Innerparteilich gibt es eine intensive Auseinandersetzung darüber, ob man in einer Koalition mit der CDU überhaupt ein eigenes Profil entwickeln kann. Die faulen Kompromisse wie bei der Grundrente zeigen, dass dies schwer möglich ist. Da steckt die SPD in einem Dilemma: Als es im Bundestag eine Mehrheit links der Union gab, hat sie eine Große Koalition bevorzugt. Heute sind die Mehrheitsverhältnisse andere, eine rot-grün-rote Koalition ist nicht mehr möglich – und jetzt wird eine Ausstiegsdiskussion geführt.
Aber auch unter Rot-Grün wurde eine Sozialpolitik gemacht, die vom Bundesverfassungsgericht mehrfach korrigiert werden musste, weil sie sich nicht mit dem Grundgesetz vereinen ließ. Zuletzt wurden ja die Hartz-IV-Sanktionen entschärft. Was sagt das über den Zustand eines Staates aus, wenn sogar eine als tendenziell links geltende Regierung eine Sozialpolitik betreibt, die – höchstrichterlich bestätigt – die Menschenwürde verletzt?
Das deutet vor allem auf ein historisches Versagen der Sozialdemokratie hin. Die Partei hat sich in Deutschland ebenso wie in anderen Staaten dem neoliberalen Mainstream angepasst, auf den Markt gesetzt und die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen "Wirtschaftsstandorts" in den Mittelpunkt gerückt. Dadurch hat die SPD die Hälfte ihrer Wählerschaft und Hunderttausende von Mitgliedern verloren. Das als Favorit in die Stichwahl um den SPD-Vorsitz gegangene Duo Olaf Scholz und Klara Geywitz sträubt sich immer noch dagegen, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen und die eigenen Fehler aufzuarbeiten. Es ist die Tragik der SPD, mit der "Agenda"-Politik ihren Niedergang eingeleitet zu haben und wenig Bereitschaft zur Selbstkritik zu zeigen.
Aber das gilt ja sicher nicht für alle Sozialdemokraten.
Gewiss. Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zum Beispiel sind zwar keine radikalen Linken, aber zumindest glaubwürdig in dem Sinne, dass sie die Hinwendung der SPD zum Neoliberalismus kritisieren. Sie waren auch nicht aktiv an der "Agenda"-Politik beteiligt und vertreten Maßnahmen der Umverteilung von oben nach unten. Das bedeutet einen Hoffnungsschimmer für die deutsche Sozialdemokratie, obwohl die kommissarische Parteispitze, die Bundestagsfraktion, ihre Minister und der Parteiapparat zum größten Teil das Tandem Scholz/Geywitz unterstützen. Wahrscheinlich beschleunigt sich die Talfahrt der SPD noch, wenn sie keine grundlegende Kurskorrektur einleitet.
Sie würden den Genossinnen und Genossen also davon abraten, für den Vize-Kanzler zu stimmen?
Ja, weil Olaf Scholz wie kein zweiter SPD-Politiker für ein "Weiter so!" steht. Er ist das letzte bekannte Gesicht des "Agenda"-Kurses und hat als Generalsekretär der SPD unter Schröder den Niedergang seiner Partei mit zu verantworten. Bis heute distanziert er sich nicht von den Hartz-Gesetzen. Wer einen Kompromiss wie den zur Grundrente als großen Erfolg wertet, beweist auch keinen Realitätssinn. Eine soziale Kehrtwende gibt es nur mit einer neuen Parteiführung, nicht mit einer Bestätigung der alten Garde.
In Ihrem neuen Buch "Die zerrissene Republik" schreiben Sie, wenn man frage, "woher die zunehmende Ungleichheit kommt, dann kommt man bei einer fundierten Antwort schlechterdings nicht am Neoliberalismus vorbei". Wenn man sich mal anschaut, wer in den Gremien und Beiräten sitzt, die die Bundesregierung in Wirtschaftsfragen beraten, ist es schwer, jemanden zu finden, der nicht mit marktradikalen Organisationen wie dem Eucken-Institut, der INSM, der Hayek-Gesellschaft oder der Mont Pèlerin Society verbandelt ist. Ist unter solchen Bedingungen überhaupt eine wirkliche Trendwende möglich?
"Geld regiert die Welt", heißt es, aber das ist bloß eine Halbwahrheit. Wer sehr reich ist, ist zwar auch politisch einflussreich. Aber die Bürgerinnen und Bürger ohne viel Geld bilden angesichts der skandalösen Vermögenskonzentration die überwältigende Mehrheit. Diese kann in einer Demokratie politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse maßgeblich beeinflussen. Leider haben wir eine politische Kultur, die Heinrich Heine veranlasste, Deutschland als "Land des Gehorsams" zu bezeichnen. Hier fehlt die revolutionäre Tradition, wie sie in Frankreich existiert. Das macht sich negativ bemerkbar, darf aber nicht in Resignation münden. Ich schreibe Bücher, halte Vorträge und gebe Interviews mit dem Ziel, möglichst viele Menschen anzuregen, kritisch über die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse nachzudenken, sich aber auch zu engagieren und zu organisieren, um die Verhältnisse zu ändern. Entmutigung wäre hingegen kontraproduktiv.
Wie meinen Sie das?
Wenn ich die Situation dramatisiere und die Verhältnisse als so hoffnungslos beschreibe, dass sie gar nicht mehr zu verändern sind, erreiche ich das Gegenteil und stabilisiere, ohne es zu wollen, die herrschenden Zustände. Das ist auch eine Herausforderung für die Fridays-for-Future-Aktivisten, die auf einem schmalen Grat wandeln: Natürlich müssen sie die akute Gefahr einer ökologischen Katastrophe darstellen. Aber es muss klar sein, dass wir die Klimakatastrophe mittels einer großen Kraftanstrengung der Weltgemeinschaft wie der eigenen Regierung noch abwenden können, ebenso wie wir gegen die sozioökonomischen Ungleichheit vorgehen können. Und die Umweltbewegung zeigt ja auch, wie es möglich ist, durch massenhaften Protest ein Thema – in diesem Fall die Klimakrise – auf die Agenda der politisch Verantwortlichen zu setzen. Auch wenn die Große Koalition mit ihrem "Klimapaket" bis jetzt nur ein politisches Feigenblatt und ein Trostpflaster für die Bewegung präsentiert. Aber wenn der Druck stark und eine Bewegung über einen längeren Zeitraum aktiv ist, besteht die Möglichkeit, der geballten Macht von Konzernen, Lobbyverbänden und Finanzinvestoren etwas entgegenzusetzen.
Wo Sie die Fridays-for-Future-Bewegung ansprechen: Der Umweltschutz als solcher spielt in Ihrem Buch keine besonders große Rolle.
Naja, das von mir behandelte Thema ist die sozioökonomische und die daraus folgende politische Ungleichheit. Im letzten Kapitel, das von den Gegenstrategien handelt, frage ich allerdings explizit, was Priorität hat – die drohende Umweltkatastrophe oder die sozioökonomische Ungleichheit zu bekämpfen. Und ich gelange zu dem Ergebnis, dass die sozioökonomische Ungleichheit das Kardinalproblem unserer Gesellschaft und wie der Menschheit insgesamt darstellt, aus dem auch die Klimakrise erwächst. Wenn man sich ansieht, wie in kapitalistischen Gesellschaften produziert und wie der Reichtum von raffgierigen Privatiers angeeignet wird, erkennt man, dass Umwelt- und Naturzerstörung nicht zuletzt ein Mittel der Profitmaximierung ist. Solange sich das nicht ändert, weil die kapitalistische Wirtschaftsordnung besteht, solange wird sich das ökologische Problem, auch wenn es manchem Beobachter gegenwärtig als viel drängender erscheint, nicht lösen lassen.
Laut dem Internationalen Währungsfonds werden fossile Energien weltweit mit mehr als zehn Millionen Dollar pro Minute bezuschusst, weil die Umweltschäden, die sie anrichten, nicht den Verursachern in Rechnung gestellt werden, sondern eben von allen getragen werden müssen.
Dies ist ein Kernprinzip des Kapitalismus: dass die private Aneignung von Profiten auf Kosten der Allgemeinheit erfolgt. Wenn man es außer Kraft setzen will, muss man dieses Wirtschaftssystem überwinden und natürlich die Macht derer einschränken, die davon am meisten profitieren.
Die Situation gerade erscheint mir nicht allzu revolutionär. Wie könnte denn ein Transformationsprozess gelingen, ohne damit, sag ich mal, die komplette Welt ins Chaos zu stürzen?
2 Kommentare verfügbar
kajoge
am 03.12.2019