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Mit angezogener Handbremse

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Im Stuttgarter Rathaus wird nach langer Zeit wieder ausführlich über das Tiefbahnhofprojekt Stuttgart 21 gesprochen. Doch die Sondersitzungen des Gemeinderats sollen nicht zum Faktencheck à la Geißler-Schlichtung im Herbst 2010 ausarten, bremst die grün dominierte Stadtspitze.

Nein, es soll auf keinen Fall eine Neuauflage geben. Im Stuttgarter Rathaus bemühen sich die Verantwortlichen den Ball flach zu halten, die Reizworte nicht in den Mund zu nehmen. Statt Schlichtung oder Faktencheck soll der Ausschuss "Stuttgart 21" des Gemeinderats am kommenden Mittwoch (26. Oktober 2016) nur eine "gewöhnliche" Sondersitzung abhalten, auch wenn Adjektiv und Substantiv nicht so recht zusammenpassen wollen. Knapp drei Wochen später, am 15. November, soll die Zusammenkunft fortgesetzt werden. Insgesamt sind an den zwei Terminen zehn Stunden für das Thema Tiefbahnhof reserviert.

"Es ist eine Ausschusssitzung, die das Ziel hat, die Stadträte über den aktuellen Projektstand zu informieren", betont Stadtsprecher Sven Matis den Unterschied zur Mammutveranstaltung im Herbst 2010. Damals stritten sich Bahnmanager und die damaligen CDU-Regierenden mit Vertretern aus dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 an neun Tagen 65 Stunden lang über Für und Wider des geplanten Tiefbahnhofs. Der Faktencheck endete bekanntlich mit einer – juristisch unverbindlichen – Weiterbauempfehlung durch Schlichter Heiner Geißler. Fast schon vergessen ist, dass Geißler im Folgejahr unter dem Titel "Frieden für Stuttgart" den Bau eines Kombibahnhofs vorschlug, der den teilweisen Erhalt des Kopfbahnhofs vorsah.

Immer wieder beschäftigte sich der Stuttgarter Gemeinderat seither mit dem Tiefbahnhof, ohne den Bau jemals grundsätzlich in Frage zu stellen. Auch wenn vieles, was die Projektkritiker im Herbst 2010 an Fiasko und Chaos prophezeiten, bereits Realität geworden ist, bevor überhaupt ein Drittel der rund 60 Kilometer langen Tunnelröhren unter der Landeshauptstadt vorgetrieben sind. Die bürgerliche Mehrheit aus CDU, SPD, Freien Wählern und Freidemokraten stand und steht felsenfest zum Milliardenprojekt. Die Grünen, einst eingefleischte Tiefbahnhofgegner, begleiten seit der Volksabstimmung Ende 2011 das Vorhaben nach parteiinterner Sprachregelung konstruktiv-kritisch. Einzig eine Fraktionsgemeinschaft aus SÖS, Linken und Piraten würde die Bagger lieber gestern als heute stoppen. Mit sieben Stimmen im sechzigköpfigen Gemeinderat bleibt das reines Wunschdenken.

Eiertanz im Rathaus: "gewöhnliche" Sondersitzung zu S 21

So hatten zwei Bürgerbegehren, mit denen Stuttgart-21-Gegner die Landeshauptstadt nach der Schlichtung zum Ausstieg aus dem Projekt zwingen wollten, schon politisch kaum Aussicht auf Erfolg. Im Juli 2015 verwarf der Gemeinderat beide als rechtlich unzulässig. Eine Sicht, die das Bundesverwaltungsgericht für das Begehren "Storno 21" vor wenigen Wochen höchstrichterlich bestätigte. Anders als die Initiatoren wertete es eine Mischfinanzierung des Bahnhofbaus unter Beteiligung der Stadt als zulässig. Noch in der Schwebe ist das vierte Begehren, das einen Leistungsrückbau als Ausstiegsgrund nennt. Eine Mehrheit im Rathaus sah keine Anhaltspunkte für Kapazitätsengpässe im neuen Bahnhof – der umstrittene Stresstest lässt grüßen – und damit für eine Kündigung der S21-Finanzierungsverträge. Nach dem Widerspruch der Initiatoren ist der Gemeinderat angehalten, im Rahmen der sogenannten Abhilfeprüfung nochmals über die Zulässigkeit des Begehrens abzustimmen.

Heute rangierten die Kosten zwischen 6,3 und 6,7 Milliarden Euro, wie ein vom Bahnvorstand bei der Ernst Basler und Partner AG sowie der KPMG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft bestelltes Gutachten zeigt. Auf dessen Basis sieht der Aufsichtsrat des Staatskonzerns das Kostenversprechen des Bahnvorstands vom März 2013 (6,5 Milliarden Euro) "im Wesentlichen" bestätigt, wie das Gremium nach der Sitzung vergangene Woche (13. Oktober 2016) verkündete. Auch wenn sich alle Gutachter einig sind, dass der Bahnhof nicht wie versprochen Ende 2021, sondern erst mit zweijähriger Verspätung in Betrieb gehen könnte.

S-21-Kritiker rechnen mit über einer Milliarde Euro Kosten für die Stadt

Seit der Kostenexplosion von 2013 schwebt das Damoklesschwert der Nachschubfinanzierung nicht nur über der Bahn. Aufgrund der so genannten Sprechklausel in den Finanzierungsverträgen könnte es auch die Stuttgarter Stadtkasse leeren. Offiziell liegt der Obolus der Landeshauptstadt bei 292 Millionen Euro. Kritiker dagegen rechnen indirekte Ausgaben über den Flughafen Stuttgart, an dem die Stadt beteiligt ist, sowie die Kosten für die Verlegung von Schulen und anderen Einrichtungen, den Zins- und Nutzungsverzicht für städtische Schienengrundstücke sowie Planungsleistungen hinzu. Sie kommen so auf über eine Milliarde Euro, die die Schwabenmetropole, Stand heute, für den Tiefbahnhof berappen muss.

Schlagzeilen machten die Abstimmungen damals auch aus anderem Grund. Anders als bislang üblich, durften die Vertrauensleute der Begehren den Stadträten ihre Argumente nicht persönlich vortragen. Ausschlaggebend für das Redeverbot war ausgerechnet die (ablehnende) Stimme von Oberbürgermeister Fritz Kuhn. Das grüne Stadtoberhaupt stellte sich damit gegen die eigene Fraktion, die die S-21-Kritiker zu Wort kommen lassen wollte. Inzwischen hat Kuhn seine Meinung offenbar geändert. Die erneute Abstimmung über das Bürgerbegehren wurde verschoben – bis der S-21-Ausschuss getagt hat. "OB Kuhn hat klargestellt, dass er in der Sondersitzung die Sicht der Verwaltung auf das Bahnprojekt darstellen möchte", betont der Stadtsprecher. Zu den Terminen würden selbstverständlich auch Vertreter der Bahn eingeladen und "Personen, die projektkritische Positionen vertreten". Der Ältestenrat des Gemeinderats soll am heutigen Mittwoch entscheiden, welche Themen zur Sprache kommen. Als gesetzt gelten Kosten, Kapazität und Brandschutz des neuen Bahnhofs.

Zu besprechen gäbe es reichlich. Sechs Jahre nach der Geißler'schen Schlichtung sind die Fragenzeichen zum Bahnhofsprojekt kaum kleiner geworden. Allen voran die Frage, wie viel Geld im Stuttgarter Untergrund letzten Endes versenkt wird. Bei Geißler schworen Bahnchef Rüdiger Grube und Technikvorstand Volker Kefer noch, dass es nicht mehr als 4,5 Milliarden Euro sein werden. Alles darüber hinaus sei für den Schienenkonzern unwirtschaftlich, betonten die Manager damals.

Und was, wenn der Bahnhof noch teurer kommt? Etwa bis zu zehn Milliarden Euro, wie der Bundesrechnungshof (BRH) in seinem Prüfbericht warnt, der wenige Tage vor der Bahn-Aufsichtsratssitzung an die Öffentlichkeit gelangte? Die gleiche Milliardensumme hatte auch das Münchner Gutachterbüro Vieregg & Rössler errechnet, als es Ende vergangenes Jahr für das S21-Aktionsbündnis die Kosten aktualisierte. Kann sich die Stadt dann noch rausreden, nicht mehr bezahlen zu wollen? Droht eine jahrelange Bauruine in der City, wenn der Bahn das Geld fürs Prestigeprojekt ausgeht?

Noch ist es nicht so weit. Zunächst muss Bahnchef Grube dem Aufsichtsrat in der nächsten Sitzung im Dezember erklären, warum die gutachterlichen Kostenprognosen um sage und schreibe mehr als drei Milliarden Euro auseinanderliegen. Auf die Antwort darf man gespannt sein. Dass sich der Bahnhofbau zu Stuttgart für den Konzern längst nicht mehr rechnet, und laut Aktienrecht sofort eingestellt werden müsste, dazu verlor das Presse-Communiqué des Aufsichtsrats kein Wort.

Fraglich, ob die Bahn gegenüber Kuhn alle Kosten für die Stadt offenlegt

Über das Kostengalama will OB Kuhn auch im S-21-Ausschuss informieren. Viel Neues dürften die Stadträte nicht erfahren. Die Bahn hält das KPMG-Gutachten unter Verschluss, der BRH-Bericht ist geheim und nur für wenige Ausschussmitglieder des Bundestags bestimmt. Zwar trifft sich der Lenkungskreis der S-21-Projektpartner am 7. November. Ob die Bahn bei dieser Gelegenheit Stuttgarts OB alle Kostenkalkulationen offenlegt, bleibt fraglich. Gleiches gilt für die umstrittene Kapazität der achtgleisigen Durchgangstation. Die Bahn verweist in dieser Frage gebetsmühlenhaft auf den Stresstest aus dem Jahr 2011. Dieser sei bestanden worden, auch wenn S-21-Kritiker wie Christoph Engelhardt dies ganz anders sehen. Der Physiker hat seine Einwände ausführlich auf dem Portal <link http: wikireal.org external-link-new-window>wikireal.org publiziert. Die Stuttgarter Stadtverwaltung und eine Gemeinderatsmehrheit orientierten sich jedoch an einem Gutachten des Karlsruher Juraprofessors Christian Kirchberg. Der Verwaltungsrechtler kann keinen Leistungsrückbau durch Stuttgart 21 erkennen.

Etwas mehr Einblick könnten die Mitglieder des S-21-Ausschusses zum Brandschutz in Tiefbahnhof und Tunnelstollen erwarten. Denn bei diesem heiklen Thema ist die Stadt Stuttgart über ihre Branddirektion von Amts wegen am Genehmigungsverfahren beteiligt. Das lief bislang kaum im Sinne der Bauherrin. Bereits mehrfach musste die Bahn ihr Entrauchungs- und Rettungskonzept für die Bahnhofshalle ändern. Derzeit bemüht sie sich im Rahmen der 15. Planänderung, zusätzliche Fluchttreppenhäuser an den Enden der 420 Meter langen Bahnsteige einbauen zu dürfen.

Der Antrag berührt auch die Entrauchung: Im Brandfall sollen riesige Ventilatoren am Südportal des Bahnhofs einen Luftstrom erzeugen, der die tödlichen Rauchgase über die Lichtaugen der Bahnhofshalle ins Freie drückt. "Das wird nie funktionieren. Stattdessen wird die kontaminierte Luft über die vielen Zugänge der Halle entweichen und dort die Flüchtenden einholen", sagt Hans Heydemann von den projektkritischen Ingenieuren 22. Zudem würden die markanten Kelchstützen den Luftstrom um die Lichtaugen herumleiten, wie Mitstreiter Peter Kurtenacker jüngst erstaunt feststellte: Die geschlossene Seite der Stützen ist Richtung Süden ausgerichtet, aus der die Gebläseluft komme, so der Ingenieur. Der gesamte Bahnhof werde so zur potenziellen Todesfalle, befürchten sie. Die Stuttgarter Berufsfeuerwehr sieht das offenbar anders.

Grund genug für Hannes Rockenbauch, bereits im Vorfeld der Sondersitzungen bei der Stadtverwaltung nachzubohren. "Wir wollen wissen, auf welcher Basis die Branddirektion ihre Stellungnahme zum geänderten Brandschutzkonzept verfasst hat", sagt der SÖS-Gemeinderat. Doch die Einsichtnahme in Akten und Simulationen verweigerte die Stadtverwaltung mit Hinweis auf das laufende Genehmigungsverfahren. "Wie sollen wir uns so ein Urteil zu einem derart komplexen Thema bilden?", kritisiert Rockenbauch. Anhand der geplanten Kurzreferate von Bahnvertretern und Projektkritikern sei dies nicht möglich. Zudem seien Diskussionen zwischen den Referenten nicht vorgesehen. "Das ist ein gravierender Rückschritt gegenüber der Geißler´schen Schlichtung", so Rockenbauch.

Auch Jochen Stopper, der für die Grünen im S-21-Ausschuss sitzt, glaubt nicht an große Erkenntnisgewinne: "Die Bahn wird keine neuen Argumente bringen." Die Sitzungen werden auch nichts an den Mehrheitsverhältnissen im Gemeinderat zu Stuttgart 21 ändern, erwarten beide Kommunalpolitiker. "Was muss eigentlich noch passieren, dass wir über Alternativen zu Stuttgart 21 nachdenken?", fragt sich Hannes Rockenbauch.


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6 Kommentare verfügbar

  • by-the-way
    am 24.10.2016
    Antworten
    @ Louisiana:

    Vollkommen richtig!
    Allerdings möchte ich vorschlagen, doch an der Veranstaltung "teilzunehmen" , nur um diese vor Ort, als genau das zu bezeichnen, was sie ist: eine Scheinveranstaltung.

    Also nicht argumentieren, das ist vollkommen sinnlos, weil die Betonköpfe im Gemeinderat…
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