Wasser im Druckgefäß auf etwa 320 Grad Celsius. Bei normalem Luftdruck wäre das Wasser bei dieser Temperatur längst verdampft. Deshalb wird es unter extrem hohen Druck von knapp 160 Bar flüssig gehalten. Pumpen fördern es durch Rohrleitungen vom Reaktor zum Dampferzeuger, wo es seine Wärme über die Heizrohre an einen zweiten Kreislauf abgibt. Das Wasser im Sekundärkreislauf verdampft und treibt die Turbine an. Nachdem der Dampf die Turbinen verlassen hat, wird er in einem Kondensator abgekühlt und als Wasser wieder in den Dampferzeuger zurückgepumpt. Die dabei entstehende große Wärmemenge, zwei Drittel der gesamten Leistung des AKWs, wird durch den Kühlturm abgeleitet.
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David Sohn
am 17.10.2019