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Aufstand mit Anstand

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Das Armutsrisiko steigt in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, immer weiter an. Trotzdem sehen Zyniker im feinen Zwirn in der sozialen Gerechtigkeit kein Thema für den Wahlkampf.

Als die SPD Ende Januar Martin Schulz auf den Schild hob und der den Wahlkampf mit dem Schlagwort "Soziale Gerechtigkeit" begann, da bezeichnete Alexander Grau, Kolumnist des Polit-Magazins "Cicero", diese als "das Goldene Kalb des Wohlfahrtsstaates und seiner angeschlossenen Massendemokratie". Als "hohlste aller Phrasen der ohnehin schon unterkomplexen politischen Rhetorik". Schulz selbst, der als "charismafreier Behördenvertreter wie kein anderer mit der ungeliebten EU assoziiert wird", bekam auch noch eins mit. Ebenfalls der Politikbetrieb, der "religiös-ekstatisch verzückt" auf den Begriff reagiere, wo doch "eigentlich keiner so genau sagen kann, worin sie besteht", die soziale Gerechtigkeit.

Grau ist bei weitem nicht der einzige, der diese beschränkte Sicht verbreitet. Viele KommentatorInnen, ModeratorInnen und Talkshow-Gäste – nicht wenige von ihnen dürften sich über mindestens sechsstellige Jahreseinkommen freuen – wollen messerscharf erkannt haben, dass es "den Deutschen" einfach zu gut geht. "Missstände zu beschreiben, wo keine jetzt so richtig sind, ist auch schwierig", sagt der Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) und einer der fünf Wirtschaftsweisen, Michael Hüther, an die Adresse der SPD. Er sei sich "nicht sicher, inwiefern die Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen auf der Tagesordnung bleiben". Und die FAZ ist natürlich auch zur Stelle und wettert wider eine "blinde Umverteilung".

Plumpe Verschleierung grober Ungerechtigkeit

Das alles ist natürlich nichts anderes als ein plumpe Verschleierung von grober gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, von einer skandalösen Ungleichheit bei Einkommen, Besitz und Entfaltungsmöglichkeiten. Davon haben die einen im Übermaß und viel zu viele andere zu wenig oder gar nichts.

Mehr als ein Drittel der Beschäftigten in Ostdeutschland und fast jeder Fünfte im Westen arbeitet im Niedriglohnsektor für weniger als zehn Euro in der Stunde. Dass 40 Prozent aller ZeitarbeiterInnen irgendwann eingestellt werden, bejubeln neoliberale Besserverdienenden, obwohl es doch eigentlich empörend ist, wenn 60 Prozent diese Chance nicht bekommen. Mehr als zweieinhalb Millionen Kinder in Deutschland leben in Haushalten "mit geringen finanziellen Ressourcen". So steht es im neuen Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Wenn aber eine Kindheit durch "relative Armut geprägt ist, so hat dies deutliche Auswirkungen auf den Lebensweg der Kinder". Bemerkenswert vielen Leuten, die gern in Sonntagsreden von christlichen Werten und Menschenwürde fabulieren, scheint das völlig schnuppe zu sein. 

1995, drei Jahre vor Gerhard Schröders Einzug ins Kanzleramt, lag der Spitzensteuersatz noch bei 53 Prozent. Das oberste Prozent der Einkommensbezieher verfügte über neun Prozent des Gesamteinkommens. 2008, drei Jahre nach Schröders Abgang, waren daraus 13 Prozent geworden. Das Durchschnittseinkommen dieser Gruppe ist von umgerechnet 250 000 Euro vor 20 Jahren auf heute 430 000 gestiegen. Am anderen Ende der Skala ist das Zahlenwerk deutlich weniger eindrucksvoll. Der Hartz-IV-Regelsatz stieg zwischen 2005 und 2017 um 64 Euro, in den vergangenen zwei Jahren des Wirtschaftsbooms übrigens um ganze zehn Euro von 399 auf 409. In der Altersklasse zwischen 18 und 34 Jahren liegt die Armutsrisikoquote mit fast 20 Prozent um rund fünf Punkte höher als in der Gesamtbevölkerung.

Von wegen soziale Gerechtigkeit ist kein Wahlkampfthema

Da lohnt der Blick nach Großbritannien, wo Labour-Mann Jeremy Corbyn die Unterhaus-Wahl eben nicht zu dem Debakel für linkes Denken hat werden lassen, auf das konservative Kommentatoren sich schon händereibend gefreut hatten. Corbyns größte Stärke, schrieb de "Süddeutsche Zeitung" anerkennend, liege in seiner Klarheit. Er habe "unbeirrbar in seinem Ruf nach mehr sozialer Gerechtigkeit nicht nachgelassen". Wahlanalysen belegen, wie sehr das Thema weit über Betroffene hinauswirkt. "Offensichtlich hat er damit bei vielen Menschen gepunktet", wundert sich Hans-Hartwig Blomeier, der Leiter des Londoner Büros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Theresa May verlor gerade bei jenen, die sie mit ihrer unmenschlichen "Demenzsteuer" – der deutlich höheren Beteiligung älterer Menschen an Pflegekosten bis hin zum Zwangsverkauf der eigenen vier Wände – eigentlich entlasten wollte: bei den Jungen. Gerade die hätten, wie es in einer Analyse auf der Online-Seite der BBC heißt, "einer kalten und herzlosen Gesellschaft an der Urne eine Absage erteilt".

So gesehen liefert der Armut- und Reichtumsbericht 2017 der SPD und ihren bisher nur mäßig erfolgreichen Spindoktoren und Beratern eine Anleitung, den Slogan "Zeit für mehr Gerechtigkeit" mit Leben zu füllen. "Armut grenzt aus", steht in dem Bericht. Betroffene erzählen, was es im Alltag bedeutet, wenn gesellschaftliche Teilhabe nur eingeschränkt möglich ist und wie Stigmatisierung, Entmündigung und Ausgrenzung die Lebensführung beeinflussen. Zum Beispiel wenn sie nicht einmal "an Geburtstagsfeiern ihrer Freunde teilnehmen können, weil Geld für ein Geschenk fehlt". Wie schrieben Oxforder Blogger drei Tage vor der Wahl auf der Insel? "Wir sind gegen Almosen und Wohltätigkeit, wir sind für Umverteilung."

Besonders beliebt bei Betuchten, die gern mal in einem einzigen Mittagspausen-Shopping Waren im Gegenwert mehrerer Hartz-IV-Regelsätze über den Ladentisch wandern lassen, sind Vergleiche mit noch ärmeren Armen. Mit Ländern wieBulgarien und Rumänien oder gar auf anderen Kontinenten. Aber Teilhabe kann sich immer nur auf die Gesellschaft beziehen, in der sie stattfindet.

Deutschland war schon mal weiter

Hinsichtlich der Quote der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Kinder belegt Deutschland in einer EU-28-Negativtabelleden sechsten Platz. Die Republik war schon viel weiter. "Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir die schweren Probleme (...) nur lösen können, wenn es uns gelingt, nicht etwa nur einzelne Schichten zu begünstigen, sondern der Masse unseres Volkes (...) einen würdigen Lebensstandard zu sichern und diesen fortlaufend zu verbessern", sagte Ludwig Erhard im Sommer 1948. Er verlange deshalb "in letzter Konsequenz gerade von den verantwortlichen Unternehmern, die über den Produktions- und Verteilungsapparat der Volkswirtschaft verfügen, die größten Opfer, die höchste Einsicht und Verantwortung".

1971 beschloss ein SPD-Parteitag, der Spitzensteuersatz sei auf 60 Prozent und die Körperschaftsteuer auf 58 Prozent zu erhöhen. Damit hätte die BRD sogar Schweden übertroffen. Superminister (Wirtschaft und Finanzen) Karl Schiller verlangte von seinen Genossinnen und Genossen daraufhin, "an diesem Punkt bitte die Tassen im Schrank zu lassen". Zugleich forderte der Professor aber "soziale Symmetrie". SPD-Historiker sind sicher, dass er heute an Schulz' Seite stehen würde, um die Agenda 2010 zu revidieren. Zumal alle Hoffnung, alle Appelle und Mahnungen an Reiche, sich ihrer Verantwortung zu stellen, nicht fruchten.

Wie jeder Armutsbericht ist auch der fünfte seiner Art besonders aufschlussreich da, wo er sich mit der sozialen Ungerechtigkeit befasst. Die Datenbasis zum Reichtum in Deutschland ist noch immer dürftig, Vermögende sind nicht sehr auskunftsfreudig. In den Blick genommen haben die Wissenschaftler im Auftrag der Bundesregierung gerade die 0,1 Prozent der ganz besonders Reichen. Deren Durchschnittseinkommen stieg in den Jahren 1995 bis 2008 von 4,6 Millionen Euro auf rund 9,2 Millionen Euro. Vererbt oder verschenkt werden derzeit steuerpflichtig rund 100 Milliarden Euro pro Jahr, wobei die Sätze niedrig und die Freibeiträge mit 500 000 Euro für Gatten und 400 000 für Kinder von großzügiger Höhe sind.

Bitterer Realsatire gleichen die Selbsteinschätzung der Reichen und ihre Bereitschaft, zum Wohle des großen Ganzen ein paar Krümel mehr abzugeben von dem großen Kuchenstück, das sie (oft genug aufgrund von Vererbung) ihr Eigen nennen dürfen. So meinen 99 Prozent, sie zahlten jetzt schon genügend Steuern für Staat und Gesellschaft. Zwei Drittel würden es bevorzugen, zu spenden anstatt höhere Steuern zu zahlen. Tatsächlich aber machen sie von dieser Möglichkeit nur vorsichtigen Gebrauch: Hochvermögende spenden durchschnittlich gerade mal 5000 Euro pro Jahr.

Wäre der sozialdemokratische Kanzlerkandidat mit einem Wahlkampf für echte soziale Gerechtigkeit erfolgreich, es käme dem ganzen Land zu Gute. Denn wer sich abgehängt fühlt, verliert das Interesse an politischer Partizipation. Nach einer Allensbach-Umfrage meinen nur 14 Prozent der Deutschen, dass sie in einer gerechten Gesellschaft leben. Die UN-Agenda verlangt, "bis 2030 den Anteil der Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, die in Armut in all ihren Dimensionen nach der jeweiligen nationalen Definition leben, mindestens um die Hälfte zu senken". Dafür bleiben genau zwölf Jahre oder gut drei Legislaturperioden des Bundestags. Die Uhr läuft.


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8 Kommentare verfügbar

  • Helmut Josef Weber
    am 19.06.2017
    Antworten
    Hallo---- plumper kann ja ein Wahlkampf kaum geführt werden, als von Merkel und Schulz.
    Beide sind die Vorsitzenden der Parteien, die sofort die Gesetze für soziale Gerechtigkeit auch den Weg bringen könnten, und alle anderen im Bundestag sitzenden Parteien würden zustimmen.
    So etwas kann man auch…
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