KONTEXT:Wochenzeitung
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Nicht einmal Brötchen

Nicht einmal Brötchen
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Neun Millionen Verkehrsbewegungen werden in der Region Stuttgart an einem normalen Wochentag gezählt. Viel zu viele Autos sind mit nur einem Menschen besetzt, eine Lösung wären Fahrgemeinschaften. Ernsthaft gefördert werden sie nicht.

"Ab dem 1. Januar 2018 verlangen wir 20 Prozent weniger motorisierter Verkehr am Neckartor", sagt Peter Erben. Mit neun VertreterInnen war die Bürgerinitiative gerade bei Gisela Erler. Zufriedenstellen konnte Winfried Kretschmanns Staatssekretärin für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft die AnwohnerInnen nicht. Vor allem, klagt Erben, weil sie "Wirtschafts- inzwischen in Gemeinwohlinteressen umdeutet". Dabei sei die Reduzierung von der Landesregierung in dem abgeschlossenen Vergleich zugesagt worden: "Jetzt muss geliefert werden."

Liefern könnten viele, wenn sie nur wollten, die notwendigen Mehrheiten hätten und den politischen Mut. Umweltstreifen zum Beispiel. Schön, wenn Winfried Kretschmann und die grüne Landtagspräsidentin Muhterem Aras Kaliforniens Gouverneur Jerry Brown bei seiner Europa-Werbetour für einen engagierten Klimaschutz in Stuttgart warmherzig begrüßen. Noch schöner wäre, wenn sie dazu beitrügen, dass dessen Praxis kopiert wird zwischen Main und Bodensee. Auf Interstates und Freeways durch Ballungsräume werden im Sonnenstaat sogenannte Carpool-Lanes für Busse und Privatwagen reserviert, die mit mindestens zwei Personen besetzt sind. Wer schummelt und erwischt wird, zahlt 200 Dollar. Auf diese Weise fahren Fahrgemeinschaften guten Gewissens am Stau vorbei (<link https: www.kontextwochenzeitung.de politik mein-rechter-rechter-platz-ist-leer-4286.html internal-link-new-window>Kontext berichtete).

Für die Fortschreibung des Luftreinhalteplans hat Baden-Württembergs Verkehrsministerium das Institut für Straßen- und Verkehrswesen an der Uni Stuttgart mit einer "Machbarkeitsstudie zur Untersuchung des Potenzials von Umweltstreifen" beauftragt. Das Thema ist pikant, denn Minister Winfried Hermann (Grüne) befürwortete schon vor zehn Jahren im Bundestag einen Modellversuch, weil PKW damals im statistischen Durchschnitt mit 1,1 Insassen belegt waren und allein der Faktor 1,5 den Schadstoffausstoß im Straßenverkehr um rund zehn Prozent verringern könnte. Selbst CDU- und SPD-Verkehrspolitiker hatte Hermann anno 2007 auf seiner Seite.

Passiert ist aber nichts. Vielmehr fällt sogar die aktuelle Untersuchung für die Landeshauptstadt negativ aus. Privilegierte Sonderfahrstreifen etwa für mehrfach besetzte oder Elektro-Fahrzeuge bewertet sie als "problematisch": Und zwar "hinsichtlich der verkehrlichen Wirkung, der rechtlichen und tatsächlichen Umsetzbarkeit, der Wirksamkeit in Bezug auf die Minderung von Schadstoffemissionen sowie hinsichtlich der Kontrollmöglichkeiten". Denn: "Eine solche Maßnahme wirkt sich maßgeblich auf die Routenwahl der Verkehrsteilnehmer aus und führt daher zu erheblichen Ausweichverkehren (...) Aus diesen Gründen wird sie nicht weiterverfolgt."

Schade eigentlich. Wer also keine Brote liefern will, könnte mit Brötchen beginnen. Etwa mit der Maßnahme 19 aus dem Luftreinhalteplan: "Die Landeshauptstadt Stuttgart beabsichtigt, ihr Gebührensystem zu überprüfen und beginnend zum 01.11.2017 die Parkgebühren im gesamten Stadtgebiet moderat zu erhöhen (Vorbehalt Gemeinderatsbeschluss)." Letzterer liegt vor. Die Erhöhung ist tatsächlich moderat, im Schwabenzentrum oder auf den Rotebühlplatz um abschreckende 40 Cent für die erste und auch nur einen Euro für vier Stunden. Auf dem Wasen oder beim Neckarstadion bleiben die Tarife sogar unverändert. Nur viele DauerparkerInnen, die klimafreundlich am Stadtrand vom Auto umsteigen in Bus oder Bahn, dürften sich die Augen reiben. Auf mehreren Park-and-Ride-Anlagen werden statt bisher 130 Euro – ohnehin zusätzlich zum Jahresticket – ab 1. Januar satte Beträge zwischen 200 und 280 Euro im Jahr fällig.

Hochglanz-Flyer ersetzen keine Verkehrspolitik

Der neue Höchstpreis gilt ausgerechnet auch für das Vorzeigeprojekt "Österfeld". Häufig seien es viele kleine Bausteine, deren Umsetzung eine Wirkung erzielen, sagte Verkehrsminister Hermann vor einem Jahr, als die Nutzungsbedingungen in dem Vaihinger Parkhaus direkt an der S-Bahn auf das Konzept "Parkschein = Fahrschein" umgestellt wurden. Die Befürworter der neuen Tarifstrukturen argumentierten nicht zuletzt mit dem Blick über den Tellerrand nach Paris, wo Parken für UmsteigerInnen deutlich teurer sei. Oder nach Wien.

Tatsächlich sind die meisten Park-and-Ride-Angebote in der österreichischen Hauptstadt ebenfalls kostenpflichtig. Die Jahreskarte fürs ganze öffentliche Nahverkersnetz kostet aber nur 365 Euro. Um die Attraktivität von Park-and-Ride-Angeboten zu steigern, sei eine "günstige und zugleich werbewirksame Preisgestaltung eine mögliche Option", heißt es in der neuen von der Stiftung Baden-Württemberg finanzierten Mobilitätsstudie. So könne der Individualverkehr gerade in Städten drastisch zurückgedrängt werden.

In der Theorie ist hierzulande an dieser Steigerung der Attraktivität kein Mangel. Auf Hochglanz-Flyern und Werbeclips wird für Baden-Württemberg als Pionierregion in Sachen nachhaltige Mobilität geworben. Es gibt Projekte, Pläne und Versprechungen. Gerade Stuttgart hat sich unter anderem dem Umstieg verschrieben von einem Verkehrsmittel (Auto) ins andere (Bahn), um "situative Entscheidungen" zu erleichtern. Aber selbst den NutzerInnen, die mehr oder weniger bereit sind, ohne Murren die höheren Park-and-Ride-Kosten zu tragen, kann ein entscheidender Mehrwert bisher nicht geboten werden.

Die Firma Bosch, Partner eines Projekts zur Echtzeit-Information über den Belegungsgrad von Parkplätzen, um eben jenen situativen Umstieg zu erleichtern, ist ausgestiegen. Rund 2500 Parkplatz-Belegungssensoren waren auf elf Anlagen entlang der Bahnlinien S 2 und S 3 im Rems-Murr-Kreis erprobt worden, um AutofahrerInnen Echtzeit-Infos über freie Plätze zu liefern. Der Versuch ist gelungen, die Idee trotzdem tot, weil zu teuer und zu fehleranfällig. Und Projekte wie in anderen europäischen Städten, per App unkompliziert Zufallsfahrgemeinschaften zu organisieren, sind noch nicht einmal angedacht.

Private Investoren bewirken steigende Parkplatzpreise

Eine Fahrgastbefragung im Auftrag des Verbands Region Stuttgart, immerhin auf Basis von 29 000 ausgefüllten Fragebögen, hat die Bedeutung einer Kombination aus Auto und Bahn gerade für BerufspendlerInnen belegt. Nur 13 Prozent der Teilnehmenden wollen zum Einkauf oder in die Freizeit in die Stadt, alle anderen an den Arbeitsplatz. Die Verkehrsexperten der "GVS Hannover" befassten sich auch mit den Strukturen in der Region: Von den 107 P+R-Standorten wird an 55 eine Parkgebühr verlangt.

Die gebührenpflichtigen Anlagen enthalten mit 10 600 Stellplätzen knapp zwei Drittel des Parkplatzangebots. Ihre Verteilung ist zufällig; einzig im Remstal sind fast ausschließlich kostenlose Stellplätze zu finden. Zugleich steht die öffentliche Hand unter beträchtlichem Druck: Viele Plätze oder Garagen müssten saniert werden, private Investoren wollen Geld verdienen. "Insgesamt bewirkt der Einstieg kommerzieller Parkhausbetreiber steigende Parkgebühren für die Nutzer und/oder einen steigenden Zuschussbedarf für die Gemeinden", schreiben die AutorInnen in der Auswertung.

Der Bund kündigt an, einzuspringen und die Kommunen zu entlasten. Aber wie der Luftreinhalteplan für die Landeshauptstadt auf Eis liegt, so steckt die Bundesregierung fest in der Umsetzung ihrer Zusagen vom Dieselgipfel. Vor dem Gipfel ist nach dem Gipfel. In Berlin, beim Treffen der Kanzlerin mit den VertreterInnen der Kommunen, wurde am vergangenen Dienstag (28.11.) dementsprechend vor allem wiedergekäut, was ohnehin bereits bekannt war: dass eine Milliarde Euro fließen soll, irgendwann in Bälde, für Projekte zur Entlastung der Ballungsräume.

Die Bürgerinitiative Neckartor wirft inzwischen auch den Grünen vor, seit sieben Jahren den "verkehrspolitischen Stillstand" zu verwalten. Die jetzt erklärte Weigerung, einen rechtswirksamen Vergleich zur Senkung der Werte zu erfüllen, sei "ein glatter Rechtsbruch und eine Verhöhnung der Judikative". In die rechtssprechende Gewalt sind ohnehin alle Hoffnungen gesetzt: Denn am 22.Februar wird das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig höchstrichterlich klären, ob und wie Fahrverbote zulässig sein könnten. Und dann? Muss auch für Stuttgart geliefert werden.


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7 Kommentare verfügbar

  • Andrea K.
    am 01.12.2017
    Antworten
    Mit so kleinteiligem Denken wird man doch nie etwas erreichen. Natürlich, man kann versuchen, die Autofahrer aus der Stadt zu vergrämen, indem man Parkgebühren erhöht - das ist doch kein Konzept und damit löst man doch kein Problem. Der Preis für den ÖPNV steigt ja auch jährlich mit, das hält sich…
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