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Faust aufs Auge

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Manchmal häufen sich die Katastrophen: Am höchsten jüdischen Feiertag versuchte ein Neonazi in Halle, ein Blutbad in einer Synagoge anzurichten, und ermordete zwei Menschen. Am selben Tag startete die Türkei einen Angriffskrieg auf die KurdInnen in Nordsyrien, der in der ersten Woche mehrere Dutzend Zivilisten das Leben kostete und Zehntausende in die Flucht trieb. "Der Krieg ist schneller, als ich schreiben kann", schildert die Schriftstellerin Ronya Othmann ihre Hilflosigkeit in einem Gastbeitrag auf "Spiegel Online". In Stuttgart verging seitdem kein Tag, an dem nicht gegen die Invasion protestiert wurde. Mal sind es hundert, am Wochenende waren es tausend DemonstrantInnen.

In der Türkei, dem Nato-Partner, mit dem die EU ausgekungelt hat, ihr die flüchtenden Syrer vom Hals zu halten, habe der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat den Medien verboten, Kritik an der Militäroperation im Norden Syriens zu üben, schreibt unsere Kolumnistin Filiz Koçali. Soziale Medien würden vom Innenministerium kontrolliert, gegen 500 Menschen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet. "Doch sich dazu nicht zu äußern, ist das eigentliche Verbrechen", schreibt sie in dieser Ausgabe.

Auch gegen den rechten und antisemitischen Terror gingen in den vergangenen Tagen verschiedene Bündnisse auf die Straße und warnten vor der Kontinuität einer Ideologie, die sich regelmäßig als mörderisch erweist. Währenddessen durfte Jörg Meuthen im Öffentlich-Rechtlichen behaupten, die AfD sei eine pro-jüdische Partei. Er müsste es eigentlich besser wissen: Meuthen war bis 2017 Vorsitzender der baden-württembergischen Landtagsfraktion. Mehr als die Hälfte der AfD-Abgeordneten hier stimmte erst kürzlich dafür, den Antisemiten Wolfgang Gedeon, der gerichtsfest als Holocaustleugner bezeichnet werden darf, wieder in ihre Fraktion aufzunehmen. Was nur knapp an der dafür nötigen Zwei-Drittel-Mehrheit scheiterte. Und wo wir schon beim Abstimmen sind: Die AfD war als einzige Fraktion im Landtag dagegen, als 2018 der neue Antisemitismus-Beauftragte Michael Blume als "hörbare Stimme im Kampf gegen Judenfeindlichkeit" eingesetzt wurde. Die anderen Fraktionen hätten "an der demokratischen Opposition vorbei einen Antrag von großer sittlicher Tragweite gestellt, um sich feierlich zu den Anständigen in Deutschland zu erklären", befand Fraktionschef Bernd Gögel. Bei alledem juckt's einem im Steinbrückschen Mittelfinger, eieiei.

Blume indes hat viel zu tun und gute Arbeit geleistet, schreibt Johanna Henkel-Waidhofer. Diese Woche wird sein Antisemitismusbericht im Landtag diskutiert. Ganz besonders angenommen hat er sich darin dem Journalismus: Regionale und lokale Medien, befindet er, müssten dringend gestärkt werden. Um Politik fassbar zu machen und Verschwörungstheorien vorzubeugen, um ein Auge darauf zu haben, was überall im Land vor Ort passiert.

Dem Stuttgarter Pressehaus kann man da nur empfehlen, dieses Kapitel ganz genau zu lesen. Die hohen Herren in Möhringen, schreibt Josef-Otto Freudenreich, legen nämlich schon wieder die Axt an die vierte Säule der Demokratie. Denn den "Top-Journalismus" aus dem Hause SWMH werden demnächst noch weniger Menschen machen. Etwa 40 bis 45 Stellen der 270-köpfigen StZN-Redaktion werden gestrichen und mit ihnen wohl die Außenredaktionen in Esslingen, Böblingen, Waiblingen und Göppingen. Der Titel "Verlässlich in die Selbstzerstörung" war für diese Ausgabe leider schon anderweitig vergeben. Aber er würde passen. Und zwar wie die Faust aufs Auge.


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1 Kommentar verfügbar

  • Meisel Peter W.
    am 16.10.2019
    Antworten
    Wen wundert, wenn wir solche "nationale Gesinnungen" im Widerspruch zu Artikel 4 Grundgesetz haben! Heim ins Reich?
    Siehe AfD Program Kapitel 7
    Programm für Deutschland
    Inhalt : 7 | Kultur, Sprache und Identität 45
    . 7.1  Deutsche Kultur, Sprache und Identität erhalten 47 

    . 7.2 …
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 7 Stunden
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