Im Jahr 1991 gibt ein Alpengletscher die mumifizierte Leiche eines Steinzeitmenschen frei. Der Mann starb vor 5300 Jahren, genauer gesagt: Er wurde getötet. Seine linke Schulter weist eine Pfeilverletzung auf, sein Schädel ist eingeschlagen. "Der Mann aus dem Eis" geht nun zurück in die Zeit vor der Tat, der Film lässt den Titelhelden quasi wiederauferstehen und entwickelt aus den bekannten Fakten eine fiktive Geschichte, die wiederum am realen Tatort enden wird. Es beginnt in einem engen Tal am Wildbach und in einer Hütte, in der unser Kelab genannter Mann (Jürgen Vogel) mit seiner Frau schläft. Dann wird er herausgerufen, hilft in der Nachbarhütte bei der Geburt eines Kindes, hält es hoch und zeigt es dem Himmel, kann aber nicht verhindern, dass die Mutter verblutet. Bei der Beerdigung spricht er, Anführer und auch Schamane der kleinen Sippe, rituelle Worte. Bald danach geht er auf die Jagd, währenddessen wird die Ansiedlung überfallen. Grausame Szenen von Mord und Totschlag. Aus der Ferne sieht Kelab nun, dass dort, wo seine Siedlung war, Rauch aufsteigt. Er hetzt zurück, kann aber nur noch die Ermordeten bestatten. Allein das Baby hat überlebt.
Dies also ist die Geschichte von Ötzi, so wie der Regisseur Felix Randau sie erzählt. Nein, nicht die von Ötzi. Der übergriffige Spitzname mit seiner infantilisierenden i-Endung wird konsequent vermieden, er hat uns den inzwischen in Bozen aufbewahrten Mann ja auch nur vermeintlich näher gerückt, ihn tatsächlich aber klein gemacht. So als wäre er nicht ein um seine Existenz kämpfender Vorfahr, sondern bloß ein knuddlig-komisches Skurril-Relikt. Also ein bisschen so wie Buster Keaton als keulenschwingender Steinzeitmensch in "Three Ages" (1923), der seine Frau am Haarschopf in die Höhle schleift. Oder wie die unaufgeklärten Cavemen in der Sex-Klamotte "Als die Frauen noch Schwänze hatten" (1970), die von Senta Berger aus ihrer Höhle herausgelockt und einschlägig instruiert werden.
"Der Mann aus dem Eis" stellt sich in eine andere und ernstere Tradition, die wahrscheinlich auf der Schwäbischen Alb begann: In der Nähe von Urach – und auch dort handelnd – schrieb David Friedrich Weinland im Jahr 1878 seinen immer wieder und bis in die heutige Zeit neu aufgelegten Abenteuer- und Steinzeitroman "Rulaman", in den er die archäologischen Erkenntnisse seiner Zeit einbrachte. Im Kino hat dann Jean-Jacques Annaud in seinem vor 80 000 Jahren spielenden Film "Am Anfang war das Feuer" (1981) ebenfalls wissenschaftliche Erkenntnisse verarbeitet und von Neandertalern erzählt, die es mit Säbelzahntigern, Mammuts und auch mit dem Homo erectus zu tun bekommen. Und in Jacques Malaterres "AO" (2011), auch dies eine archäologisch grundierte Spekulation, trifft 30 000 Jahre vor unserer Zeit der letzte Neandertaler, nachdem seine Sippe ermordet wurde, auf eine Homo-sapiens-Frau.
Erst wissenschaftlich, dann spannend
Für die Protagonisten in Annauds "Am Anfang war das Feuer" hat damals Anthony Burgess eine Kunstsprache erfunden. Die Menschen in "Der Mann aus dem Eis" dagegen sprechen – ohne dass dies mit Untertiteln übersetzt würde! – eine Frühform des Rätischen. Wie wissenschaftlich seriös Felix Randau sein will, zeigt sich auch und vor allem in einigen Anfangssequenzen. Wenn eine Ziege gemolken, Holz gehackt, ein Kleid genäht oder auf der Flöte gespielt wird, erinnert das an jene Rekonstruktionen, mit denen etwa TV-Doku-Serien wie "Terra X" Historie nachstellen. Aber das Illustrative und leicht Spröde rückt bald in den Hintergrund, es folgt nun eine spannende Rache-Story, die in ihren besten Momenten sogar den Vergleich mit dem großen DiCaprio-Abenteuer <link https: www.kontextwochenzeitung.de kultur mann-in-der-wildnis-3368.html _blank internal-link-new-window>"The Revenant" sucht. Überhaupt ist das kleine Genre der Steinzeit-Filme mit dem Pionier-und-Trapper-Western verwandt. Beides sozusagen No-Road-Movies. Zähe Menschen in majestätisch ungebändigter Natur. Extrem physisches Kino. Doch so brutal es in dieser Welt auch zugehen mag: Es steckt in diesen Filmen auch die Sehnsucht von uns Heutigen, alles zurückzusetzen auf Anfang. Auf einen Naturzustand, in dem es noch keine Atomkraftwerke, keinen Donald Trump und keine FDP gab.
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